Gefangen im Netz [2020]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 10. September 2020
Genre: Dokumentation

Originaltitel: V síti
Laufzeit: 100 min.
Produktionsland: Tschechien
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Barbora Chalupová, Vít Klusák
Musik: Pjoni
Personen: Sabina Dlouhá, Anežka Pithartová, Tereza Těžká


Hintergrund:

Weit mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen heute hat bereits Erfahrungen mit dem Internet. Viele sind auch in sozialen Netzwerken vertreten, spätestens, wenn Mitschülerinnen und Mitschüler dies vorleben. Doch mit der Präsenz im Internet lauern auch Gefahren. Beim sogenannten „Cyber Grooming“ machen sich erwachsene Männer die Unerfahrenheit von jungen Menschen im Internet zunutze. Für die Dokumentation engagierten die Filmemacher drei junge Schauspielerinnen, die sich als 12- bis 13jährige Mädchen im Internet ausgeben sollten. Sie erstellten Profile bei Sozialen Netzwerken, nachdem für sie in einem Studio ein Kinderzimmer eingerichtet wurde. Was dann geschah, bestimmten diejenigen, die mit den vermeintlichen Mädchen Kontakt aufnahmen. Spätestens beim ersten Videochat wurden die meisten jener Männer zu Tätern.


Kritik:
Hat man die tschechische Dokumentation Gefangen im Netz von Barbora Chalupová und Vít Klusák gesehen, möchte man sich am liebsten unter die Dusche stellen, in der Hoffnung, das Gesehene abwaschen zu können. Sich etwas mehr als eineinhalb Stunden mit dem Thema zu beschäftigen, ist derart zermürbend und erschreckend, dass man sich kaum vorstellen mag, wie es den Beteiligten der Produktion ergangen sein mag. Herausgekommen ist ein Blick auf die nur schwer greifbare und doch überaus reale Bedrohung von Kindern und Jugendlichen durch Sexualstraftäter im Internet. Wer denkt, man könne sich gut vorstellen, wie die Realität aussieht, wird an der Wirklichkeit vermutlich verzweifeln.

Die Filmemacher beginnen ihre Reportage mit Statistiken, die besagen, dass beinahe zwei Drittel der tschechischen Kinder im Internet unterwegs sind, untermalt von Bildern, in denen man Kinder aller Altersklassen, von Jugendlichen bis Kleinkinder, mit einem Smartphone in der Hand gezeigt bekommt. Beinahe die Hälfte von ihnen hat bereits pornografische Nachrichten erhalten. Ziel der Dokumentation ist es, das sogenannte „Cyber Grooming“ zu beleuchten, bei dem erwachsene Männer die Unwissenheit oder gar Naivität von jungen Menschen im Internet für ihre eigenen sexuellen Neigungen ausnutzen. Hierfür casten Chalupová und Klusák drei junge Frauen, die im Rahmen der Dokumentation als 12- oder 13jährige mit entsprechenden Profilen im Internet auftreten sollen. Zum Vorsprechen sind insgesamt 23 Frauen erschienen, von denen 19 berichten, dass sie selbst bereits Opfer von sexueller Belästigung im Internet im Jugendalter gewesen sind.

