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"Frau Koma" und ihr Instrument | von Jens am 15.03.2009, um 19:00 Uhr. |
In einer traurigen und beängstigenden Regelmäßigkeit wird die Gesellschaft von Taten heimgesucht, deren Ursprünge zu verstehen sich viele "Experten" anmaßen, deren Auswirkungen aber kaum abzuschätzen und schon gar nicht zu verarbeiten sind. Dass die Täter dabei immer jünger werden, setzt Beobachter zusätzlich unter Schock. Im jüngsten Fall in Winnenden war der Schütze 17 Jahre alt und galt gleichzeitig als freundlich, zurückhaltend und doch depressiv. Inzwischen, mehrere Tage nach der Tat, schießen Trittbrettfahrer aus dem Boden und es mehren sich die Interviews mit denjenigen, die behaupten, man hätte all das schon im Voraus erahnen können. Bei beidem schießt einem selbst als Unbeteiligter die Zornesröte ins Gesicht. |
Ob jene Auswirkung tatsächlich zutrifft, sei dahingestellt, weswegen der Schütze aber trotz seiner Minderjährigkeit überhaupt Zugang zu solchen Spielen hatte, wird damit nicht beantwortet. Ebenso wenig, wie die Frage, wer ihm denn beibrachte, wie eine Waffe zu laden, zu entsichern und korrekt zu bedienen ist? All das wird nämlich in einem Videospiel nicht vermittelt und per Knopfdruck lädt sich auch eine moderne Schusswaffe nicht von selbst nach.
Dass der Gewaltgrad in den Medien insbesondere in den letzten Jahren erschreckend in die Höhe geschnellt ist, sieht man nicht nur daran, dass die so genannten Folter-Pornos überall in den Kinos zu sehen, beziehungsweise in den Videotheken verfügbar sind, sondern auch, wenn man sich vor Augen führt, wie tatsächlich praktizierte Gewalt in der Tagesschau und anderen Nachrichtensendungen um 20:00 Uhr (oder noch früher!) in voller Länge gezeigt wird. Man erinnere sich beispielsweise an das Überwachungsvideo, das die Tat der U-Bahn-Schläger von München eingefangen hat. Sensationslüstern und populistisch wird in Zeitungen, Boulevardblättern und renommierten Sendungen das Leid der Beteiligten gezeigt und im gleichen Atemzug darauf gehofft, dass die Menschen ähnlich wie beim Gaffen an Unfallorten, gebannt auf die Menschen verachtenden Handlungen der Gewalttäter starren.
Doch dass eine solche Tat wie an der Realschule von Winnenden erst dadurch möglich wird, dass dem depressiven und leicht beeinflussbaren Täter das notwendige Werkzeug in die Hand gegeben wird, das sehen die Herren Politiker anders. Dass sich ausgerechnet Die Grünen für eine Neuregelung der Aufbewahrung von Schusswaffen stark machen, überrascht nicht. Durch ihre bisherige Haltung erhalten sie sicherlich keine regelmäßigen Zahlungen der Waffenlobby auf ihrem Spendenkonto.
Der unter Kommunikationsparanoia leidende Innenminister Wolfgang Schäuble, für den ein internetfähiges Handy offensichtlich gefährlicher ist, als eine Panzerfaust, ist hingegen der Meinung, dass weder mit Kontrollen an Schulen, noch mit einer Verschärfung der Waffengesetze eine Änderung erzielt werden könnte. Vielmehr seien dies "Ablenkungsmanöver".
Ob das vielleicht daran liegt, dass Deutschland Europas Waffenexporteur Nr. 1 ist? Ein Fakt, den die Deutsche Bundesregierung gerne verschweigt und nur sehr ungern wieder an der Öffentlichkeit sieht. An wie vielen Konflikten und kriegerischen Handlungen Deutschland damit direkt rund um den Globus verdient, lässt sich nicht einmal erfassen und vermutlich würde uns allen auch gleichsam übel werden, wüssten wir von genauen Zahlen.
Bundesinnenminister Schäuble ist in Bezug auf ein verschärftes Waffenrecht ohnehin der falsche Ansprechpartner, wie übrigens die meisten Politiker, die die derzeitige Regierung bilden. Wie man sich vielleicht noch erinnern kann, verärgerte der Innenminister vor eineinhalb Jahren seine einflussreichen Freunde der Waffenlobby sehr, als er einen Rückzieher bei der Lockerung des Waffenrechts machte. Dabei gesteht die Lobby offen ein, dass man in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium "unter Ausschluss der Öffentlichkeit [...] die Interessen [der] Mitglieder wahr" nehmen würde. Wie groß die Einflussnahme war und in einem wie viel stelligen Betrag, das wird man wohl nie erfahren – doch darf man sich sicher sein, dass auch diesen Herbst die Wahlplakate wieder von jener Industrie mitgesponsort werden, die mit Schusswaffen einen Milliardenumsatz macht.
Selbst die Polizeigewerkschaften sehen Handlungsbedarf und fordern mehr Personal für die Überprüfung der an sich strengen Unterbringungsmöglichkeiten für die Waffen der 2,5 Millionen in Deutschland gemeldeten Waffenbesitzer. Im Fall von Winnenden war im Haus der Sportschützen die Waffe einsatzbereit im Haus aufbewahrt worden, um sich gegen Einbrecher verteidigen zu können. Dass dies ein Verstoß gegen das Waffenrecht darstellt, wird die Angehörigen der Opfer nicht trösten.
Mehrere Tausend Schuss Munition lagerten im Elternhaus, über ein Dutzend Schusswaffen – zusammen mit dem psychisch labilen Hintergrund des Jungen, über den die Eltern Bescheid wussten, ergibt dies rückblickend ein Pulverfass, das einen bedeutend wütender macht, als alle Videospiele zusammen.
Bleibt nur die Frage, wie soll man mit denjenigen verfahren, die sich nun im Internet profilieren wollen, indem sie ähnliche Taten ankündigen? Nicht nur, dass die Ermittlungsbehörden auch solchen Drohungen nachgehen müssen, es werden dafür Ressourcen verschwendet, die auch sinnvoller hätten eingesetzt werden können.
Ist es die richtige Vorgehensweise, diese halbstarken Verstandsverweigerer ebenso wie die wenigen Täter, die ihren "erweiterten Suizid" nicht bis zum Schluss durchführen und somit inhaftiert werden können, in eine Zelle zu stecken und den Schlüssel wegzuwerfen? Oder sollte man sich darauf konzentrieren, jene verwirrten Mitglieder der Gesellschaft in selbige zu re-integrieren?
Darüber dürfen und werden Psychologen in der Fachliteratur höchst fundierte Diskussionen führen. Für die Zurückgebliebenen und auch die Unbeteiligten einer solchen Tragödie bleibt nur die betäubende Wut und eine Verständnislosigkeit, die einen an der Welt verzweifeln lässt. Daran werden neue Maßnahmen, sollten sie denn kommen, rückwirkend auch nichts ändern. Eine Patentlösung gibt es für solche Momente leider nicht und auch keinen Trostspruch, der nur im Ansatz das Leid jener lindern könnte, die jenem verhängnisvollen 11. März 2009 zum Opfer gefallen sind.
Was uns bleibt ist, ihrer zu gedenken. So schmerzvoll das auch sein mag.
Mehr Informationen zu "Frau Koma" finden Sie unter folgendem FAZ-Artikel.
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