Richard Martin Stern: "Der Turm" [1973]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 26. November 2018
Turm-Cover
Urheberrecht des Covers liegt bei
S. FISCHER Verlag GmbH
978-3-5963-2220-6 (Taschenbuch); Preis € (D) 12,99
.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung.
Autor: Richard Martin Stern

Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: The Tower
Originalsprache:
Englisch
Gelesen in:
Englisch
Ausgabe:
E-Book
Länge:
ca. 300 Seiten
Erstveröffentlichungsland:
USA
Erstveröffentlichungsjahr:
1973
Erstveröffentlichung in Deutschland:
1974
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe):
978-1-891053-96-2


Kurzinhalt:

An einem Freitag soll das neue höchste Gebäude der Welt in New York eingeweiht werden. Der „World Tower“ übertrumpft dabei sogar das direkt daneben gelegene World Trade Center. Als früh am Morgen ein Elektriker den von zwei Polizisten gesicherten Eingang passiert, denken diese sich nichts dabei. Es ist nur ein Teil einer Katastrophe, die sich anbahnt. Ein weiterer sind von Architekt Nat Wilson vermeintlich autorisierte Änderungen der Konstruktion und der verwendeten elektrischen Systeme, die in Kopie dem für das Bauprojekt verantwortlichen Will Giddings anonym zugespielt werden. Doch Wilson hat die Änderungen nicht veranlasst und während sie darum bemüht sind, die möglichen Auswirkungen abzuschätzen, beginnen im „Tower Room“ in der 125. Etage die Eröffnungsfeierlichkeiten. Als in den unteren Stockwerken ein Feuer ausbricht, versucht ein Großaufgebot an Feuerwehr, das Schlimmste zu verhindern. Unter den mehr als 100 Personen, die oben eingeschlossen sind, bemüht sich Gouverneur Bent Armitage, eine Panik zu verhindern. Unterdessen arbeitet Wilson mit den Einsatzkräften fieberhaft an verschiedenen Rettungsplänen – doch die Zeit wird knapp …


Kritik:
Der Turm von Autor Richard Martin Stern, auch bekannt unter dem Titel Flammendes Inferno, diente neben Inferno [1974] von Thomas N. Scortia und Frank M. Robinson als Vorlage für das mehrfach preisgekrönte Katastrophendrama mit Starbesetzung, Flammendes Inferno [1974]. Die Struktur des Romans gleicht dabei dem bekannten Schema jener Geschichten und lässt eben deshalb in manchen Bereichen merkliche Lücken entstehen. Allerdings werden diese durch das immens hohe Erzähltempo wieder wettgemacht, das auch dann anhält, wenn der Ausgang der Katastrophe bereits feststeht.

Die Erzählung folgt den Ereignissen des Tages, an dem das höchste Gebäude der Welt in Lower Manhattan in New York eingeweiht werden soll. Das neue „World Tower Building“ ist mit 125 Stockwerken nochmals 15 Etagen höher als die Türme des direkt daneben gelegenen World Trade Centers. Auch wenn viele der Stockwerke noch nicht ganz fertiggestellt, geschweige denn vermietet sind, soll der Eröffnungstermin eingehalten werden, zu dem sich allerlei Prominenz und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und sogar Kirche angekündigt haben. Am Morgen der Feierlichkeiten erhält Will Giddings, seines Zeichens Vertreter der Eigentümer des Hochhauses, einen anonymen Brief, dessen Inhalt darauf schließen lässt, dass Änderungen an der Konstruktion und den verwendeten Materialien in Auftrag gegeben wurden. Diese Änderungen könnten sich auf die Stabilität und Sicherheit des Gebäudes auswirken. Architekt Nat Wilson, der die Änderungen angeblich unterzeichnet hat, versichert allerdings, nichts dergleichen veranlasst zu haben. Es kommt, wie es kommen muss: Inmitten der Eröffnung erschüttert eine Explosion das Gebäude. Das sich im Gebäude ausbreitende Feuer schließt dabei nicht nur die ca. 100 Gäste im obersten Stockwerk ein, es verhindert zunehmend alle möglichen Rettungsversuche, die Wilson am Boden koordiniert.

Es ist auf den ersten Blick durchaus überraschend, wie viel Zeit vergeht, ehe Autor Richard Martin Stern die Bombe buchstäblich platzen lässt. Im ersten Drittel widmet er sich den einzelnen Figuren und baut mehrere Handlungsfäden um Nat Wilson, seine Frau Zib und ihre Affäre mit dem ebenfalls am Bauprojekt beteiligten Paul Simmons auf, dessen eigene Ehefrau Patty Tochter des verantwortlichen Bauleiters Bertrand McGraw ist. Dies führt im weiteren Verlauf erwartungsgemäß dazu, die Hintergründe der unaufhaltsamen Katastrophe aufzuklären, bleibt aber mitunter – wie im Falle von Nats oberflächlicher Gemahlin – auf eine allgemeine Gesellschaftskritik beschränkt. Dass manche von Sterns offen angesprochenen Kritikpunkten auch beinahe ein halbes Jahrhundert später noch Bestand haben und gerade angesichts einer Welt, in der immer alles größer und spektakulärer sein muss, den Nagel auf den Kopf treffen, zeichnet die überraschende Zeitlosigkeit des Dramas aus.

