White Bird [2023]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 7. April 2024
Genre: DramaOriginaltitel: White Bird
Laufzeit: 120 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren
Regie: Marc Forster
Musik: Thomas Newman, Mark Siegel
Besetzung: Ariella Glaser, Orlando Schwerdt, Helen Mirren, Gillian Anderson, Jo Stone-Fewings, Bryce Gheisar, Patsy Ferran, Stuart McQuarrie, Olivia Ross, Ishai Golan, Jem Matthews, Jordan Cramond
Kurzinhalt:
Nachdem er die Schule wechseln musste, bleibt Teenager Julian (Bryce Gheisar) für sich. Freunde hat er dort noch nicht gefunden. Als seine Großmutter Sara (Helen Mirren), eine Künstlerin, die überraschend zu Besuch ist und erkennt, in welche Richtung sich ihr Neffe entwickelt, entschließt sie sich, ihm von ihrer Kindheit zu erzählen. An die Zeit, als sie in einem kleinen Ort nahe Paris in Frankreich aufgewachsen ist, denkt sie nicht gern zurück. Damals, im Jahr 1942, besucht Sara (Ariella Glaser) die Schule, zeichnet gern und schwärmt für ihren Mitschüler Vincent (Jem Matthews). Ihre Familie ist nicht arm, aber auch nicht reich. Sie bemerkt anfangs kaum, wie sich die Besatzung von Nazideutschland auf Frankreich auswirkt. Doch dann werden jüdische Menschen immer mehr vom öffentlichen Leben ausgeschlossen und Berichte über Verhaftungen dringen ins Dorf. Als deutsche Soldaten den Ort förmlich überrollen, schwebt auch Sara als Jüdin in Gefahr. Es ist der nach einer Polioinfektion auf einem Bein gelähmte Julien (Orlando Schwerdt), der Sara hilft zu fliehen und sie zusammen mit seinen Eltern Vivienne (Gillian Anderson) und Jean-Paul (Jo Stone-Fewings) in einer Hütte neben dem Haus versteckt. Getrennt von ihren Eltern lebt Sara in ständiger Angst entdeckt zu werden. Doch gerade in diesen finsteren Tagen erfährt sie Hilfe und Güte, die sie zuvor nie wahrgenommen hat …
Kritik:
Basierend auf dem Graphic Novel der Autorin des verfilmten Romans zu Wunder [2017], R. J. Palacio, präsentiert Marc Forster in White Bird keine inhaltlich neue Geschichte. Sie handelt von einem Mädchen, das im von Nazideutschland okkupierten Frankreich von jemandem versteckt wird, auf den andere nur herabblicken, und dem in einer Zeit unvorstellbarer Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit Menschlichkeit und Güte widerfährt. Doch so vertraut das klingen mag, die berührende Art, wie dies für die gesamte Familie geeignet umgesetzt ist, zeichnet das Drama nicht nur aus, es ist deshalb vielleicht einer der wichtigsten Filme des ganzen Jahres.
Angesiedelt ist White Bird, wie viele Geschichten der Autorin bislang, im selben erzählerischen Universum wie Wunder. Schüler Julian, der in jener Geschichte als Bully auftrat und einen Mitschüler auf Grund dessen Aussehen gehänselt und gepiesackt hat, musste die Schule verlassen und findet an seiner neuen bislang keinen Anschluss. Eingeladen, sich in einer Schulgemeinschaft für Soziale Gerechtigkeit zu engagieren, lehnt er ab und ist eher geneigt, sich jemandem anzuschließen, der die engagierten als „Verlierer“ bezeichnet. Als Julian nach Hause kommt, wartet dort nicht nur ein Abendessen im Kühlschrank, das seine Mutter ihm hinterlassen hat, sondern auch seine Großmutter Sara aus Paris, Frankreich, die für eine Rede zur Eröffnung einer Retrospektive nach New York gekommen ist. Als sie erkennt, dass Julian sein Verhalten nicht reflektiert, dessentwegen er der alten Schule verwiesen wurde, erzählt sie ihm die Geschichte ihrer Kindheit, die sie bislang kaum offenbart hat. Sie beginnt im Herbst des Jahres 1942, als Sara Blum als junges Mädchen die Schule in Aubervilliers-aux-Bois besucht, nördlich von Paris. Dass Frankreich von Nazideutschland besetzt ist, bemerkt sie kaum. Rückblickend bezeichnet sie sich sogar als verwöhnt, auch wenn ihre Eltern nicht reich, aber auch nicht arm waren. Obwohl sie in einem neutralen Gebiet leben, werden Jüdinnen und Juden zunehmend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Erst aus Geschäften, dann verliert ihre Mutter, eine Mathematik-Professorin, ihre Arbeit. Wie lange ihr Vater noch als Chirurg arbeiten kann, kann niemand sagen.
