Himmel über dem Camino - Der Jakobsweg ist Leben! [2019]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 5. Juli 2021
Genre: Dokumentation

Originaltitel: Camino Skies
Laufzeit: 80 min.
Produktionsland: Neuseeland / Australien
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung

Regie: Fergus Grady, Noel Smyth
Musik: Tom McLeod
Personen: Julie Zarifeh, Sue Morris, Terry, Mark Thomson, Cheryl Stone, Claude Tranchant, Manny Domingo Jr., Neill Le Roux, Belli Naima, Rachael Speedy, Louise Tessier


Hintergrund:

Eine Viertelmillion Menschen pilgern jedes Jahr den Jakobsweg, dessen Ursprung beinahe 1.000 Jahre zurückreichen soll. Der Weg, ein UNESCO-Welterbe, reicht von den Pyrenäen bis weniger als 100 Kilometer vor die Atlantikküste in Nordspanien. Er umspannt insgesamt 800 Kilometer. Die Filmemacher begleiten darauf sechs Menschen, die diese Reise antreten, um teils eine tiefe Trauer zu überwinden und zu sich selbst zu finden. Ungeachtet ihres Alters oder eventueller, körperlicher Einschränkungen machen sie sich auf den Weg. Es ist eine Pilgerreise, die sie nicht nur an ihre Grenzen bringt, sondern auch darüber hinaus.


Kritik:
Himmel über dem Camino - Der Jakobsweg ist Leben! von Fergus Grady und Noel Smyth ist kein Dokumentarfilm über den Jakobsweg. Es ist ein Film über die Menschen, die die Filmemacher auf diesem Pilgerweg begleiten. Das ist hinsichtlich der präsentierten Fakten des 800 km langen Weges überaus ernüchternd, aber nichtsdestoweniger erleuchtend, was die Wirkung dieser Reise auf die jeweiligen Personen anbelangt, die sich allesamt aus unterschiedlichen Gründen aufmachen und doch überwiegend dasselbe suchen.

In der kompakten Laufzeit von weniger als eineinhalb Stunden nähern sich die Filmemacher einem halben Dutzend Personen, allesamt aus Australien oder Neuseeland, die 2018 nach Europa gereist sind, um über einen Zeitraum von mehren Wochen eine Wanderung von Saint-Jean-Pied-de-Port, den französischen Pyrenäen, quer durch Nordspanien bis nach Santiago de Compostela zu unternehmen. Himmel über dem Camino beginnt mit einem Zitat des griechischen Arztes und Gelehrten Hippokrates von Kos, „Gehen ist des Menschen beste Medizin“. Man möchte ihm widersprechen, sieht man daraufhin die 70 Jahre alte Sue, die am Ende ihrer Kräfte scheint. Wie viele andere Pilgerinnen und Pilger jedes Jahr macht sie sich auf den Weg, auf der Suche nach einer Antwort zu einer Frage, die ihr Leben fest im Griff hält. „Man lässt etwas zurück für etwas Neues“, sagt sie auch und es sind diese Momente, die dem Publikum ebenso bleiben, wie ihr, am Ende ihrer Reise.

Alle Personen, die Fergus Grady und Noel Smyth vorstellen, stehen an einem Scheideweg in ihrem Leben. Manche haben unerträgliche Schicksalsschläge ertragen müssen und zwingen sich – wie Sue – trotz ihrer körperlichen Gebrechen, diesen beschwerlichen Weg zu bezwingen. 800 Kilometer lang. Es ist eine Dimension, die man sich kaum vorstellen mag. Indem sie diese Personen erzählen lassen, ihren Geschichten, die sie einander oder der Kamera erzählen, lauschen, nähert sich der Dokumentarfilm Schritt und Schritt dem, was Menschen wie Sue, Julie, Terry oder Mark dazu bewegt, sich auf eine solche Reise einzulassen. Allein, oder mit anderen. Wobei wer sich auf den klassischen Jakobsweg begibt, nicht lange alleine läuft. Der Camino Francés, wie dieser Abschnitt auch genannt wird, zählt zu den bekanntestes Wegen, während der „Jakobsweg“ selbst ein ganzes Netzwerk von Pilgerwegen beschreibt, die allesamt zum vermeintlichen Grab des Apostels Jakobus im spanischen Galicien führen.

