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Realistischer ist das Leben selbst
Treffpunkt: Kritik Als Gesellschaftstier wurde man in den letzten Wochen von der Welt überaus intensiv überrollt. Am besten bekamen das all jene zu spüren, die nicht wie von den bekanntesten Medien suggeriert im zweiwöchigen Osterurlaub steckten, sondern die nichtsdestoweniger an vorderster Front mit beiden Beinen im Berufsleben steckten, oder die (noch schlimmer) mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs waren, und sich nicht auf die klimatisierte Idylle der faradayschen mobilen Behausung stützen konnten. Eben in jener himmlischen Einöde ist es wenigstens möglich, einer der unversehensten und doch schwerwiegendsten Belästigungen zu entkommen, dem mitunter beinahe schon kriminellen Umgang des hauseigenen Geruchsinstruments.
Dass es seit jeher Bemühungen der Unterhaltungsindustrie gibt, ein solch "lebensnahes" Gefühl auch bei den bewegten Bildern zu vermitteln, ist hinlänglich bekannt, und wurde ebenso schnell wieder verworfen, nachdem die ersten Duft-Muster ihrerzeit an die Zuschauernasen gerieten. Aber nun soll alles anders, das künstliche Erlebnis realistisiert werden – dabei zeigt der alltägliche Gebrauch des Cyrano-Organs, weswegen das nicht unbedingt notwendig, ja meistens sogar ein Verzicht willkommener ist.
Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, es gibt Werbespots, die den Zuschauer immer überfallen, ihn darauf aufmerksam machen, dass er selbst doch nur das Ergebnis seiner Körpereigenschaften ist, und ihm ein Produkt unter die Nase reiben, das seiner vermeintlich unnatürlichsten Eigenschaft ein Ende bereiten soll: Das Deo. Inzwischen ist es so designt, dass es 24 Stunden vor Geruch und Schweißbildung schützt, und gleichzeitig einen (für jeden Träger/Trägerin) faszinierenden, markanten und das andere Geschlecht unwahrscheinlich anlockenden Duft versprüht. Dass durch die schweißhemmende Wirkung aber der natürliche Abkühlungsprozess des Körpers unterdrückt wird, und der übermäßige Einsatz dieser Körperpflegeprodukte bei starker körperlicher Belastung also wenig empfehlenswert, bis schlichtweg ungesund ist, verschweigen die Hersteller jener Produkte gekonnt. Auch, dass der übermäßige Einsatz von Parfums egal bei welcher Alters- oder Trägergruppe genau den gegenteiligen Effekt des gewünschten Sympathiesteigerers bei den Vertretern der anderen Chromosomengruppe hat, wäre einen farbigen, gedruckten Hinweis auf der Verpackung durchaus wert.
Was man aber ebenso wenig unter den Tisch kehren sollte, ist die Tatsache, dass der Verzicht auf Antitranspirante die Akzeptanz der eigenen Persönlichkeit bei den Mitmenschen nicht unbedingt steigert. Wem es – wie dem Autor – zur "Feier" der Feiertage so ergangen ist, dass er/sie in Großraumkabinen der öffentlichen Verkehrsmittel unterwegs war, und in jedem Kubikmeter des Fortbewegungsmittels mit anderen nasalen Empfindungshämmern bombardiert wurde, der wird jener Aussage zweifelsohne zustimmen können. Wenn sich dann auch noch Mitbürgerinnen und Mitbürger den Reisenden vis-a-vis gegenüber gesellen und die Unterhaltung miteinander mit dem beherzten Bekenntnis "ist mir heiß, wie ich schwitze" beginnen, würde sich das eigene Riechorgan aus reinem Selbsterhaltungstrieb am liebsten von der nächsten Klippe stürzen.
Es ist mit Sicherheit nicht einfach, den richtigen Duft zu finden, ihn korrekt zu dosieren ebenfalls nicht (immerhin ist das Wort 'Rasierwasser' nicht in dem Sinne wörtlich zu verstehen, als dass man darin baden sollte), aber es ist um der mitmenschlichen Beziehungen willen doch ratsam, den eigenen Körpergeruch (gleichwohl in prähistorischen Zeiten für das Paarungsverhalten nicht weniger entscheidend) zwar nicht unisexuell aufreizend doch universell akzeptabel zu gestalten.

Hollywood hatte die Nase als Erweiterung des audio-visuellen Reizes bei der Filmvorführung vor geraumer Zeit schon zu nutzen versucht, war an der praktischen Umsetzung durch die verheerende Akzeptanz der malträtierten Zuriecherschaft aber kläglich gescheitert.
