Atomkraft Forever [2020]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 2. Januar 2021
Genre: Dokumentation

Laufzeit: 94 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung

Regie: Carsten Rau
Musik: Ketan Bhatti, Vivan Bhatti
Personen: Jörg Meyer, Marlies Philipp, Joachim Vanzetta, Guy Brunel, Dr. Isabelle Zacharie, Dr. Lucas David, Steffen Kanitz, Julia Rienäcker-Burschil, Jochen Stay, Gerlinde Hutter, Wolfgang Mayer


Hintergrund:

Nach einer ursprünglichen Laufzeitverlängerung, beschloss die damalige Bundesregierung am 6. Juni 2011, als Reaktion auf die Nuklearkatastrophe von Fukushima vom 11. März 2011, die sofortige Abschaltung von acht Atomkraftwerken und den stufenweisen Ausstieg aus der Kernenergie bis 2022. Dokumentarfilmer Carsten Rau beleuchtet die Hintergründe, die zum Atomausstieg führten, die Auswirkungen, die Anwohnerinnen und Anwohner in der Nähe von Atomanlagen jetzt bereits betreffen und betreffen werden, sowie, welche Herausforderungen es auch nach dem voraussichtlichen Ausstieg aus der Kernenergie noch zu bewältigen gilt. Denn mit dem Abschalten an sich ist es nicht getan.


Kritik:
Der Titel von Carsten Raus Dokumentarfilm Atomkraft Forever ist so zweideutig wie das Thema selbst ambivalent. Die Kernenergie spaltet – kein Wortwitz beabsichtigt – wie viele Themen unserer heutigen Zeit die Gesellschaft. Schon aus dem Grund, weil es keine einfachen Antworten gibt. Zu einer eigenen zu kommen, dazu fordert die Dokumentation ihr Publikum auf und schildert ruhig, strukturiert und offen, weshalb die drängendere Frage nicht ist, ob der Atomausstieg richtig oder falsch ist, sondern wie man mit den Hinterlassenschaften dieser Energiegewinnung umgeht.

Aus dem Grund beginnt Rau passenderweise am Ende des Energiegewinnungsprozesses: Er zeigt Menschen, die in Schutzausrüstung durch eine Schleuse gehen und dekontaminiert werden. Man könnte erwarten, dass dies ein normales Vorgehen ist bei Technikern und Ingenieurinnen, die in der Nähe eines aktiven Atomreaktors arbeiten. Doch die Bilder stammen aus dem ehemaligen Kernkraftwerk Greifswald. Zu „Lebzeiten“ arbeiteten dort 15.000 Beschäftigte. Inzwischen sind es noch 814. Nach der Abschaltung im Jahr 1990 läuft seit 25 Jahren der Rückbau, der in acht Jahren abgeschlossen sein soll. Die Beschäftigten, die den Abriss der Gebäude durchführen und überwachen, sehen sich einer gefährlichen Situation gegenüber. 600.000 Tonnen radioaktiv belastetes Material muss zerlegt und auf Radioaktivität hin geprüft werden. Dafür wird jeder Tisch, jede Mauer, jedes Kabel auseinandergenommen und in Kisten gepackt, die durch einen Scanner laufen, um die ihnen anhaftende Strahlung zu vermessen. Durch feine Risse in den Mauern, kleinste Materialfehler, sind immer wieder winzige Mengen Radioaktivität freigesetzt worden, die beim Abriss als Staub in den Lungen der Arbeiterinnen und Arbeiter landen könnten. In Schutzanzügen solche Abrissarbeiten vorzunehmen, ist ebenso gefährlich wie höchst anstrengend. Körperlich, gesundheitlich und psychisch. 33 Jahre wird allein der Rückbau dauern, und über 5 Milliarden Euro kosten – das Atomkraftwerk war ganze 16 Jahre am Netz.

