James Dalessandro: "San Francisco: Das große Beben" [2004]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 6. April 2017
Autor: James Dalessandro

Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: 1906: A Novel
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: E-Book
Länge: 368 Seiten
Erstveröffentlichungsland: USA
Erstveröffentlichungsjahr: 2004
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2005
ASIN (gelesene Ausgaben): B00B4ZK7EE


Kurzinhalt:

Im Jahr 1906 ist San Francisco einer der wohlhabendsten Städte der Vereinigten Staaten. Und dennoch, oder gerade deshalb, hat sich ein Netz aus Korruption in der Machtebene breitgemacht, das selbst Präsident Theodore Roosevelt ein Dorn im Auge ist. Der aufrichtige, altgediente Polizist Byron Fallon ermittelt bereits seit längerem gegen den mächtigen Adam Rolf, der Bürgermeister Schmitz ebenso kommandiert wie viele andere Männer in der Stadt. Bedenken des hauptverantwortlichen Feuerwehrmanns, dass San Francisco dringend an den Notfallplänen für den Fall eines großen Feuers arbeiten müsse, schlagen sie in den Wind. Während Rolf und Schmitz ihre Positionen selbst gegen die Justiz sichern, trifft Fallons Sohn Hunter in der Stadt ein, der mit seinem Bruder Christian durchaus eine Bedrohung für die selbst ernannte Elite darstellt. Während sie alle darum bemüht sind, sich gegenseitig zu überführen oder unschädlich zu machen, bricht nach einem verheerenden Erdbeben ein alles verzehrendes Feuer in der Stadt aus ...


Kritik:
Die Katastrophe, die James Dalessandro in seinem schweißtreibend recherchierten Roman San Francisco: Das große Beben beschreibt, könnte nicht größer sein. Vor dem Hintergrund des großen Erdbebens und daran anschließenden Feuerinfernos des Jahres 1906, dessen Opferzahlen von offizieller Seite nach heutigen Erkenntnissen weit nach unten korrigiert wurden, erzählt er eine Geschichte, die mit teils fiktiven Figuren besetzt ist, sich in Teilen aber dennoch so zugetragen hat. Er verwebt die Fiktion so geschickt mit dem tatsächlichen Drama, dass einen manche Passagen sprachlos zurücklassen.

Dabei verwundert es, wie ein Buch, das eine so umfassende Katastrophe beschreibt, mit einer solchen Vielzahl an Figuren, in weniger als 400 Seiten erzählt werden soll. Auch wenn Dalessandro hinsichtlich der Verwicklungen und der schieren Komplexität der Story nicht an das fein gewobene Spinnennetz eines James Clavell heranreicht, er verknüpft verschiedene Schicksale auf so beiläufige Art und Weise miteinander, dass der Hintergrund der Figuren bedeutend reichhaltiger erscheint, als es die Seitenzahl vermuten lässt.
Vor allem lässt er mit erstaunlich wenig Worten das "Paris des Pazifik" in der Blütezeit des 20. Jahrhunderts auferstehen. Seine Beschreibungen des alltäglichen Lebens in San Francisco zu Beginn scheinen je nach Sicht der jeweiligen Figur malerisch oder düster. Die Stadt, gleichermaßen aufgeteilt in unvorstellbar reiche Wohnviertel einerseits und Straßenzüge andererseits, die man weder bei Tag, noch bei Nacht durchqueren wollte, scheint ein Brennpunkt der Gegensätze.

Vor diesem Schauplatz berichtet die Reporterin Annalisa Passarelli von einem aussichtslosen Kampf gegen einen Sumpf aus Korruption, Gier und Macht, welche die Stadt wie Geschwüre von innen vernichten. Bürgermeister Eugene Schmitz ist dabei nicht viel mehr als die Marionette des einflussreichen Adam Rolf, der sich mit Schmiergeldern nicht nur die halbe Polizei gesichert hat, sondern ebenso in den florierenden Menschen- und Mädchenhandel involviert ist, wie in Immobiliengeschäfte. Als der aufrichtigste Polizist der Stadt ermordet wird, kurz bevor der von Präsident Theodore Roosevelt selbst beauftragte Staatsanwalt diesen verbrecherischen Machenschaften das Handwerk legen will, nimmt eine Figur seinen Platz ein, die wie keine andere den Übergang der alten hin zur neuen Zeit verkörpert.