Anfangs zögerlich und doch unübersehbar kriecht der Antisemitismus in Saras alltägliches Leben, ehe sich die Ereignisse überschlagen, als deutsche Soldaten nicht nur in die Gemeinde einmarschieren, sondern beginnen, jüdische Menschen zu verhaften und zu deportieren. Durch die Augen eines Kindes, Saras Augen, mitzuerleben, wie sie und andere jüdische Kinder aus der Schule gerissen werden, fliehen und sich verstecken sollen, während Soldaten Jagd auf sie machen, ist beängstigend wie aufwühlend. Es ist ihr Klassenkamerad Julien, der Sara rettet und in einer Scheune neben dem Haus, in dem seine Eltern wohnen, versteckt. Denn in der Wohnung über seinen Eltern leben neugierige Nachbarn, die vermutlich Informanten der Nazis sind. Ins Haus zu gehen, oder die Scheune überhaupt zu verlassen, wäre lebensgefährlich. Dabei ist Julien kein Held. Er ist ein Junge, der selbst in der Schule gehänselt und ausgegrenzt wird, auf den alle herabblicken. Sein Vater arbeitet im Klärwerk und Julien selbst ist seit einer Erkrankung an Kinderlähmung geheingeschränkt.
Zuerst für Wochen, dann auf unbestimmte Zeit, wird diese Scheune zu Saras ganzer Welt, während sie weiterhin auf Neuigkeiten wartet, was mit ihren Eltern geschehen ist. Julien und seine Eltern kümmern sich um sie, versorgen sie mit Essen, Julien mit Materialien vom Unterricht. Es entwickelt sich eine Freundschaft, die in der größtmöglichen Dunkelheit Saras Leben erhellt. Regisseur Marc Forster beweist bei der sich entwickelnden Freundschaft dieser zwei Kinder ebenso viel Gespür und Feingefühl, wie bei den Gesprächen zwischen Sara und ihren Eltern zuvor. Die existenzielle Bedrohung des eigenen Lebens, macht White Bird für ein junges wie erwachsenes Publikum greifbar und zu sehen, wie einem jungen Mädchen, das sich auf das Leben freuen sollte, alles im genommen wird, einschließlich ihrer Hoffnung, ist erschütternd. Umso mehr, wenn sich auch unter den Kindern und Jugendlichen in dem französischen Dorf Kollaborateure der Nazis finden.
Doch anstatt sein Publikum damit allein zu lassen, findet die Geschichte warmherzige, hoffnungsvoll stimmende Momente, die die unbändige Kälte aufzuwiegen vermögen. Wenn Sara ihre Vorstellungskraft nutzt, um in der Scheune an fremde Orte zu reisen, beispielsweise. Oder wenn sie in Julien und seinen Eltern eine neue Familie findet. Getragen von zwei hervorragenden Darbietungen im Zentrum, Ariella Glaser als Sara und Orlando Schwerdt als Julien, sowie ergänzt durch Helen Mirrens Auftritt, der allein in der Art, wie sie spricht, ihrer Erzählung eine ganz eigene Ebene verleiht, sorgen viele Momente hier für Gänsehaut. Was diese Figuren mitansehen, erleben und erleiden, ist berührend und bewegend.
Selbst wenn White Bird den Horror des Zweiten Weltkrieges und die Verfolgung jüdischen Lebens nicht in all seinen grauenvollen Ausführungen beschreibt, die Bedrohung und scheinbare Ausweglosigkeit, der Sara und ihre Familie ausgesetzt sind, macht die Geschichte in jedem Moment begreiflich und eignet sich damit auch für ein jugendliches Publikum. Mag sein, dass die Aussagen, die getroffen werden, alle bekannt klingen und dass sich die Verantwortlichen im Mittelteil ein wenig zu viel Zeit nehmen. Auch ist es bedauerlich, dass eine englischsprachige Besetzung eine in Frankreich spielende Geschichte verkörpert, die in einem entscheidenden Moment auf ein geradezu fantasyartiges Element setzt. Doch das ändert nichts daran, dass man sich angesichts der Unmenschlichkeit, die hier dargestellt wird, keine dunklere Zeit vorstellen kann und dass es gerade heutzutage eine womöglich sogar wachsende Anzahl von Menschen gibt, die sich eben diese Zeit herbeisehnen, macht nur umso fassungsloser. Nicht nur deshalb sollte White Bird Pflichtprogramm in jedem Geschichtsunterricht sein. Offenbar reicht es nicht, über solche Schicksale zu lesen – hier kann man es miterleben. Vielleicht ist das Erlebnis auf diese Weise nachhaltiger. Einprägsam ist es in jedem Fall und gerade für junge Menschen ein guter Startpunkt, sich mit der lebenslangen Aufgabe, dieses Thema zu verinnerlichen, zu beschäftigen.
Fazit:
In einer Welt voller Hass braucht es Mut, um Güte zu zeigen. Die Botschaft, die Filmemacher Marc Forster seinem Publikum mit auf den Weg gibt, könnte aktueller und wichtiger kaum sein. Insbesondere durch seinen Schlusspunkt erscheint das Drama auf geradezu beängstigende Weise zeitgemäß. Durch die Augen eines Kindes erlebt man nicht nur Auswirkungen von Antisemitismus hautnah, sondern zu welcher Unmenschlichkeit ein solcher Hass führen kann. Erstklassig fotografiert und mit einem bewegenden Score von Thomas Newman untermalt, sind es die Darbietungen im Zentrum, die vom ersten Moment an packen. Die Geschichte der Figuren ist herzzerreißend und doch behutsam mit Feingefühl zum Leben erweckt. Inhaltlich wichtig und wertvoll, ist White Bird ein sehenswert starkes Plädoyer für die Menschlichkeit, voller Mut, gerade in dunklen Zeiten. Lebensbejahend trotz aller Tragik, lehrreich und bemerkenswert.