Alle lieben Touda [2024]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 9. Mai 2025
Genre: Drama

Originaltitel: Everybody Loves Touda
Laufzeit: 102 min.
Produktionsland: Marokko / Frankreich / Dänemark / Schweden / Norwegen / Belgien / Niederlande
Produktionsjahr: 2024
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Nabil Ayouch
Musik: Kristian Eidnes Andersen, Flemming Nordkrog
Besetzung: Nisrin Erradi, Joud Chamihy, Jalila Talemsi, El Moustafa Boutankite, Lahcen Razzougui, Abdellatif Chaouqi, Abderrahim El Maniari


Kurzinhalt:

Touda (Nisrin Erradi) lebt mit ihrem Sohn Yassine (Joud Chamihy) in einer kleinen Stadt in Marokko. Da sie als Sängerin in einem Lokal arbeitet, ist sie auf die Hilfe ihrer Nachbarin Rkia (Jalila Talemsi) angewiesen, die sich um Yassine kümmert, der taubstumm ist. Doch auch wenn Touda mit Unterhaltungsmusik erfolgreich ist, ist ihre Leidenschaft die Aïta, ein traditioneller Volksgesang. Touda ist eine der wenigen Sheikatas, die diese Gesangskunst beherrschen. Doch in der Kleinstadt gibt es keine Schule, die für ihren Sohn geeignet ist, weshalb Touda nach Casablanca gehen und dort ihr Glück als Sängerin versuchen will. In der Großstadt angekommen, trifft sie auf einen Geigenspieler (El Moustafa Boutankite), der ihr Talent erkennt. Doch die Menschen in der Großstadt können mit der Volksmusik wenig anfangen und so bleibt auch dort Toudas Reise voller Rückschläge …


Kritik:
Nabil Ayouchs Alle lieben Touda erzählt von einer alleinerziehenden Mutter im heutigen Marokko, die sich trotz aller Widrigkeiten und Ungerechtigkeiten gegen das patriarchale System stemmt, um ihren Traum zu verwirklichen. Gedreht über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren, schildert das Drama ihren Kampf um Anerkennung und einen Platz in einer von Männern dominierten Welt, in der Frauen selbst die Ware sind. Das ist in der Aussage nicht neu, aber stark – getragen von einer kraftvollen Darbietung, die alles andere überstrahlt.

Texteinblendungen zu Beginn vermitteln dem Publikum, weshalb Musik ein zentrales Element der Erzählung ist. Die Aïta ist Teil der traditionellen Volksmusik Marokkos. Im 12. Jahrhundert in das Land eingeführt, verbreitete sich die Aïta erst vor einigen Hundert Jahren im ganzen Land, sodass Frauen wagten, in ihrem Kampf gegen Unrecht und die Obrigkeit, in der Öffentlichkeit zu singen. Die Aïta ist ein Zeichen von Selbstbestimmung, Widerstand und Emanzipation, die Texte mitunter lustvoll und sinnlich. Die Sängerinnen dieser Lieder werden Sheikha genannt (Plural: Sheikatas). So sehr die Sängerinnen von Manchen vergöttert werden, so verhasst sind sie bei Anderen, gerade weil sie für Unabhängigkeit stehen. Die titelgebende Touda ist eine solche Sheikha. Von kleinauf singt sie ihre Aïta und auch zu Beginn von Alle lieben Touda ist sie zu sehen, wie sie weit ab von der kleinen Stadt, in der sie wohnt, mit einer überwiegend männlichen Gruppe singt, musiziert und tanzt. Die Stimmung ist anfangs ausgelassen, doch je länger der Abend dauert, umso mehr Alkohol fließt und desto zudringlicher werden die Männer. Was folgt, ist ein Akt unvorstellbarer Erniedrigung und Brutalität, unter dem Touda zerbrechen könnte. Doch die alleinerziehende Mutter des jungen, taubstummen Yassine, der an der Schule, auf die er geht, von anderen Schülern gehänselt wird, findet die Kraft, weiterzumachen. Sie ist davon überzeugt, nach Casablanca zu gehen, und dort mit ihrer Aïta berühmt zu werden. Doch der Weg in die Großstadt ist voller Rückschläge.