Doch zu dem Hintergrund, des Jakobsweges selbst, oder der Bedeutung des Pilgerwegs, äußert sich Himmel über dem Camino nicht. Es gibt kaum Informationen über den Umfang, den die Pilgerreise bei den meisten Wandernden einnimmt, noch, wie die Unterkunft in den Herbergen organisiert ist. Mit technischen Details hält sich der Dokumentarfilm ebenso wenig auf, wie mit einer wirklichen Wegbeschreibung. Es stellt sich nicht das Gefühl ein, als könnte man am Ende beschreiben, wie der Weg verläuft, kein einziges Mal wird eine Karte eingeblendet, um für Kontext zu sorgen und die Einblendungen der zurückgelegten oder noch offenen Kilometer bleiben ohne Wirkung, wenn man dies nicht visuell einschätzen kann, oder ein Verständnis dafür geweckt wird, welche Herausforderungen die einzelnen Abschnitte mit sich bringen.

Dafür zeigen die Dokumentarfilmer unnachgiebig die Menschen, die den Weg gehen, an ihren persönlichen Tiefpunkten, wenn sie sich weit abseits ihres Alltags dem gegenübersehen, was ihr Leben stärker prägt, als alles andere. Seien es Trauer oder Zweifel. Dies so unverblümt zu sehen, lässt die Momente umso inspirierender erscheinen, in denen die Personen feststellen, dass sie nicht alleine sind auf dieser Reise. Oder dass sie den Weg trotz aller Widrigkeiten gegangen sind. Die kathartische Wirkung sich so entfalten zu sehen, macht demütig und ermutigt zugleich. Trotzdem wäre eine klarere Struktur der Erzählung, sei es inhaltlich oder thematisch, auf einzelne Personen bezogen oder ihre persönliche Entwicklung während des Wegs, wünschenswert gewesen und hätte dafür gesorgt, dass die Beschreibung dieses Pilgerwegs sowie seiner Höhen und Tiefen leichter zugänglich geworden wäre.

Wer sich auf Himmel über dem Camino einlässt, wird mit einem beinahe meditativen Einblick belohnt, geprägt von Menschen, die trotz ihrer Unterschiede eines eint. Sie treffen beinahe auf der anderen Seite des Globus auf Menschen, die sie prägen, finden eine Kameradschaft und werden mit einer Erfahrung belohnt, die aufwiegen soll, was sie dorthin geführt hat. Das ist gerade bei den tragischen Schilderungen Julies behutsam und respektvoll, aber nichtsdestoweniger berührend. Und bekommt die siebzigjährige, an Arthritis leidende Sue, die von sich selbst behauptet, sie sei ein ganz normaler Mensch, am Ende des Weges gesagt, „Sie sind eine Inspiration für alle“, dann kann man dem nur beipflichten.


Fazit:
In einer so schnelllebigen Welt zu sehen, dass Menschen, die einen 800 Kilometer langen Pilgerweg allein oder mit anderen gehen, im Laufe dieser Reise ebenso viel über sich wie die anderen Wandernden lernen, ist ebenso inspirierend, wie zu beobachten, wie sie alle ihre ganz persönlichen Herausforderungen auf dieser Reise meistern. Auch wenn die mäandrierende Erzählweise, die immer wieder auf dem Weg zurück oder nach vorn springt, wenn die beleuchteten Personen unterschiedlich weit sind, das Erlebnis des Jakobswegs widerspiegeln mag, auf dem sich manche Wege kreuzen, eine klarere Struktur würde der Erzählung allein hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit guttun. Der mit bezaubernden Landschaftsaufnahmen bebilderte Himmel über dem Camino - Der Jakobsweg ist Leben! ist ein Dokumentarfilm, der seine Faszination daraus zieht, wie dieser Weg diejenigen verändert, die ihn gehen. Dabei gehen sie ihn nicht, um der Wirklichkeit zu entkommen, sondern um einen Weg in die Realität zurückzufinden. Das richtet sich nicht an ein breites Publikum, doch wer sich darauf einlässt, den erwartet eine spirituelle Reise, die es wert ist, gegangen zu werden.