Doch so gelungen diese Elemente und auch die Beschreibungen dessen sind, was das sich unaufhaltsam den Weg in den im 125. Stock gelegenen „Tower Room“ fressende Feuer mit der Konstruktion selbst anrichtet, es gibt merklich Schatten hinsichtlich der Art der Erzählung. So vermittelt Der Turm von Beginn an den Eindruck, der Roman wäre im Nachgang der Katastrophe zusammengestellt worden. Doch dieses Stilmittel verliert sich nach einer gewissen Zeit, taucht dann gelegentlich kurz wieder auf, als wäre das Buch nur eine Ansammlung von Augenzeugenberichten, ohne dass dies vor allem am Ende mit einer abschließenden Einschätzung (oder dem Bericht eines Untersuchungsausschusses oder dergleichen) untermauert würde. Immerhin beginnt der Roman auch damit. Ebenso wollen die Rückblicke, die immer wieder eingestreut sind, nicht ganz zu der eingangs angedeuteten Erzählweise passen. Gleichermaßen bedauerlich ist, dass der Epilog ausgesprochen kurz ausfällt und weder Aussagen zum weiteren Schicksal des Gebäudes, noch der Personen des Romans trifft.

Sprachlich gibt sich Der Turm hingegen erfreulich zeitlos, sieht man davon ab, dass Autor Richard Martin Stern einige Formulierungen immer wieder verwendet. Zugegeben, manche Worte sind heutzutage kaum mehr gebräuchlich und auch einige Dialoge wirken etwas hölzern, alles in allem gestaltet sich das Lesevergnügen jedoch ausgesprochen flüssig. Das verdankt der Roman zum Teil auch den lebendigen Beschreibungen dessen, was im Gebäude selbst vor sich geht, in dem das Feuer wie in einem Hochofen gebündelt wird. Mit Beschreibungen zur grundsätzlichen Statik oder Hintergrundinformationen hält sich die Erzählung allerdings weitgehend zurück. Dafür verblüffen einige Ideen bis heute, während die Spannungen, die sich innerhalb der Gruppe der eingeschlossenen Eröffnungsgäste zunehmend vergrößern, durchweg spürbar sind.
All das zusammengenommen ergibt einen packenden Katastrophenthriller, bei dem die Seiten förmlich dahinfliegen. Mag sein, dass der Roman nicht mehr in allen Belangen zeitgemäß ist, doch das ändert nichts daran, dass seine Formel, die inzwischen so oft kopiert wurde, bis heute funktioniert.


Fazit:
Stellt der junge Architekt Nat Wilson fest, „Wir haben mehr Wissen als Urteilsvermögen“, ist das eine Aussage, die heute gleichermaßen Bestand hat. Es gibt einige bemerkenswerte Dialogzeilen im Roman, die heutzutage dieselbe Wirkung besitzen wie vor 45 Jahren. Auch an der Gesellschaft selbst, die darum bemüht ist, immer noch komplexere Denkmäler von sich selbst für die Nachwelt zu schaffen, hat sich nichts geändert. Autor Richard Martin Stern gelingt ein überraschend zeitloses Thriller-Drama, dessen Dreh- und Angelpunkt, der „World Tower“, stellvertretend für alle andere Wolkenkrater steht. Die gesellschaftskritischen Untertöne sind nicht zu übersehen, was sie jedoch nicht weniger richtig macht. So kurzweilig und spannend Der Turm dabei für mich war, es ist nicht zu überlesen, dass viele Figuren am Ende kaum beleuchtet werden, man über ihr weiterführendes Schicksal nichts erfährt. Auch die beiden Lovestorys, einmal außerhalb und einmal im „Tower Room“, sind eine zu viel. Gleichzeitig spart der Autor jedoch beim Epilog und auch das Finale ist viel zu schnell vorbei. Wer sich damit arrangiert, findet einen Katastrophenroman, der trotz der Schwächen nichts von seiner Faszination eingebüßt hat. Der Ausgang mag nicht überraschen, was auch daran liegt, dass sich die grobe Struktur dieser Erzählungen in den vergangenen Jahrzehnten kaum geändert hat. Das ist jedoch kein Kritikpunkt – immerhin sind Werke wie dieses maßgeblich dafür verantwortlich, dass es das bekannte Katastrophenschema überhaupt gibt.