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Inside Job [2010]

Wertung: 6 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 11. Mai 2021
Genre: Dokumentation

Originaltitel: Inside Job
Laufzeit: 109 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2010
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung

Regie: Charles Ferguson
Musik: Alex Heffes
Personen: Matt Damon, Gylfi Zoega, Andri Snær Magnason, Sigridur Benediktsdottir, Paul Volcker, Dominique Strauss-Kahn, George Soros, Barney Frank, David McCormick, Scott Talbott, Andrew Sheng, Hsien Loong Lee, Christine Lagarde


Hintergrund:

Im September 2008 erreichte eine weltumspannende Finanzkrise einen traurigen Höhepunkt. Ihre Auswirkungen sollten noch für Jahre zu spüren sein und nicht nur zu einer Wirtschaftskrise mit all ihren sozialen Folgen, sondern auch zur Eurokrise führen. Dabei kam der Zusammenbruch eines auf hohe Risiken und unerfüllbare Ausfallversicherungen ausgelegten Bankensektors im Zusammenspiel mit einer absehbaren Immobilienblase alles andere als unerwartet. Dokumentarfilmer Charles Ferguson zeichnet nach, wie es zu dieser Krise kam, wer die erforderlichen Möglichkeiten dafür geschaffen hat, und wie die Verantwortlichen mit ihrer Verantwortung im Nachgang umgingen. Dafür lädt er hochrangige Beteiligte aus Politik und Wirtschaft, dem Finanzwesen und Ökonomen zum Interview. Das Ergebnis ist das Porträt des vielleicht gigantischsten Geldraubes der Geschichte …


Kritik:
Nach seinem preisgekrönten Dokumentarfilm über den Irak-Krieg, No End in Sight [2007], widmet sich Filmemacher Charles Ferguson in Inside Job gewissermaßen einem anderen Kriegsschauplatz: Dem Finanzsektor. Geradezu detektivisch arbeitet er in fünf Teilen heraus, wie die Finanzblase von 2001 bis 2007 entstand, wie es zu einer weltumspannenden Finanzkrise kam, sowie wer dafür verantwortlich ist und schließlich, wie der Stand der Dinge zur Zeit des Films war. Man könnte nun meinen, dass in den 10 Jahren seit dessen Veröffentlichung viel geschehen ist. Tatsächlich ist es umso erschreckender, in wie vielen Bereichen die Räder wieder zurückgedreht wurden, so dass man sich eher am Anfang einer neuen Katastrophe wähnt, statt dass die Gesellschaft vor einer solchen geschützt würde.

Insofern sei vorweg gesagt, von seiner Aktualität hat Inside Job nach wie vor nichts verloren und das nicht nur deshalb, da es unerlässlich ist, die damaligen Geschehnisse aufzuarbeiten. Die Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 führte nicht nur zum Bankrott der Lehman Brothers-Bank, sondern zu einer weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise mit existenziellen finanziellen Folgen für Anlegerinnen und Anleger sowie steuerzahlende Privatpersonen, einem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit weltweit und letztlich zur Eurokrise, die dieselben Auswirkungen im Euro-Raum mit sich brachte. Sich nur etwas mehr als ein Jahrzehnt später daran zurückzuerinnern, was damals geschehen ist, scheint so weit entfernt, man könnte beinahe meinen, man habe es nicht selbst erlebt. Dokumentarfilmer Ferguson, so viel wird bei seinen bohrenden Fragen an die Interviewteilnehmenden ersichtlich, ist dabei mindestens ebenso wütend wie diejenigen, die durch die Krise ihre Ersparnisse oder gar ihre gesamte Existenz verloren haben, während wenige noch mehr Vermögen anhäufen konnten. Dabei, und dies geben zahlreiche Personen hier vor der Kamera ebenso bekannt, sei die Situation im Finanzsektor sehr kompliziert, vielleicht zu kompliziert, als dass Einzelne sie verstehen könnten. Umso mehr muss man dem Regisseur zugutehalten, wie verständlich er die Zusammenhänge darstellt.