Atomkraft Forever gelingt es vom ersten Moment an, seinem Publikum ein Gespür dafür zu verleihen, wie unvorstellbar groß der Aufwand ist, der hier betrieben wird. Und welcher Weg noch nicht begangen ist, bedenkt man, dass es in Deutschland 17 Atomkraftwerke gab, die kommendes Jahr außer Dienst gestellt werden. Die Dimensionen sind derart riesig, dass für das Zerlegen der Reaktoren allein spezielle Hallen notwendig sind, die im Rahmen der Abbaumaßnahmen erst noch gebaut werden müssen. Bis die abgeschalteten Reaktoren überhaupt gefahrlos zerlegt werden können, müssen sie 70 Jahre lang eingelagert werden. Um es in den Kontext zu rücken: Der vorgestellte Nuklearingenieur und die Kommunikationsleiterin, die hier zu Wort kommen und das Kraftwerk seit Jahrzehnten begleiten, werden wohl nicht erleben, wann das endgültige Ziel erreicht wird, dass auf dem Kraftwerksgelände eine blühende Landschaft vorzufinden ist.

Ist es also richtig, eher früher als später aus der Atomenergie auszusteigen? Die Beantwortung dieser Frage erzürnt in jedem Fall eine Seite der heftig geführten Debatten. Dokumentarfilmer Rau lässt hierzu den Direktor eines Übertragungsnetzbetreibers zu Wort kommen, der nach eigener Aussage von den verantwortlichen Politikern nach der öffentlichkeitswirksamen Verkündung des Ausstiegs aus der Kernenergie gefragt wurde, ob Deutschland ohne Atomenergie seinen Energiebedarf decken könne. Seine Antwort stimmt nicht unbedingt zuversichtlich. Ebenso wenig die Aussicht von Gemeinden wie das vorgestellte, bayerische Gundremmingen, wo vor über einem halben Jahrhundert ein Atomkraftwerk in Betrieb genommen wurde. Die Planungen spalteten damals die etwas mehr als ein Tausend Seelen zählende Gemeinde, die zu großen Teilen in der Landwirtschaft tätig war. Doch das Kraftwerk brachte nicht nur viele Arbeitsplätze, sondern auch Geld in die Gemeindekassen und Gaststätten, wie eine Wirtin erzählt.

Atomkraft Forever wartet mit vielen Zahlen auf, stellt sie aber nicht nur in den Raum, sondern lässt unmittelbar Betroffene zu Wort kommen. Dass in Gemeinden, denen die Kraftwerke Wohlstand gebracht haben, die Sorge groß ist, was danach kommt, ist verständlich und auch zu sehen, wie die einstige Skepsis gegen die Kraftwerke irgendwann verschwunden ist und man sich dort den Ausblick ohne die Schornsteine nicht mehr vorstellen kann, wird greifbar. In diesen Momenten ist es beinahe, als würden die Werbefilme der Energiebetreiber aus den 1970er-Jahren, die in die Dokumentation eingewoben sind, Recht behalten. Dass die Energieform Positives bewirkt, wie die französischen Wissenschaftler hier betonen. Dass sie „sauber“ ist insofern, als dass sie zumindest keine CO2-Emissionen verursacht, die wiederum den Klimawandel beschleunigen. Doch ist dies, wie Carsten Rau in seinem letzten Teilsegment vorstellt, eben nur die halbe Wahrheit. Denn nach wie vor ist die Frage der Endlagerung nicht geklärt.

Auch hier stellt die Dokumentation verhärtete Fronten vor, hervorgegangen aus dem jahrzehntelangen Streit um das Zwischenlager Gorleben. Atomkraft Forever zeigt auf der einen Seiten Umweltaktivisten, auf der anderen die für das Vergabeverfahren verantwortliche Behörde sowie ihre Geologinnen und Geologen, die auf der Suche sind nach einer Lagerstätte, die 1.000.000 Jahre halten soll bzw. muss. Gleichzeitig muss sie Platz bieten für Millionen Tonnen verstrahltes Material, für beinahe 2.000 Castor-Behälter, bei denen niemand weiß, wie lange ihr Inneres der hochradioaktiven Strahlung standhält – oder was geschieht, wenn sie es nicht mehr tun, zusammenpfercht unter Tage. Am Ende entlässt Rau sein Publikum mit ebenso vielen Fragen wie Eindrücken. Die Bilder aus dem Innern eines stillgelegten Kernkraftwerks, in dem mit schwerem Gerät von Hand Gebäude abgebaut werden, lehren einen Demut. Die geradezu aberwitzigen Größenordnungen, zeitlich, finanziell wie hinsichtlich der Logistik, in denen bei der Entsorgung von nur einem Kraftwerk gedacht werden muss, lassen erahnen, vor welch schier unlösbaren Aufgabe die verantwortlichen Stellen stehen, wenn sie eine allgemeingültige Lösung für siebzehn Atommeiler finden sollen, die in Kürze zu demontieren sind.

