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Bilanz-Rekorde und Rekord-Bilanzen
Treffpunkt: Kritik Blickt man auf die vergangen 12 Monate zurück, wenn dem alten Jahr nur noch wenige Stunden bleiben, um sich mit rühmlichen oder wenigen rühmlichen Ereignissen einen Platz im geschichtlichen Nachthimmel zu sichern, dann weiß man nicht so recht, ob mit dem Silvesterfeuerwerk das neue Jahr begrüßt, oder dem alten ein Gnadenschuss gesetzt werden. Zu beneiden sind diejenigen Menschen, die Ereignisse wie die Mondlandung live miterlebten. Unumwunden wusste man in jenem Moment, dass etwas Bedeutendes geschehen war. So auch, als die Berliner Mauer fiel. Die unsägliche Unart, mit Jahresrückblicken 2010 zu verklären, ehe der menschliche Verstand überhaupt die Zeit bekommen hat, die knackigen Erinnerungen dementsprechend verbleichen zu lassen, legen den Schluss nahe, dass jedes Jahr ein tolles Jahr sei – je nachdem, welche Publikation den Jahresrückblick in Auftrag gibt, werden entweder freudige Ereignisse, oder aber Katastrophen dafür genannt. Was den Rubel eben zum Rollen bringt.
Wirft man aber einmal einen nüchternen Blick auf 2010, muss man die besonderen Momente durchaus suchen. Selbstverständlich werden sich immer wieder kleine Wunder finden, und darüber sollte man auch dankbar sein. Aber Meilensteine, die in zwei Tausend Jahren immer noch in den Geschichtsbüchern stehen werden, gibt es keine zu vermelden. Interessanter ist dabei doch, was in 2010 alles begann, und was mindestens bis 2011 durchgeschleppt wird.
So ist es uns auch in diesem Jahr nicht gelungen, eine Gesamtbevölkerung von über sieben Milliarden Menschen auf dem Planeten zu erreichen. Schätzungen[1] zufolge liegen wir immer noch bei circa 6,88 Milliarden und das, obwohl die Bundesregierung so umfassende Steuererleichterungen für Familien in Aussicht gestellt hatte – die wurden dann ja wieder relativiert, nur lässt sich der geplante Zuwachs dann ja nicht einfach mehr stoppen. Die sechs Milliarden-Grenze wurde dabei vor über 11 Jahren schon erreicht und egal, wie optimistisch die Voraussagen auch sind, der nächste Schwellenwert scheint nicht so einfach zu erreichen sein.

Sucht man dabei im Internet nach Rekorden, die im Jahr 2010 erreicht wurden, finden sich eine ganze Menge. Von Rekord-Gewinnen im Aktiensektor über Gewinnmaximierungen, bis hin zum Fußballköpfen beim Treppensteigen[2] und oder Rekorden beim Trampolinspringen[3].
Mit den kreativ berechneten Arbeitslosenzahlen errang sich die Politik ein Rekordtief im entsprechenden Segment. Dafür stieg die Staatsverschuldung um Rekordwerte. Auch bei den Olympischen Spielen in Vancouver gab es zahllose Rekorde, ebenso wie zu befürchten war bei den Daten der Klimaveränderungen[4]. 2010 war demnach das bislang wärmste Jahr der erfassten Wetterdaten, auch wenn der derzeitige Wintereinbruch in Europa kein Maßstab dafür ist. In Pakistan wurde beispielsweise ein Rekordwert von 53,5 Grad Celsius gemessen. Die beobachteten Auswirkungen auf die Größe der Polarkappen[5], die seit Satellitenaufnahmen auch dieses Jahr um 5% zurückgegangen sind, lassen sich auch nicht mit Augenwischerei bestimmter Industriezweige leugnen. Dass Magazine wie der Focus für Titelzüge wie "Die Globale Erwärmung ist gut für uns" mit einem Auflagenrekordtief abgestraft werden[6], könnte heißen, dass auch in den Köpfen der Menschen ein Umdenken stattfindet – oder dass die Wikileaks-Story, die andere Magazine vermarkteten einfach interessanter waren.
Auch das war ein Rekord 2010: selten wurden so viele Geheimdokumente der Öffentlichkeit unfreiwillig zugänglich gemacht wie dieses Jahr. Ob dies aber im Sinne der Urheber liegt, sei dahingestellt.

Die Bürger schienen auch sehr daran interessiert, mehr über die Veröffentlichten Dokumente zu erfahren. Aber nicht nur das, mit Protesten gegen den in die Wege geleiteten Ausstieg vom Atomausstieg, den Massenansammlungen zu "Stuttgart 21" oder den selbst bei Minusgraden durchgeführten Blockaden gegen die Einlagerungen der Castoren haben die Menschen im Land außerdem gezeigt, dass sie sich nicht nur für Politik interessieren, sondern dass sie mitgestalten wollen. Spätestens dann, wenn die gewählten Vertreter nicht die Interessen ihrer Wähler, sondern ihrer Spendengönner vertreten. Was daraus im kommenden Jahr wird, muss man abwarten, 2010 dürfte jedoch als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die Bevölkerung sich wieder organisierte und aus passiver Aggression eine aktive Positionierung wurde.