Es ist egal, wo sie auftritt, sei es in dem Lokal, in dem sie auch dafür bezahlt wird, dass sie den männlichen Gästen Gesellschaft leistet, damit diese so viel Alkohol wie möglich konsumieren, bei der Hochzeit, bei der sie singt, oder dem Volksfest, zu dem sie als Sängerin geladen wird, überall muss sie sich gegen die Zudringlichkeiten von Männern wehren. Sogar andere Frauen sagen ihr, sie solle sich lasziver bewegen, um mehr Geld zugesteckt zu bekommen. Wer sich an intimen Stellen berühren lässt, bekommt das meiste Geld. Anstatt für ihre Gesangskunst geschätzt zu werden, soll Touda sich selbst als Ware anbieten. Es ist eine Welt, die von Männern und für Männer gemacht ist. Selbst ihre Bekanntschaft, ein Polizist, der in Kürze zu seiner Familie zurückkehren wird, unterzieht Touda einer Verkehrskontrolle, da sie ihm nicht gesagt hatte, dass sie für das Volksfest einige Tage die Stadt verlassen muss. Es ist egal, in welcher Situation, Touda befindet sich in einem Machtgefälle, in dem sie stets unterlegen ist. Die Flucht in die größte Stadt Marokkos soll ihr eine Perspektive ermöglichen, wobei sie gleichzeitig eine Schule finden will, in der auf die Bedürfnisse ihres Sohnes Rücksicht genommen werden kann. Aber nicht nur, dass Touda in Casablanca ganz auf sich gestellt ist, glaubt sie, dass man ihre Aïta dort zu schätzen weiß, ist die Situation in der auf schnellen Kommerz ausgelegten Stadt eine andere. Immerhin trifft sie auf einen Musiker, der ihr Talent erkennt, wobei sie noch viel zu lernen hat.

Alle lieben Touda lässt das Publikum in diese Welt eintauchen, die von einem Freiheitsdrang in Form von Toudas Gesang einerseits geprägt ist, und ihrer ständigen Unterdrückung selbst in alltäglichen Situationen andererseits. Es ist eine Zerrissenheit, die sich in vielen Aspekten der Erzählung wiederfindet. Sei es, wie sehr es sie schmerzt, ihren Sohn bei ihren Eltern zurücklassen zu müssen, während sie versucht, in Casablanca eine geeignete Wohnung zu finden, während sie bei Auftritten in einem Nachtclub die Begeisterung des Publikums merklich in sich aufsaugt. Umso schlimmer ist für sie jedoch, dass ihre Aïta nicht die Anerkennung findet, die sie sich erhofft, und selbst, wenn es ganz am Ende einen Moment gibt, in dem sie für die Gesangskunst, die sie ausdrückt, gesehen wird, wird doch auch dieser Augenblick von Zudringlichkeiten überschattet, als wäre nicht ihre Kunst das, was sie dem Publikum präsentiert, sondern sie sich selbst. Es ist eine in der Gesellschaft verankerte Ungerechtigkeit, die sie nicht beheben kann, aber wenn man ihren Blick am Ende entsprechend deutet, gelingt es ihr womöglich, die Erfolge trotz der damit verbundenen Schattenseiten zu erkennen.

All das zum Ausdruck zu bringen, gelingt Nisrin Erradi auf ergreifende Weise. Ihre Darbietung lässt ihren Schmerz gleichermaßen erkennen wie ihre Stärke, sich davon nicht definieren zu lassen, sondern weiter nach dem zu streben, was sie sich vorgenommen hat. Ihre Körperbeherrschung bei den Gesangseinlagen und der Gesang selbst sind packend, der Rhythmus geradezu ansteckend, selbst wenn man mit der Art der Musik nicht vertraut sein mag. Alle lieben Touda ist ein Porträt, das durch sie nicht nur zur Geltung kommt, sondern dem sie buchstäblich Leben einhaucht. So tadellos die handwerkliche Umsetzung, ihre Darbietung ist es, was eine Geschichte sehenswert macht, die weniger stringent erscheint, als man erhoffen würde, und vor allem für die Hauptfigur und ihren Sohn endet, ohne einen Abschluss zu bieten. Das mag sich nur an ein bestimmtes Publikum richten, das jedoch hier eine starke und inspirierende Erzählung erwartet.


Fazit:
Egal, wo sie auftritt, mit den mitunter sinnlichen oder anzüglichen Texten kann Touda ihre Zuhörer zwar mitreißen, doch soll sie mit ihren körperlichen Reizen für Einnahmen sorgen. Es steht weniger die Kunst im Mittelpunkt als die Künstlerin. Mit dem Ergebnis, dass manche Männer glauben, einen Anspruch auf sie zu besitzen. Diese unterdrückenden und ausgrenzenden Eigenschaften einer von Männern dominierten Gesellschaft werden zwar erschreckend dargestellt, sie sind aber inhaltlich nicht neu. Umso mehr hätte man sich gewünscht, dass Filmemacher Nabil Ayouch mehr auf den kulturellen Hintergrund seiner Geschichte eingehen und die Herkunft der Aïta bzw. der Sheikatas und ihrer Wahrnehmung in der Bevölkerung Marokkos eingehen würde. So fällt es all denjenigen schwer, einen Zugang zu finden, die damit nicht vertraut sind und daher die Bedeutung der Musik nicht zuordnen können. Dass hier Potential ungenutzt bleibt, ist schade, doch es schmälert nicht die sehenswerte Darbietung im Zentrum. Nisrin Erradi trägt Alle lieben Touda so mitreißend und souverän, dass man ihrem Weg durch alle Tiefen folgt. Toudas Ambitionen sind so groß wie ihre Enttäuschung, sie nicht zu erfüllen. So sehr, dass sie selbst im Moment ihres größten Triumphs die Dinge wahrnimmt, die ihn beschmutzen, anstatt all dies, was sie erreicht hat. Die starken Aussagen darin wird das richtige Publikum zu schätzen wissen.