Dass sich Dokumentarfilmer Carsten Rau nicht zu einer eigenen Meinung hinreißen lässt, die Atomenergie nicht verteufelt, sondern aus der Perspektive Frankreichs herausstellt, dass sie notwendig ist, möchte man ohne fossile Brennstoffe Industrienationen mit dem wachsenden Energiebedarf versorgen, ist lobenswert. Doch vermeidet er es dabei, zwei Aspekte zu beleuchten, die für die öffentliche Meinungsbildung durchaus entscheidend sind. So kommen – von den Werbevideos abgesehen – die Betreiber der jetzigen Kraftwerke selbst nicht zu Wort. Sieht man auf der anderen Seite Betroffene und Aktivisten, die bei der Suche nach einem künftigen Endlager nicht nur um Beteiligung in Form von Informationen, sondern um ein Mitspracherecht kämpfen (so dass ihnen ggf. sogar ein Vetorecht eingestanden wird), dann sollte durchaus die Frage aufgeworfen werden, ob in diesem Fall überhaupt jemals eine Lagerstätte gefunden werden könnte. Das drängende Problem einer Entsorgung des atomaren Mülls wurde erst nach Inbetriebnahme der ersten Kernkraftwerke hierzulande gesehen und ist seit über einem halben Jahrhundert nicht beantwortet. Die Uhr steht bereits auf einer Minute vor zwölf.


Fazit:
Erzählt die seit 40 Jahren im Unternehmen befindliche Pressesprecherin Marlies Philipp, „das war unser Kraftwerk“ oder erläutert sie, wie die Menschen dort aus der Kohle kommend in der Technologie die Zukunft gesehen haben, dann verleiht Filmemacher Carsten Rau seiner Dokumentation eine Authentizität, die nicht auf die Betroffenen herabblickt, sondern ihre Perspektive verdeutlicht. Anstatt Partei zu ergreifen, schildert die Dokumentation unvoreingenommen, ruhig und hervorragend strukturiert, wie komplex die Fragen zum Thema sind und dass es entgegen der lautstarken Plakate der einen oder anderen Seite bei Demonstrationen, keine einfachen Antworten gibt. Mit 440 Atomkraftwerken auf der Welt, sollten sich auch die aus nachvollziehbar gemachten Gründen für den Einsatz der Kernenergie befürwortenden Nationen die Frage stellen, wie mit den Endprodukten umgegangen werden soll, immerhin ist die maximale Betriebsdauer eines Atomkraftwerkes nur ca. 40 Jahre. Die Gefahr ist groß, dass wenn der Ausstieg hierzulande kommendes Jahr tatsächlich vollzogen ist, der Fokus der Öffentlichkeit schwindet und man der Meinung sein wird, die Atomenergie wäre ein Relikt aus der Vergangenheit. Tatsächlich ist es ein Schrecken, der für hunderttausende Jahre bestehenden bleiben wird, und der nicht dadurch verschwindet, dass man ihn ignoriert. Dies zu unterstreichen, gelingt Atomkraft Forever eindrucksvoll und in bemerkenswerten Bildern. Die Dokumentation sollte in jedem Physikunterricht verpflichtend gezeigt werden müssen – immerhin werden die Hinterlassenschaften jener Energiegewinnung viele, viele Generationen noch beschäftigen.