Vergiss Meyn nicht [2023]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 4. September 2023
Genre: Dokumentation

Laufzeit: 102 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl, Jens Mühlhoff
Musik: Antonio de Luca, Caroline Kox
Besetzung: Steffen Meyn, Alaska, Diam, Frodo, Lilie, Lola, Tuk, Wo


Hintergrund:

„Nur Dein Leben steht dagegen“. Es ist gewissermaßen Überzeugung und Mantra zugleich der Aktivistinnen und Aktivisten, die im Jahr 2018 mit ihrem eigenen Körper die Bäume im Hambacher Wald davor bewahren wollen, gefällt zu werden. Seit Herbst 2017 begleitet der junge Filmstudent Steffen Meyn die Bewegung im Forst, durchaus solidarisch, aber distanziert. Seine Begegnungen fängt er zumeist mit einer Kamera ein, die er an seinem Fahrradhelm befestigt. Nicht nur, dass er auf diese Weise Einblicke gewinnt, die es zuvor nicht gab, er lässt die Bewohnerinnen und Bewohner der Baumhäuser selbst zu Wort kommen und erläutern, was sie bewegt, sich auf diese Weise zu engagieren. Doch gewinnt Meyn auch Eindrücke dahingehend, welche Formen der Aktivismus mitunter annimmt. Als die Polizei den Forst räumt, kommt es nicht nur zu zahlreichen Festnahmen, sondern zu einem Sturz, der den erst 27jährigen Studenten sein Leben kostet. Um Interviews mit Aktivistinnen und Aktivisten, die mit ihm Kontakt hatten ergänzt, sind dies die Aufnahmen, die Steffen Meyn während seiner Zeit dokumentiert hat.


Kritik:
Es ist nicht klar, was Filmstudent Steffen Meyn zu finden glaubte, als er im Herbst 2017 begann, die Aktivistinnen, die sich in den Hambacher Wald zurückgezogen hatten, zu begleiten und zu beleuchten. Ausgestattet mit einer 360°-Kamera, die er auf einem Fahrradhelm montierte, näherte er sich diesen zurückgezogenen Gruppen, zeichnete Wünsche, Hoffnungen und Begegnungen auf, ehe er am 19. September 2018 an den Folgen eines Sturzes bei den Dreharbeiten starb. Vergiss Meyn nicht ist auch, wenngleich weniger, ein Porträt über ihn, als die Aktivisten. Und doch ist er eine Präsenz, deren Stimme man stets wahrnimmt – bis sie auf tragische Weise verstummt.

Es dauert etwas, bis man den ersten Eindruck des Dokumentarfilms einordnen kann, mit einem grob pixeligen Bild, das verdreht und in der Perspektive verzogen erscheint. Man blickt vom Boden in Richtung der Baumwipfel des Hambacher Forst, dort, wo sich Aktivistinnen und Aktivisten nicht erst seit Monaten, sondern seit Jahren verschanzen, um die weitere Abholzung durch den Energiekonzern RWE zu verhindern. Das Bild zeigt, was Meyns Helmkamera nach dem Sturz aufgezeichnet hat, wie sie von der Polizei aufgenommen und mitgenommen wird. Auf diesen tragischen Moment arbeitet Vergiss Meyn nicht hin und beginnt, unterbrochen durch Interviewpassagen mit Menschen, die Steffen Meyn einen Teil seines Wegs begleitet und ihn getroffen haben, ein Jahr zuvor, als der Filmstudent mit seinem Projekt begann, eine Dokumentation der Menschen im Hambacher Wald zu drehen. Selbst aus der Stadt kommend, hat er keinen wirklichen Bezug zu jener Gemeinschaft, die sich zurückgezogen hat, hoch in Baumwipfel in provisorisch errichteten Baumhäusern, und die regelmäßig durch polizeiliche Maßnahmen aufgerüttelt wird. Der Eindringling wird aufgenommen, womöglich, weil ihn nicht viel von den Aktivisten unterscheidet. Er ist ebenfalls jung, begegnet ihnen freundlich und bleibt beobachtend im Hintergrund, bis er akzeptiert wird. Da sich ein Großteil des Lebens im Wald in den Bäumen abspielt, lernt er, mit einer Kletterrüstung umzugehen und bewegt sich auch in den Baumwipfeln fort.

