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Herzlich willkommen – Sie sind verdächtig | von Jens am 08.09.2007, um 08:00 Uhr. |
Unschuldig waren sie, jung und unbedarft – damals, ohne Kleidung, Scheu oder Scham. Bis der Apfel kam, und mit ihm alle Unannehmlichkeiten. Jenes Gefühl der Unschuld schlummert an sich in jedem normalen Menschen, bis man die mancherorts noch grün-khaki gekleideten Beamten zu Gesicht bekommt. Wenn diese einen auch noch ansprechen, beispielsweise nach dem Personalausweis fragen, oder aber die Fahrerlaubnis sehen wollen, beschleicht die meisten Menschen ein anderes Gefühl – jenes, als wäre man beim Griff in die Keksdose erwischt worden, auch wenn es lange Zeit vor Weihnachten ist. Auch wenn man nichts getan hat, fühlt man sich im ersten Moment schuldig. Doch war es bislang der Exklusivität der Polizei vorbehalten, jenes Gefühl auszulösen, buhlen inzwischen viele andere Institutionen um das Unbehagen beim Otto-Normal-Verbraucher. |
Dabei ist eine Überwachungskamera selbst ja ein sehr plumpes und unpraktisches Instrument, weil stationär und auch schnell zu entdecken. Viel interessanter sind da schon die "unsichtbaren Sicherungsmaßnahmen", die inzwischen in jedem Laden überall angebracht sind. Um aber auch den allerkleinsten Diebstahl zu entlarven, werden die Sensoren an den Ein- und Ausgängen immer empfindlicher gestaltet und so verwundert es nicht, dass es schon öfters piept, wenn man den Laden erst betritt – dies könnte aber auch Taktik sein, um dem potentiellen Dieb (Käufer gibt es heute nur noch selten und wenn, dann bestellen diese über's Internet) abzuschrecken, beziehungsweise schon im Vorfeld zu überführen. Piept es aber dann dennoch beim Verlassen des Ladens, hat man entweder tatsächlich etwas eingesteckt, oder aber zu lange sicherheitsgeschützte Artikel in der Hand gehabt. Allein das Ansehen eines solchen ist prinzipiell schon straffähig und sollte zur Anzeige gebracht werden.
Hat ein Fehlalarm, beispielsweise bei einer in Aussicht gestellten Geburt lediglich die Verzögerung des Ganzen zur Folge, folgt bei einem fälschlich ausgelösten Sicherheitssystem in der Einkaufpassage sofort eine Verurteilung und öffentliche Ächtung, wenn man wie angewurzelt im Türrahmen stehen bleibt, rechts und links von Sirenen eingehüllt und mit den bedauernswerten und wenig mitleidigen Blicken der übrigen Passanten gesegnet. Selbige lachen insgeheim schon deshalb, weil es sie am heutigen Tag noch nicht erwischt hat.
Umso größer also die Erwartung, wenn man in Gruppen in solchen Arkaden unterwegs ist, woraus sich auch ganze Gruppenspiele ergeben können; bei wem's zuletzt schrillt, der muss es dann auch bezahlen beispielsweise. Viele Menschen, insbesondere die, die ohnehin keine Zeit haben und von morgens acht Uhr bis Abends um vier die öffentlichen Verkehrsmittel blockieren (verstopfen), scharen sich schon deswegen in den Cafés der Passagen, weil sie so immer mit verachtenden Blicken diejenigen begutachten können, die zuletzt das Alarmsystem beim nächstgelegenen Modehaus aufleuchten ließen. Man fühlt sich hier ein wenig an die Muppetshow und die Balkonherren erinnert.
Die Modeindustrie hat sich indes die zweifellos effektivsten (und unauffälligsten) Sicherheitsauslöser ausgedacht und versieht selbst Socken der Größe 25 mit den runden, grauen UFOs. Auch wenn das Volumen-Verhältnis Kleidungsstück zu Antidiebstahlsicherung in keinerlei Relation steht, werden diese trotzdem angebracht, was das Probetragen insbesondere in den empfindlichen Regionen zum reinsten Fakirtraining macht. Wer hier auch die Bequemlichkeit Probe tragen möchte, ist offensichtlich im falschem Geschäft oder muss die anwesenden Hausdetektive bitten, mit in die Umkleidekabine zu kommen, um dort nach dem Rechten zu sehen.
In den Kinos wird man grundsätzlich daran erinnert, die Videokameras einzupacken (ein Hinweis, der manch einen erst daran erinnert, über welche Funktionen das eigene Handy denn verfügt) und muss sich so alle möglichen Warnungen ansehen, die sich diejenigen ersparen, die sich die Filme aus anderen Quellen besorgen. Auch im IMAX wird man schon vor Filmbeginn freundlich darauf aufmerksam gemacht, die 3D-Brillen nach der Vorstellung wieder abzugeben – ansonsten würde man "freundlich vom Sicherheitssystem daran erinnert". Wer also ausprobieren möchte, ob sie die Wahrnehmung der Realität mit einer solchen Brille steigern ließe, muss sich eine andere Methode ausdenken.
Ganz egal, wo man sich aufhält, ob im Laden, zuhause (dort wird man regelmäßig angerufen, nur um zu sehen, ob "alles in Ordnung ist"), auf Arbeit, der U-Bahn, im Flugzeug oder im Zug, stets haben alle nur das Bedürfnis, den Menschen von irgendwelchen Verführungen fern zu halten und ihn davor zu bewahren, straffällig zu werden. Wann man ein Schuhgeschäft nur noch ohne Schuhe betreten darf, um nicht davon auszugehen, dass die Getragenen gerade eben geklaut wurden, ist nur noch eine Frage der Zeit. Schlägt man zu allem Überfluss heutzutage noch eine Zeitung auf und liest, wo die Geheimdienste nun überall spionieren, Verzeihung sich informieren dürfen, ob man nicht vielleicht doch auch nur ein ganz kleines Bisschen das Gesetz übertreten hat, und sei es nur in Gedanken, wird man das Gefühl nicht los, als sei man als Mensch schon schuldig auf die Welt gekommen. Es braucht eigentlich nur noch jemanden, der es beweisen kann.
Im Garten Eden hatte man sich damals – so wird überliefert – an jenes kuschelige Gefühl der Unschuld gewöhnt, es wie eine wärmende Decke empfunden. Wenn sich die Gesellschaft weiterhin so große Mühe gibt, den Menschen ein Schuldgefühl einzureden, vielleicht möchten wir dies dann eines Tages auch nicht mehr missen wollen?
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