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Der Blog stellt eine Art Internettagebuch dar, in dem die Mitglieder der Redaktion ihre Gedanken mit den Lesern teilen. Er bietet Einblicke in den Alltag und in die Themen, die die jeweiligen Autoren am meisten beschäftigen.
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Ein Teil des Ganzen
Treffpunkt: Kritik Es ist eine Szene, die viele Großstädter kennen: Man geht durch die Stadt, steht in der U-/S-Bahn oder Tram, und sieht dort einen Menschen egal welcher Herkunft, Hautfarbe oder Alters, der auf der Straße zu leben scheint und mit sich selbst spricht. Bisweilen in einer verständlichen Sprache, manchmal eher so, dass man das Gesagte auf Grund der Tonlage deuten kann. Woher kommt dieses Bedürfnis, sich mitzuteilen, zu sprechen, und sei es zu Personen, die gar nicht da sind? Manchmal kann man das bei Paaren beobachten, die jahrzehntelang zusammengelebt haben, bei denen jedoch ein Teil verstorben ist. Ein Haustier wird mitunter ebenso zur Ansprechperson wie eine Pflanze oder ein bestimmter Ort.
Doch wie kommt das? Ist es, weil selbst dem Einsiedler die Gesellschaft anderer fehlt? Weil wir das Sprechen nicht verlernen wollen? Oder weil wir aussprechen müssen, was uns beschäftigt, was uns im Kopf herumgeistert, weil wir sonst Gefahr laufen, davon im Innern erdrückt zu werden?
Ein Leben auf der Strasse. Bild von: Maggie Smith / FreeDigitalPhotos.netEs gibt Vieles zu beobachten, wenn man aufmerksam durch den Alltag geht, auch wenn wir uns dafür nicht oft genug die Zeit nehmen. Wer spricht schon die junge Frau an, die auf einer Bank in der Fußgängerzone sitzt und offensichtlich Tränen in den Augen hat? Wir werden durch Plakate und schockierende Berichte darauf trainiert, bei Gewalt hinzusehen, einzuschreiten oder zumindest zu helfen, wenn wir angesprochen werden. Aber wie oft sprechen wir selbst an?

Dafür darf man nicht mit Scheuklappen durch die Welt gehen, sondern muss sich ansehen, was um einen herum passiert. In Restaurants, im Café oder der Einkaufsmeile – gerade vor den großen Feiertagen und zwischen den Jahren. Ein Ort, wo es sich unerwartet ebenso lohnt, die Menschen zu beobachten, ist beispielsweise das Kino. In einer Zeit, in der Onlinevideotheken und andere Angebote im Internet die Menschen dazu verleiten, für das Ansehen von Filmen gar nicht mehr aus dem Haus zu gehen, sollte man sich diejenigen anschauen, die immer noch den Weg in die Lichtspielhäuser finden. Dafür eigenen sich große Multiplexe ebenso, wie die kleinen Arthaus-Filmtheater. Letztere meist etwas besser, weil in ihnen verschiedenste Stilrichtungen gezeigt werden. In den Metropolen findet sich mit Glück beides, und man wundert sich durchaus, wie unterschiedlich und doch bisweilen ähnlich das Publikum ist. Auch lässt sich so gut unterscheiden, welche Zuschauer von welcher Art Film angesprochen werden.
Sieht man dabei, wie oft (junge) Frauen in Horror- oder Gruselfilmen neben ihren männlichen Begleitern sitzen, nur um bei den spannenden Szenen dann mit Reden oder gar Lachen anzufangen, kommt einem der Verdacht, dass sie nur der Männer wegen mitgekommen sind. Ähnlich ergeht es, wenn man bei eher auf ein weibliches Publikum zugeschnitten Projekten die Männer neben den Frauen sitzen sieht – wer hier ausschlaggebend für die Filmauswahl war, liegt ebenso nahe.
Doch was bewegt wohl den etwas stämmigen Mann eine Reihe weiter vorn, ein wenig auf der linken Seite, mit dem Ring im linken Ohrläppchen, sich ein ausländisches Drama anzusehen? Die enthaltenen sinnlichen Szenen legen die Vermutung nahe, dass es sich bei ihm um einen heimlichen Romantiker handelt. Allerdings fiele einem das bei der schüchtern anmutenden, blonden jungen Frau direkt vor einem deutlich leichter zu glauben.
Kino: Ein Ort der Begegnungen. Bild von: Wikimedia CommonsWonach entscheiden Menschen, die allein ins Kino gehen, wo sie sich hinsetzen? Insbesondere bei freier Platzwahl? Achten sie auf den Blick zur Leinwand, oder darauf, wer in ihrer Umgebung sitzt? Suchen sie die Nähe zu Seelenverwandten, die dasselbe interessiert, wie sie selbst? Was sagt die Körpersprache über jemand fremdes, der sich zu einem in die Nähe hinsetzt? Welche Menschen kommen als Paar, welche allein? Das Kopfkino beginnt so schon lange, bevor der Leinwandvorhang gelüftet wird.