Eine neue Idee kommt dazu aus dem Land, das der Menschheit bereits Roboterhunde, adaptive Büstenhalter und die Strumpfhose zum Aufsprühen bescherte. Jenes asiatische Reich, das auch für eine nicht enden wollende Flut an Zeichentrickserien und grotesken Horror-Film-Ideen verantwortlich ist, möchte das "Smell-O-Vision" wieder einführen, beziehungsweise hat selbiges schon getan. Premiere auf der großen Leinwand feiert das runderneuerte System mit dem amerikanischen Hollywood-Film The New World, ein an den Kinokassen übersehenes Amerika-Entdecker-Epos, das sich von der Konzeption her eher wenig für ein solches Unterfangen eignen würde. Aber geplant sei auch nicht, jede Szene mit authentischen Gerüchen zu versehen, sondern bestimmten Abschnitten zum Film mit einem charakteristischen Odeur zu einem intensiveren Erlebnis zu verhelfen. Dabei sollte bei einer romantischen Sequenz ein wohlriechendes Parfum allerdings schon genügen.
Ob nun bei Erfolg, oder auch bei Misserfolg, eine weitere Vermarktung ist bereits angeworfen, und das Geruchs-Heimkino lässt sich in Japan für unter 700 Dollar bereits erwerben. In der Praxis soll es möglich sein, neue Geruchssequenzen für die Vorführung der duftbetonten Art über das Internet herunter zu laden, so der Hersteller NTT Communications Corp..
Es bleibt aber für alle nüchternen Filmzuschauer die Frage, inwieweit diese "Neuerung", die ja bereits in den 1960er Jahren zum ersten Mal an den Mann/die Frau gebracht werden sollte, tatsächlich sinnvoll ist. Nicht nur die potentiellen Gefahren einer Fehlprogrammierung bei der heruntergeladenen Geruchsabstimmung (beispielsweise Motorenöl bei Brokeback Mountain, konstanter Pferdemist-Geruch bei The Fast and The Furious oder Chanel No. 5 bei Der Soldat James Ryan), sondern auch die durchaus richtige Abmischung bei den meisten Episoden der Serie CSI könnten durchaus für Unbehagen bei den Zuschauern sorgen. Nicht zuletzt muss die Feinabstimmung der Intensität der Gerüche auch hier vom Zuschauer selbst erfolgen, damit nicht der Nachbar urplötzlich mit einem weitaus intensiveren Geruchserlebnis konfrontiert wird, als es ihm sein eigenes, jüngst erworbenes Deo in der Werbung versprochen hatte.
Dass der klassische Film, soll er denn nach wie vor so viele Menschen wie möglich aus den Wohnzimmern in die Kinos locken, in Zukunft neuartige Wege beschreiten muss, ist ja unbestritten, aber wie man beispielsweise bei Die Chroniken von Narnia und auch King Kong gesehen hat, sind es doch überwiegend die Geschichten, die die Zuschauer motivieren, und nicht neue Erlebnisse sämtlicher empfindungsfähiger Sinnesorgane – wie wäre es denn sonst mit einer (selbstverständlich freiwilligen) Verkabelung des Publikums bei TV-Serien wie 24 oder den meisten Science-Fiction-Serien, um den Zuschauer die 'elektrisierende Wirkung' mancher Szenen am eigenen Leib spüren zu lassen? Auch in mehreren Winkeln platzierte Luftpistolen mit Gummigeschossen um die Zuschauerbank wären empfehlenswert, um Schusswechsel in Western authentischer zu gestalten – auch Arnold Schwarzenegger-Filme könnten dann gleich mit Verbandskästen gebundelt werden ("Synergie" lässt grüßen).

Die Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt, das beweist das Kino gerade in der heutigen Zeit durch eine immens schnell voran schreitende Technik im Bereich der Spezialeffekte, die einen Grad an Realismus angenommen haben, den das wirkliche Leben meist nicht bieten kann. Und wenn man sich die überwältigenden Eindrücke des Alltags genauer ansieht, kommt man früher oder später an den Punkt, da die Realität so spürbar geworden ist, dass es beinahe unerträglich scheint. Stellt sich also die Frage: Weswegen die vermeintliche Flucht vor dem Alltag im Film durch ein so realistisches Erlebnis eintauschen, dass einem im Zweifel genau jener Geruchsmischmasch am Abend im heimischen Wohnzimmer erneut begegnet, dem man zuvor mit etwas Glück nach einem Dutzend Haltestellen noch entkommen konnte?
Das wirkliche Leben ist doch genau dann am besten, wenn man es von der anderen Seite des Fensters aus beobachten kann – und wenn man zumindest vorübergehend auch kein Teil mehr von ihm ist, oder nicht?
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