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"Liebesgrüße" für die Ewigkeit | von Jens am 24.06.2006, um 08:00 Uhr. |
Es gibt momentan wohl kaum einen solchen Straßenfeger wie die Fußballweltmeisterschaft 2006, auch wenn sie nicht allerorts das am heißesten diskutierte Thema ist. In Großbritannien beispielsweise sorgte vor wenigen Wochen die Sendung "Boys will be Girls" für Furore, eine Casting-Doku-Show, in der eine Girlgroup zusammengestellt wurde – aus Jungs. Diese durften sich vor Publikum präsentieren und ihre erste Single zum Besten geben, die inzwischen auch in den Läden erhältlich ist. Das Ganze lässt sich vielleicht in einfachen Worten als "DSDS meets Tootsie" umschreiben mit dem nicht zu leugnenden Effekt, dass zumindest darüber geredet wird, auch wenn das Öffentliche Leben deswegen nicht still steht, wie es bei den Spielen der internationalen Fußballmannschaften der Fall ist.
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Man könnte also beinahe sagen, die Deutschen haben das britische Sendungsformat bereits vor Jahren erfunden, auch wenn es damals geschickt unter dem Titel "Deutschland sucht den niedrigsten IQ" getarnt wurde, aber ob Männlein oder Weiblein hat dessen Schirmherrn noch nie gestört, der welchen Bettgenossen auch immer vor den Lauf einer Waffe schiebt und sich selbst lieber die Fortpflanzungsorgane verrenkt.
Man muss einerseits bewundernd die Augenbrauen heben angesichts der Tatsache, was sich die Produzenten einfallen lassen, um Zuschauer vor die Mattscheibe zu locken, Grenzen des guten Geschmacks, der Moral oder sonstige wettbewerbsbehindernde Erziehungsfehlgriffe wurden schon lange über Bord geworfen, sodass man sich nun einzig und allein auf die Steigerung des Bekanntheitsgrades und des Profits verlassen kann. Und das ist den Machern immerhin gelungen. Freuen wir uns also in Zukunft auf so Fernsehperlen wie die "Teenie-Travestie-Parade" oder die "Hitparade der Geschlechter Ü-Eier" – dass dabei diejenigen, die aus welchem Grund auch immer diesen Geschlechtertausch in der Tat praktizieren, hoffnungslos durch den Kakao gezogen werden, interessiert die Verantwortlichen selbstverständlich wenig, denn viel weiter als bis zum nächsten Scheck denkt man im Showbusiness ohnehin nicht. Auch dass den Beteiligten dieser Shows jener Ruf ein Leben lang anhaften wird, scheint kaum jemanden zu interessieren, am wenigsten die Betroffenen, die eine solche Weitsicht wohl nicht besitzen.
Weitsicht hätte man unseren Vorfahren vor 60 bis 40 Jahren ebenfalls mehr in die Wiege legen sollen, dessen können sich reisende Berufstätige momentan wieder vielerorts überzeugen. Sobald die Temperaturen steigen, sich der Herbst monsunartig ankündigt und erste Gewitterwolken den blauen Himmel schmücken, gehen die Stadtverwaltungen im Land ihrer Lieblingsbeschäftigung nach und stellen überall so viele Baustellen wie möglich auf. Es wird gebuddelt, umgebaut, aufgebaut und sich erst hinterher Gedanken darüber gemacht, wie all das eigentlich bezahlt werden soll. Aber wenn schon einmal 50 % der Innenstadt umgegraben ist, muss der Bund ja ein paar Meuros springen lassen, um die Infrastruktur nicht zu gefährden.
Was bei den zahlreichen, um nicht zu sagen unüberschaubaren Baustellen immer wieder entdeckt wird sind gewichtige Anekdoten einer Zeit, die manch engstirnige Zeitgenossen gerne vergessen wollen, die uns aber begreiflich machen, dass wir in einem ehemaligen Kriegsgebiet wohnen.
Wenn wieder einmal eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg ausgegraben wird, folgt ein einzischen beinahe schon altbekanntes "Spiel". Zuerst wird der gesamte Bereich in einem mehrere Kilometer umfassenden Radius um den Fundort abgesperrt, was zur Folge hat, dass der Nahverkehr und bisweilen auch der Fernverkehr komplett zum Erliegen kommen. Anschließend wird ein Spezialkommando herbei gerufen, das die Reliquien entschärfen oder aber "kontrolliert" zur Detonation bringen soll. "Kontrolliert" ist bei einem sechzig Jahre alten Mechanismus – der damals immerhin bereits nicht funktioniert hat – aber ein dehnbarer Begriff.
Aus heutiger Sicht darf man sich zweifelsohne fragen, wie sinnvoll es damals war, das Land wieder aufzubauen, ohne vorher diese Bomben zu entfernen, auch wenn es damals keinen großen Unterschied machte, ob eine 250 kg schwere Bombe, die aus mehreren Hundert Metern Höhe abgeworfen wurde beim Aufprall auf dem Boden nun explodierte, oder nicht. Der Schaden war in etwa derselbe.
Dass es außerdem keinen Sinn macht, diese Bomben wieder zu verbuddeln getreu dem Motto "sechzig Jahre ist nichts passiert, wieso sollte sich das jetzt ändern", sieht man an zwei Beispielen aus dem Salzburgerland, wo sowohl 1965, als auch 1996 jeweils ein eine Vierteltonne schwerer Sprengkörper detonierte. Diese Souvenirs werden uns auch in Zukunft erhalten bleiben – und uns auch dann an die Vergangenheit erinnern, wenn uns Zeitgenossen wie Politiker anderes erzählen wollen.
Manche Dinge wird man scheinbar nicht wieder los, bleibt zu hoffen, dass es sich bei der Fernsehkultur anders verhält … andererseits kann man nicht sagen, wie lange deren Auswüchse bereits in den Köpfen der Verantwortlichen begraben lagen.
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