Was sagt es uns, Menschen im Restaurant am Tisch gegenübersitzen zu sehen, die von der Bestellung bis das Essen serviert wird jeweils am Smartphone tippen, anstatt miteinander zu reden? Wieso finden sich an öffentlichen Orten immer wieder Menschen, die so lautstark telefonieren, dass alle um sie herum den Inhalt des Gesprächs mithören müssen? Liegt es daran, dass sie mit dem, was gesagt wird, prahlen wollen, oder weil sie nach Aufmerksamkeit suchen, die sie woanders nicht bekommen?
Irgendwo wurde einmal gesagt, dass insbesondere in Deutschland der Pendelverkehr für Menschen, die aus dem Ausland zugezogen sind, überraschend sei, weil die Menschen hierzulande nicht miteinander reden würden. Wer aufmerksam reist wird feststellen, dass viele Fahrgäste nicht nur schweigend nebeneinander sitzen, sondern die meisten sogar grimmig vor sich hin brodeln. Wie angenehm kann eine Fahrt denn sein, wenn man mit so einer Einstellung einsteigt? Vom Tagesverlauf einmal ganz abgesehen.

Wer sich die Zeit nimmt, andere Menschen zu beobachten, läuft mitunter auch Gefahr, denselben Maßstab nie auf sich selbst anzuwenden. Dabei sollte das bewusste Hinsehen bei unseren Mitmenschen nicht dazu führen, dass wir über sie urteilen. Es wäre das Schlimmste, was dabei herauskommen könnte.
Wer ertappt sich nicht selbst dabei, wie er/sie die Augen verrollt, wenn jemand beispielsweise den Bus betritt, der sich ganz anders kleidet, als wir das tun würden? Oder dessen Körperumfang fülliger ist, als uns eine Norm vorgibt? Was würde uns das Recht geben, diese Person auch nur mit einem abfälligen Gedanken zu bestrafen, da wir sie doch gar nicht kennen? Wir wissen nicht, was sie motiviert hat, sich so anzuziehen, oder weswegen sie der Mensch ist, der sie ist. Immerhin sind wir alle die Summe dessen, was uns im Laufe des Lebens widerfahren ist. Wir formen uns weniger selbst, als dass wir geformt werden.
Insofern bleibt es eine feine Balance, die man wahren sollte, zwischen Hinsehen und dabei versuchen, zu verstehen, und etwas anzunehmen, das man nicht wissen kann. Es ist ein Drahtseilakt, den Menschen in beratenden Berufen oder gar im sozialen Bereich tagtäglich angehen, der uns letztlich aber alle betrifft.

Ein Morgen gibt es nur, wenn alle daran mitwirken. Bild von: NASAMan möchte verzweifeln angesichts der Nachrichten und Jahresrückblicke, die uns in Kürze bevorstehen, bestehen sie ja meist aus einer Ansammlung von schlimmen Erinnerungen und traurigen Momenten. Dabei sollten sie uns weder deprimieren noch entmutigen, sondern Ansporn für uns sein, hinzuschauen und zu lernen. Nur wer aufmerksam bleibt, kann auch erkennen.
Wir  sollten uns viel öfter Gedanken darüber machen, was in den Menschen um uns herum vorgeht. Nicht, weil wir nicht genug mit uns selbst beschäftigt wären, sondern weil wir zu oft vergessen, dass – wären wir allein auf dem Planeten – wir niemanden hätten, der sich unsere Gedanken und Geschichten anhören würde. Wir müssten mit uns selbst reden, wie wir es jetzt immer wieder bei anderen beobachten.
Es stimmt, dass ein jeder sein eigenes Leben lebt. Aber wir erleben es alle als Teil einer Gemeinschaft, ohne die wir nicht sein könnten, und zu der wir alle beitragen können. Verpflichtet das eine nicht auch zum anderen?
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