Beginnend in Island, dessen Bankensektor im Jahr 2000 dereguliert und privatisiert wurde, bis hin zum US-amerikanischen Immobilienmarkt und Produktionsstätten in Asien, webt Inside Job ein Netz, dessen Verwicklungen immer dichter und engmaschiger werden. Beschäftigte der Staatsanwaltschaften, der Finanzministerien und Ökonomen kommen ebenso zu Wort wie diejenigen, die regelmäßig in den Jahren vor der Krise vor den Entwicklungen am Kapitalmarkt gewarnt hatten. Dass sie letztlich Recht behalten sollten, macht das Gezeigte zwar nicht erträglicher, dafür umso unverständlicher, weswegen die vielfach gewarnten Aufsichtsbehörden nicht reagierten.
Diese Materie aus Zahlen und Abhängigkeiten könnte man trocken und abstrakt präsentieren, doch es gelingt Charles Ferguson, diese Zusammenhänge und das Geschehene in einem stellenweise atemberaubenden Tempo einem Thriller gleich aufzubereiten, in dem die Interviews mit Harvard-Gelehrten, die nicht nur sich selbst bereichern, sondern dabei die Politik beraten und die nächste Generation an Ökonomen in ihrem Sinne prägen, einem packenden Dialog gleichkommen.

In einer klaren Struktur, die Jahrzehnte überspannt, deckt die Dokumentation einem investigativen Enthüllungsbericht gleich auf, wie von langer Hand geplant die Verantwortlichen zuerst die Rahmenbedingungen für ihr Handeln schufen, um sich am Ende am Risiko anderer zu bereichern, ohne selbst dafür haftbar gemacht werden zu können. Das ist in Anbetracht des Verhaltens der Täterinnen und Täter zwar erschütternd und mitunter gar aufwühlend. Aber es ist in den seltensten Fällen tatsächlich illegal gewesen. Umso entscheidender ist der Appell, den Ferguson seinem Publikum mit auf den Weg gibt, dass es entsprechende Regulation braucht, um zu verhindern, dass sich eine solche Krise wiederholt. Sein inzwischen ein Jahrzehnt zurückliegender Blick auf den damaligen Stand der Situation könnte dabei deprimierender kaum sein. Nicht nur, dass sich an dem grundlegenden Finanzsystem seither kaum etwas geändert hat, in vielen Belangen haben sich die Einschränkungen und Vorgaben vielmehr auf das Vorkrisenniveau zurückentwickelt. Und die Rufe nach weiterer Deregulierung wollen nicht verhallen. Doch um sich gegen solche Forderungen wehren zu können, muss man die dahinter liegenden Mechanismen zuerst verstehen. Hier liefert Inside Job einen nicht nur sehenswerten, sondern auch verständlichen Einstieg.


Fazit:
Oscargekrönt, unnachgiebig temporeich und temperamentvoll erzählt, bringt Inside Job die komplexe Thematik eines global untrennbar in sich verwobenen Finanzsektors auf den Punkt. Sicher, in vielen Belangen muss Filmemacher Charles Ferguson abstrahieren und zweifelsfrei werden nicht alle Bereiche und Verantwortlichen beleuchtet. Doch mit den Dutzenden Personen, die er immer wieder aufgreift, deren Wirken er vorstellt und deren Werdegang er nachzeichnet, gelingt ihm ein umfassend scheinender Blick auf eine Finanzwelt, die mit dem Dienstleistungssektor nichts mehr gemein hat, sondern in erster Linie sich selbst dient. Die Entstehung und Auswirkung der Finanzkrise nachgezeichnet zu sehen, macht sprachlos und in Anbetracht der Handlungsunfähig- und -unwilligkeit der Politik sowie der Strafverfolgung unermesslich wütend. Manche Aspekte des Finanzhandels werden als bekannt vorausgesetzt, andere zu schnell vorgestellt, als dass sich die Dokumentation an ein gänzlich uneingeweihtes Publikum richten könnte, doch für Interessierte ist dies ein ebenso packender wie wichtiger Blick auf eine Krise, die noch Jahre später zu spüren sein würde und unzählige Existenzen vernichtete. Die überraschend ehrlichen Aussagen mancher Interviewpersonen mögen dabei darauf zurückzuführen sein, dass sie ohnehin keine Konsequenzen zu befürchten hatten, doch zu sehen, wie schweigsam und schmallippig andere im Verlauf der bohrenden Fragen werden, ist den beeindruckenden Fähigkeiten des fragenden Regisseurs zu verdanken. Es bräuchte viel, viel mehr davon.