Zur Absprache dient hier wie in vielen Bereichen auch das Internet, das auch erste Anlaufstelle war, als die bekannte Sendung Wetten, dass..? zum ersten Mal in ihrer beinahe drei Jahrzehnte umfassenden Geschichte abgebrochen wurde. Der Unfall des Wettkandidaten wurde von Millionen Zuschauern live miterlebt und ebenso oft nochmals im Internet angeschaut. Binnen Minuten verbreitete sich die Meldung über das Unglück, verschiedene Quellen luden die Szenen auf Videoportalen hoch und es sammelten sich zahllose Kommentare dazu. Viele renommierte Seiten zensierten die Beiträge oder deaktivierten die Kommentarfunktion ganz. Wie viele "User" sich dort mit beleidigenden Kommentaren meldeten, sich über das Opfer und die Organisatoren der Sendung lustig machten, ist erschütternd.
Es scheint eine Verrohung stattgefunden zu haben, die durch YouTube & Co. begünstigt die Grenzen zwischen solch produzierten oder dokumentarischen Inhalten verschwimmen lässt. Beinahe als könnten diejenigen, die sich in solchen Kommentaren äußern nicht beurteilen, worin sich Jackass von Bildern der Überwachungskameras der Ubahn-Schläger unterscheiden. Beinahe, als hätten diese Bilder für viele keine Abschreckende Wirkung mehr. Ein trauriger Rekord. In einer Welt, in der jeder mit einer Webcam und einem Internetzugang zum Entertainer werden kann, ohne dass seine Handlungen einer Kontrolle unterliegen, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Real-Aufnahmen und Reality-TV.

Auch 2011 wird seine Rekorde sehen. So nimmt die längste in Deutschland gelaufene Daily Soap, Der Marienhof, seinen Abschied. Angeblich hatten alle beiden Zuschauer Protest eingelegt, jedoch ohne Erfolg.
Auch könnte 2011 das Jahr werden, in dem George W. Bush Jr. endlich als Heilsbringer erkannt und für seine überragenden diplomatischen Leistungen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird. Wie die Marienhof-Entscheidung wäre auch das schon längst überfällig.
Die Wahrsager rund um den Globus werden es sich nicht nehmen lassen, mit solchen Prognosen allerorts wieder Geld machen zu wollen. Dabei wurde ihre Profession auch in diesem Jahr wieder als dürftig treffgenau[7] bloßgestellt. Einzig der inzwischen verstorbene Krake Paul konnte überzeugen. Über die Aschewolke des isländischen Vulkans wusste von den medial begabten Paranormalitätskollektoren niemand Bescheid, ebenso wenig wie über die monatelang in den Golf von Mexiko blutende Ölquelle. Von einer entführten Air Force One, gigantischen Fledermäusen oder Raketenangriffen auf Flugzeuge auf deutschen Flughäfen, die allesamt vorhergesagt waren, sind wir indes glücklicherweise verschont geblieben. Wie in den vergangenen Jahren auch, bewog sich die Treffgenauigkeit der Hellseher auf einem vorhersagbar überschaubaren Niveau. Was nicht heißen wird, dass sich keine Boulevardblätter und groschenromanähnliche Magazine finden werden, die ihre Prognosen für 2011 mit dankbarer Freude abdrucken werden.

Einen Rekord gab es Mitte Dezember noch zu vermelden: nach 33 Jahren ist die NASA-Sonde Voyager 1 an den Punkt gekommen, an dem sie keine Sonnenwinde unserer Sonne mehr im Rücken spürt[8]. Erreicht war dieser Punkt bereits im Juni, als die Sonde eine Entfernung von 17 Milliarden Kilometer zur Sonne zurückgelegt hatte. Wissenschaftler sind sich jedoch nicht sicher, ob die Voyager 1 bereits die Heliosphäre erreicht hat. Forscher vermuten diesen Schritt jedoch erst in vier Jahren. Damit würde sie unser Sonnensystem verlassen und wäre nicht mehr nur das am weitesten gereiste, von Menschen Hand geschaffene Objekt. Sie sähe sich buchstäblich den Weiten des Weltalls gegenüber – mit Milliarden von Sonnen und ebenso vielen Planeten auf ihrer Route.
Angesichts dieser Größenordnungen sollte man doch mit angemessener Demut das alte Jahr ausklingen lassen. Und vielleicht auch das Neue mit einer solchen Einstellung beginnen.
In diesem Sinne, auf dass wir vom Schlimmsten verschont bleiben in den kommenden 367 Tagen!



[3] Heide-Park: Rekorde

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