One Life [2023]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 5. Februar 2024
Genre: Biografie / Drama

Originaltitel: One Life
Laufzeit: 112 min.
Produktionsland: Großbritannien
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: James Hawes
Musik: Volker Bertelmann
Besetzung: Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter, Lena Olin, Jonathan Pryce, Ziggy Heath, Romola Garai, Alex Sharp, Samantha Spiro


Kurzinhalt:

Es ist das Jahr 1989. Sein ganzes Leben lang engagiert sich der inzwischen 80jährige Nicholas Winton (Anthony Hopkins) für wohltätige Zwecke. Sei es Spendenaufrufe oder die Telefonseelsorge. Da seine Mitbringsel, von denen er hofft, sie irgendwann verwenden oder verschenken zu können, immer mehr werden, hält ihn seine Frau Grete (Lena Olin) an, auszumisten, so schwer es ihm fällt. Als er die vielen, vielen Unterlagen, die im Haus und in der Garage liegen, aussortiert, fällt ihm eine Aktentasche ins Auge, die er seit 50 Jahren aufbewahrt. Im Jahr 1938 entschloss sich Nicholas (Johnny Flynn), ein erfolgreicher Börsenmakler in London, gegen den Rat seiner Mutter Babi (Helena Bonham Carter), nach Prag zu reisen, wo in Folge der Annexion durch Deutschland unzählige Vertriebene aus dem Sudetenland eintreffen. Nachdem er die schlimmen Zustände in den Flüchtlingslagern gesehen hat, nimmt sich Nicholas vor, wenigstens die geflüchteten Kinder außer Landes zu bringen. Aber nicht nur, dass die betroffenen Jüdinnen und Juden Angst haben, ihre Personalien einem Fremden anzuvertrauen, könnten sie doch in die Hände der Nazis fallen, die bürokratischen Hürden, um selbst Kinder nach Großbritannien zu bringen, das keine Flüchtlinge aufnehmen will, sind enorm hoch. Dabei wird die Situation in Europa immer gefährlicher und das Zeitfenster für eine Rettung schließt sich rasch …


Kritik:
James Hawes’ One Life fühlt sich trotz des inhaltlichen Fokus weniger wie eine Nacherzählung einer ebenso wichtigen wie wenig bekannten Rettungsmission von jüdischen Kindern aus der von Nazideutschland zuerst in Teilen annektierten und dann besetzten Tschechoslowakei an, als ein Porträt des Mannes, der diese Mission ins Leben rief und nachhaltig prägte. Das heißt nicht, dass die Geschichte jener Kinder nicht bewegen würde, es ist nur vielmehr der gelungene Tribut an Nicholas Winton, der nachhaltiger berührt.

Im Jahr 1989 macht dieser sich auch auf Drängen seiner Frau Grete daran, die unzähligen Kisten und Unterlagen der vielen wohltätigen Beschäftigungen, denen der damals 80jährige in seinem Leben nachgegangen ist, auszusortieren. Immer wieder fällt sein Blick auf eine Aktentasche, die er seit einem halben Jahrhundert verwahrt und deren Inhalt ihn nicht losgelassen hat. Er erinnert sich daran, wie er sich im Jahr 1938 als wohlhabender Börsenmakler, dem es in London an nichts fehlte, entschloss, nach Prag zu reisen, um den dort ankommenden Flüchtlingen zu helfen. Nach Unterzeichnung des Münchner Abkommens, mit welchem das Sudetenland dem Deutschen Reich zugesprochen wurde, in der Hoffnung, den Expansionswillen Adolf Hitlers stillen und einen Krieg verhindern zu können, flohen die Menschen, insbesondere Jüdinnen und Juden, aus den von den Nazis besetzten Gebieten. Andere Länder wollten die Vertriebenen weder passieren lassen, noch sie aufnehmen. Als Nicholas die Zustände eines Flüchtlingslagers in der Tschechoslowakei mit eigenen Augen sieht, lassen ihn die verheerenden Eindrücke nicht mehr los. Er will sind engagieren, um wenigstens den Kindern die Flucht nach Großbritannien zu ermöglichen. Doch die Einwanderungsbehörde stellt grundsätzlich keine Visa aus und ohne britische Papiere können die Kinder nicht ausreisen.