Die Einblicke, die die Filmschaffenden Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff so ermöglichen, gehen weit über das hinaus, was man ansonsten aus der Berichterstattung erfährt. Unmittelbar wird das Zusammenspiel der unterschiedlichen Dörfer der Gemeinschaft vermittelt, wie Aufgaben verteilt werden, wie verschieden die Philosophie und Anschauung der einzelnen Baumhausgruppen. Vergiss Meyn nicht lässt diese Personen zu Wort kommen, was sie motiviert, was sie tun und bereit sind zu tun, um die Bäume, die sie besetzen, zu beschützen. Sie schildern Polizeigewalt, die Meyn zum Teil selbst einfängt, mit welchen Taktiken die Ordnungshüter vorgehen, um die anarchische Gemeinschaft zu spalten, und wie die Aktivistinnen Repressionen entgehen wollen. Zu diesen Erkenntnissen tragen auch die Interviews bei, in denen junge Menschen reflektiert auf ihre Zeit im Hambacher Forst blicken, auf ihre Begegnungen mit Steffen Meyn und welche Wirkung dessen Tod auf sie persönlich hatte.

Auch der Blick des jungen Dokumentarfilmers selbst auf die Aktivisten bleibt trotz seiner Nähe zu ihnen und der vielen Zeit, die er mit ihnen verbracht hat, distanziert und kritisch. Das Fehlen einer zentralen Organisation der Bewegung hat zur Folge, dass die Gruppen in ihrer Überzeugung unterschiedlicher kaum sein könnten. Manche sind gewaltbereit, zerstören Straßen und errichten Barrikaden, andere wollen friedlich bleiben. Es ist ein Spannungsfeld, das nur größer wird, wenn die Einsatzleitung der Polizei höflich und verständnisvoll auftritt. Ob sich die Bewegung mit einer möglichen Gewaltbereitschaft nicht selbst im Weg steht, ihr Ziel zu erreichen, ist eine der Fragen, die Vergiss Meyn nicht aufwirft. Wie es genau zu dem Absturz kam, der den Tod des Filmstudenten zur Folge hatte, ist indes nicht wirklich von Belang.

Nichtsdestoweniger liegt dieser Schatten über der gesamten Erzählung. Zusammen mit der Frage, ob all dies nicht vermeidbar gewesen wäre. Gerade, um zu verstehen, weshalb es Menschen gibt, die sich hoch oben im Baum anketten, um zu verhindern, dass dieser gefällt wird, leistet Vergiss Meyn nicht einen wertvollen Beitrag. So unmittelbar und direkt wurde der Blick auf diese Gemeinschaft im Forst bislang keinem Publikum zugänglich. Anstatt den abholzenden Energiekonzern oder die Einsatzkräfte zu verteufeln und im Gegenzug die Aktivisten zu verherrlichen, lassen die Filmschaffenden die unterschiedlichen Seiten zu Wort kommen, ohne zu werten. Das macht es einem selbst nur schwerer, eine eindeutige Meinung zu der gesamten Thematik zu finden, selbst wenn diese Uneindeutigkeit tatsächlich ein Auszeichnungsmerkmal darstellt.


Fazit:
Sieht man, dass das Vorgehen der Einsatzkräfte bei der Räumung des Forstes rabiater, die Presse beispielsweise ausgeschlossen wird, könnte man ebenso vorschnell urteilen, wie wenn die Aktivisten zu Gewalt und Steinen als legitimes Mittel greifen. Denn der Blick hinter die „Kulissen“, die pressewirksamen Fotografien vermummter Gestalten im Hambacher Forst, verleiht dieser so diversen Gruppe an Menschen, die doch ein Ziel dorthin geführt und geeint hat, mehr als nur eine Stimme oder ein Gesicht. Es verleiht ihnen eine Legitimation, die man zuvor womöglich nicht gesehen hat und die sicher diskussionswürdig, aber nicht bedenkenlos wegzuwischen ist. Die Kritik der interviewten Aktivistinnen und Aktivisten an jener nicht homogenen Gemeinschaft, ihrer Aufgabenverteilung und Wertvorstellungen, ist unerwartet reflektiert. Welche Herausforderungen die Menschen im Wald erwarten, wird ebenso greifbar, wie die Konflikte, die ihnen auch untereinander begegnen und welche Gefahr von einer Gesellschaft ausgeht, in der es keine Regeln gibt, auf die sich alle geeinigt haben. In der zweiten Hälfte mag dies zu lang geraten sein, aber worauf der Dokumentarfilm zusteuert, ist erschütternd – nicht nur in Bezug auf den Tod des jungen Filmemachers Steffen Meyn, sondern auch, was bei der Räumung des Forstes geschieht. So ist Vergiss Meyn nicht mehr also nur ein Denk- oder Mahnmal, es ist ein so schwerer wie wichtiger Beitrag zur gesamten Debatte und ungemein aufschlussreich. Und einer, der lange nachwirkt.