Die Art und Weise, wie San Francisco: Das große Beben auf der einen Seite die auf realen Figuren basierenden "Bösewichte" etabliert und auf der anderen Seite eine Familie aus Polizisten vorstellt, die mit aller Kraft dafür kämpft, diesen Männern das Handwerk zu legen, ist auf eine unvermittelte Art und Weise packend. Selbst wenn sich Autor Dalessandro hierbei die Freiheit nimmt, beim Geflecht aus Bestechung und Manipulation bestimmte Charaktere aus mehreren realen zusammenzufügen, oder den Mord an dem bekanntesten, rechtschaffenen Polizisten zeitlich zu verlagern, er tut dies, ohne die Bedeutung der Geschehnisse in ihrer Wirkung zu schmälern oder zu verfälschen.
Selten waren die "Schurken" in ihren Handlungen so widerlich und abstoßend wie hier. Das nicht, weil sie sich außerordentlich darum bemühen würden, sondern weil ihr Verhalten auf eine erschreckende Art und Weise glaubhaft ist. Gemein haben sie dabei, dass ihnen allen das Leben anderer Menschen gleichgültig ist, solange sie Profit machen können.

Auf der anderen Seite verkörpert Hunter Fallon mit seinem Bruder Christian und Vater Byron all das, was gut und erhaltenswert an San Francisco ist. Dalessandro baut seine Figuren in den ersten zwei Dritteln des Romans gelungen auf, verleiht ihnen Profil und eine Überzeugung, die ihre Handlungen erklärt, ehe er im letzten Akt die unvorstellbare Katastrophe über sie hereinbrechen lässt und zeigt, was von ihren Idealen inmitten des Infernos übrigbleibt. Das macht ihr Schicksal in San Francisco: Das große Beben so packend und das Geschehen nur noch intensiver.

Akribisch recherchiert entfaltet der Roman nach dem Erdbeben eine Feuersbrunst, die sich mit einer übernatürlichen Entschlossenheit zu bewegen scheint. Die Beschreibungen der verschiedenen Standorte und die Bewegung der Flammenfronten sind gleichermaßen erschreckend und zermürbend. Vor allem besitzen sie eine Intensität, die das Grauen zum Leben erweckt, ohne noch bildhafter zu sein, als unbedingt notwendig. Das macht das Buch sowohl zu einem packenden Thriller, als auch zu einem der greifbarsten historischen Nacherzählungen jener unvorstellbaren drei Tage, die gerade einmal ein Jahrhundert zurückliegen.


Fazit:
Das Erdbeben, das am 18. April 1906 San Francisco erschütterte, dauerte weniger als eine Minute. Damit begann eine Katastrophe, die 30.000 Gebäude zerstörte und wohl mehr als die zehnfache Menge der offiziellen Zahl von 478 Menschenleben kostete. Die menschlichen Schicksale machen was Autor James Dalessandro in seinem packenden Roman beschreibt so greifbar, selbst wenn sie nur das letzte Drittel des Buches betreffen. Zuvor zeichnet er ein so vielschichtiges und erschreckendes Bild einer Stadt, die in den Händen einiger weniger Männer lag, zerfressen von Korruption und Gier. San Francisco: Das große Beben ist ein packendes Buch und dieser Art das beste, das ich bislang lesen durfte. Der Autor blendet die realen Figuren wie den Opernsänger Enrico Caruso oder Feuerwehrchief Dennis Sullivan so gelungen und nahtlos mit den fiktiven Fallons oder der Erzählerin Annalisa ineinander, dass selbst die rückblickend moderne Technik von Hunter Fallon nicht stört, sondern zeigt, wie schnell sich bereits damals alles entwickelte. Einzig manche Beschreibungen scheinen etwas zu wenig in die Tiefe zu gehen. Doch dafür ist die Aufarbeitung der dramatischen Ereignisse während der unvorstellbaren Katastrophe, mit einer drei Tage andauernden Flammenhölle in der Stadt, so präzise und akribisch geschildert, dass man diesen Kritikpunkt schnell vergisst. San Francisco: Das große Beben ist ein fantastisches, mitreißend erzähltes Buch, dem es gelingt, trotz der Tragödien, die es schildert, die ureigenste Wesensart der Menschen darin herauszuarbeiten: Die Hoffnung.