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Alles auf Anfang - Nichts bleibt, wie es war | von Jens am 15.07.2006, um 08:00 Uhr. |
Für möglich gehalten hatte es im Vorfeld ja niemand so wirklich, und wenn man genauer darüber nachdenkt wäre es ja auch vollkommen abwegig gewesen, darauf zu wetten. Es war eine Wunschvorstellung, ein im Unterbewusstsein artikuliertes Streben nach dem Unerreichbaren, das Herbeiwünschen des Schlaraffenlandes. Aber nun, knapp eine Woche später, ist alles vorbei, und wer immer darauf gehofft hatte, dass die Fußball-WM 2006 ewig dauern würde, wurde eines besseren belehrt. Die Würfel sind gefallen, die letzten Bälle für vier Jahre gerollt und obgleich sich das niemand so genau eingestehen möchte, und während die letzten (menschlichen Fan-) Überreste von den Straßen gekratzt werden, hat der Alltag die Nation, ja alle Nationen, wie der fest im Griff. So kommt man früher oder später um die alles entscheidende Frage nicht umhin: Wie soll man das noch steigern? |
Sie hat die Nation geprägt, sie geschürt, dem Ausland endlich begreiflich gemacht, dass Deutschland nicht gleich das Oktoberfest ist, sondern auch gleich einem vierwöchigen Fußball-Besäufnis. Deutschland ist das Partyland mit sonnigem Wetter, sommerlichen Temperaturen und einer halb-kahlköpfigen Figur mit blau getönten Brillengläsern und bayrischem Akzent, die in jedem Fußball-Stadion zu finden ist. Aber die heile Fußball-Welt steht vor dem Aus, was einst war, ist vergangen, die Zukunft hält Anderes parat und welch kurzfristigen, innerländischen Einflüsse das Getrete rund ums Leder wohl hatte, sie müssen weichen, müssen sich dorthin verstecken, wo sie die letzten 52 Jahre ausgeharrt hatten und unentdeckt blieben.
Jetzt also müssen die Fahnen (die tatsächlichen, nicht die täglich alkoholisiert entstandenen) wieder im Keller verschwinden, die Nationalhymne darf nur hinter vorgehaltener Hand gesummt werden und selbst Sat.1 müsste den Ball aus dem Logo verbannen, wäre der da nicht schon vorher drin gewesen – dabei tat die WM dem Deutschen Volke so gut, wenn es um die Steigerung, ja die Erschaffung selbst, des Nationalstolzes ging. Nach Jahrzehnten durfte man wieder stolz auf die eigenen Herkunft sein, auf die eigene Herkunft sein, durfte sich mit Spielern des Deutschen Nationalteams über Erfolge freuen. So zum Beispiel mit Oliver Neuville (geboren in der Schweiz, aufgewachsen in Italien), Miroslav Klose oder Lukas Podolski (beide in Polen geboren), und es gibt kein erhebenderes Gefühl, als wenn einem auf der Straße ein Fußball-Fan entgegen kommt, der mit Trillerpfeife im Mund eine Deutsche Fahne schwenkt, die beinahe so groß ist, wie er. Dass er in der anderen Hand nicht seine erste Bierflasche hält, ist ja durchaus verständlich, nach einem halben Jahrhundert Patriotismus-Unterdrückung muss man sich erst Mut antrinken, um zum Vaterland zu stehen – und selbst wenn nicht, alle Sportarten, sämtliche gesellschaftlichen Zusammenkünfte und das Leben überhaupt sind mit Bier im Blut viel besser zu ertragen.
Davon wissen auch all diejenigen Prominenten ein Lied zu singen, die sich nach den Spielen in selbsternannter Weisheit über die spielerischen (Un)Zulänglichkeiten ausließen und dies in gepflegter Biergartenrunde zu tun gedachten. Was passiert denn nun mit alle denjenigen, die sich wie Zecken vom Blut während der vier Wochen von der Fußball-WM ernährten? Wohin verschwinden nun die Semi-Prominenten und die Spezialisten aus den Expertengruppen?
Sie werden wohl wie alle anderen Mitbürgerinnen und Mitbürger damit leben müssen, dass das Leben nach der WM weitergeht, dass die Fan-Trikots wieder die alten Preise angetackert bekommen, unabhängig davon, ob eine Mannschaft nun gewonnen oder verloren hat, und dass sich die Spieler waschen/rasieren/frisieren müssen, ob sie nun Weltmeister wurden, oder nicht.
Auch die Radio-Sender müssen nun tatsächlich wieder andere Musik einkaufen, anstatt dieselben Meister-Melodien immer und immer wieder zu spielen. Von dem kaum vorstellbaren Platz in den Programmtabellen der Fernsehsender einmal ganz abgesehen. ZDF und ARD haben sich bereits aufgewärmt und suchen fiebrig nach Volksmusikhelden mit Puls, die man notfalls am Tropf hängend vor die Kamera zerren kann, um den Quotenschwund in einem erdenklichen Ausmaß zu begrenzen.
Als Nicht-Fußball-Fan bleibt einem trotz der vier kaum erträglichen Wochen voll Gehupe, Geplärr und Geschrei immerhin die Genugtuung, die WM überlebt zu haben, als Sieger aus dieser Goliath'schen Schlacht hervorgegangen zu sein und immerhin mit einem Recht behalten zu haben: Die Erde ist rund und dreht sich weiter, ganz egal, ob der Fußball rollt, oder nicht.
Dabei steht das nächste ledrige Großereignis bereits vor der Tür, von 7. bis 29. Juni 2008 treffen sich die europäischen Teams zur Fußball-Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz – also quasi die Fortführung der Halb-Finals dieser WM, nur auf neutralerem Boden. Und als wäre das nicht genug, droht die einheimische Bundeliga ebenfalls damit, ab Mitte August wieder die Bildschirme zu belagern.
Vielleicht sollte man sich als Nicht-Fußballer der Tatsache stellen, dass ein Kampf gegen den runden Sport kaum möglich ist, man schließlich nicht gewinnen kann, sondern sich damit abfinden muss, dass aus kaum erklärlichen Gründen unzählige Menschen gebannt hinstarren, wenn zwanzig Erwachsene darum bemüht sind, das Runde ins Eckige zu befördern.
Das kommt zwar nicht unbedingt einem Sieg gegen die deutsche Sportart Nummer eins gleich, aber es befähigt jenen Teil der Gesellschaft, der von Schiedsrichtern, Corners, Offsides, Additional Times und Reverse Angles die Nase voll hat, mindestens ebenso lange zu überleben, wie der Rest … und mit etwas Glück sogar noch ein bisschen länger.
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