Zu sehen, wie hoch die bürokratischen Hürden humanitärer Hilfe in einer Zeit größter Not für die Schwächsten aufgebaut werden, ist dabei so zermürbend zu beobachten, wie es inspiriert, mit welcher Überzeugung und welchem Durchhaltevermögen Winton und seine vielen Helferinnen und Helfer bemüht sind, Übermenschliches zu vollbringen. Denn auch in der Tschechoslowakei beginnen Nazis damit, Systemkritiker und jüdische Menschen zu verhaften und zu verschleppen. Ein Zustand, der mit Beginn der Besetzung nur umso schlimmer wird. One Life schildert in Worten, wie groß die Bedrohung insbesondere für Jüdinnen und Juden in der sich ständig ändernden Situation der Tschechoslowakei ist, was sie jedoch in der Gefangenschaft des Naziregimes erwartet, führt das biografische Drama nicht vor Augen. Der Horror des Zweiten Weltkrieges beschränkt sich auf die schlimmen Eindrücke der Flüchtlingslager und die Empathielosigkeit, mit der unmenschliche Bürokratie der Rettung von Menschenleben im Wege steht. Das ist kein Kritikpunkt, doch ein junges, unerfahrenes Publikum wird es entsprechend schwerhaben, die zunehmende Panik der Figuren und die geschichtliche Entwicklung des Fortschreitens der Naziherrschaft einordnen zu können.

Während Filmemacher James Hawes in einem Erzählstrang den Verlauf der Mission des „Britischen Komitees für Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei“ schildert, bei der Nicholas Winton regelrechte Bewerbungskarteien der zu rettenden Kinder anlegt, um den mitunter speziellen Wünschen der Pflegefamilien nachkommen zu können, die nur Kinder mit bestimmten Haarfarben oder in einem gewissen Alter aufnehmen wollen – ein Bedingung für die Einreise in Großbritannien ist, dass jedes Kind eine Pflegefamilie vorweisen kann, die bis zu dessen 17. Lebensjahr für es sorgen wird – begleitet ein weiterer Winton im Jahr 1989. Nach einem halben Jahrhundert, in dem ihn die Eindrücke jener Zeit nie losgelassen haben, will er die Geschichte jener Kinder bekannt machen. Doch die Presse scheint anfangs nicht interessiert und in einem Museum würden die Aufzeichnungen, die er behalten hat, zu wenig Beachtung finden. Die Erzählung führt zu einer Ausstrahlung des BBC-Magazins „That's Life!“, die in gewisser Hinsicht One Life am treffendsten widerspiegelt.

Denn auch wenn die emotionale Wucht dieses Moments unvermittelt trifft, er ist doch ebenso manipulativ wie der dramaturgische Aufbau jenes Magazins selbst. Das heißt nicht, dass die Wirkung ausbleiben würde, nur lenkt der Augenblick, wie auch One Life selbst, die Aufmerksamkeit auf den Mann, der für die Rettung dieser Kinder verantwortlich zeichnet, anstatt auf die Geretteten, oder die Rettungsaktion im Allgemeinen. Es mag sich wie eine Detailfrage anhören, doch die letzten 20 Minuten von Hawes’ durchaus ehrlicher und aufrichtiger Würdigung von Nicholas Wintons Leben sind bewegender, als das Schicksal der vertriebenen und um ihr Leben fürchtenden Kinder und Erwachsenen in den eineinhalb Stunden zuvor. Es schmälert nicht die Bedeutung der Erzählung oder ihre ermutigende Aussage, aber man kann kaum anders, als sich zu fragen, ob bei der Verfilmung dieses beeindruckenden Lebenswerks nicht mehr Platz für diejenigen gewesen wäre, deren Leben der „Britische Schindler“, wie er auch genannt wird, gerettet hat.


Fazit:
In einer seiner nuanciertesten, ergreifendsten Darbietungen erweckt Sir Anthony Hopkins Nicholas Winton als einen Mann voller Demut und Bescheidenheit zum Leben, er nicht voller Stolz darauf zurückblicken kann, wie viele der 2.000 Kinder auf seiner Liste er retten konnte, sondern der auch ein halbes Jahrhundert später noch von dem Wissen heimgesucht wird, bei wie vielen ihm dies nicht gelang. Dem Lebenswerk jenes britischen Börsenmaklers mit deutsch-jüdischen Wurzeln setzt Regisseur James Hawes ein Denkmal, das nicht unbedingt auf Grund der Schicksale der Kinder und Familien, die er vorstellt, in Erinnerung bleibt, sondern auf Grund der Leistungen eines Mannes, der zusammen mit den Menschen in seinem Umfeld mehr bewirken konnte, als man sich selbst je zutrauen würde. So erscheint die starke Geschichte trotz ihrer eindrucksvollen Umsetzung doch in gewisser Hinsicht unvollständig. Das ändert nichts daran, dass One Life eine wichtige, inspirierende und viel zu selten gehörte, wahre Begebenheit anschaulich und greifbar zum Leben erweckt. Gerade in einer Zeit, in der es einfacher scheint, wegzuhören und die Augen vor Unmenschlichkeit zu verschließen, ist es umso aufrüttelnder und ermutigender, das Porträt eines Mannes zu sehen, der sich, ohne Kompromisse einzugehen oder einen eigenen Vorteil davon zu versprechen, weigerte, wegzusehen. Bewegend, warmherzig und wertvoll!