Für alle drei junge Frauen wird ein Zimmer in einem Studio hergerichtet, das das Schlafzimmer der „Mädchen“ zeigen soll. Sie alle erstellen Profile bei Internetanbietern. Nur fünf Minuten, nachdem für ‚Michaela‘ als 12jähriges Mädchen das Profil eingerichtet ist, hat sie bereits 16 Nachrichten im Postfach. Worauf es die Männer, die sie kontaktieren, abgesehen haben, ist vom ersten Moment an klar. Der erste Mann, der mit ihr Chattet und das Video einschaltet, befriedigt sich selbst und filmt dabei sein Geschlechtsteil. In dem Glauben, dass ihm eine 12jährige dabei zusieht. Es ist ein Moment, der die Schauspielerin wie das Publikum gleichermaßen fassungslos zurücklässt.
Dabei haben die Macher von Gefangen im Netz klare Regeln festgelegt. So soll u.a. der Kontakt nicht durch die „Mädchen“ aufgebaut werden, sie dürfen die Anrufenden auch nicht ermuntern und sollen ausweichend reagieren, wenn diese sie auffordern, etwas vor der Kamera zu tun. Das geschieht regelmäßig, sie verlangen von den Mädchen, sich vor der Kamera auszuziehen, oder ihnen Bilder zu übersenden. Viele der Anrufer, die hier gezeigt werden, sind einzig auf ihre eigene Befriedigung aus. Allein, dass die Mädchen ihnen zusehen, ist für sie Ansporn genug, die Mädchen nicht mehr als eine Masturbationsvorlage.

Begleitet wurde Gefangen im Netz von einer Psychologin, einer Sexologin, ebenso wie einem Anwalt und der Polizei. Berichten zufolge, ist der Dokumentarfilm nicht nur der mistgesehene Tschechiens, sondern zieht mit bislang in etwa zwei Dutzend Ermittlungen ein immenses Nachspiel mit sich. Sieht man die im Vorfeld informierten und im Nachgang betreuten Beteiligten am Set, wie sie nach den zahlreichen Videoanrufen, in denen die Anrufenden onanieren, fassungslos dasitzen, mag man sich nicht vorstellen, was diese Eindrücke mit Kindern anrichten. Geschweige denn, welche Reaktionen sie hervorrufen. Dass die Täter hier verpixelt dargestellt sind, schmälert nicht die Unmenschlichkeit dessen, was gezeigt wird. Zu sehen, wie perfide die Täter vorgehen, wenn einer mit allen drei Mädchen Kontakt aufnimmt, immer auf dieselbe Art und Weise, dabei charmant und freundlich bleibt, aber nachdrücklich und nachhaltig auffordert, sie mögen sich ausziehen, ist erschütternd. Dass der Täter einer Person der Filmcrew bekannt ist, und Ferienlager sowie Skiausflüge mit Kindern und Jugendlichen organisiert, macht schlicht fassungslos.

In geringem Maße zeigen Chalupová und Klusák auf, dass die Täter mit unterschiedlichen Methoden vorgehen. Von den älteren Männern, die sich an die Opfer herantasten, bis hin zu denjenigen, denen es einzig um die unmittelbare eigene Befriedigung geht. Doch es gibt auch andere, die den Mädchen einreden, ihre persönliche Erregung würde ihnen Schmerzen bereiten und die Mädchen wären schuld, wenn sie sich nicht ausziehen würden und so dafür sorgen, dass er sich befriedigen könne. So wird den Opfern die Schuld gegeben und man will nicht wissen, wie oft diese verabscheuungswürdige Masche in Wirklichkeit funktioniert. Gefangen im Netz schildert ebenso die weiteren Eskalationsstufen, wenn die Mädchen mit ihren Nacktfotos erpresst werden, immer mehr zu tun, da ansonsten die Aufnahmen veröffentlicht oder der Schule bzw. den Eltern übersandt würden. Und auch, was geschieht, wenn sich die Mädchen auf Treffen einlassen mit den Männern, in speziell präparierten Cafés. Männer, die wenigstens doppelt so alt sind, wie die vermeintlichen 12jährigen. Oder weit über 50 oder 60 Jahre alt.

So schockierend das Gezeigte ist, die Dokumentation beschäftigt sich ausschließlich mit diesem Aspekt, macht es sich zur Aufgabe zu zeigen, was vor allem jungen Menschen im Internet widerfahren kann. Die Macher wagen keine Analyse, suchen nicht nach den Ursachen. Die Psychologin meint in einem Moment, dass die Täter nicht pädophil seien, da Pädophilie etwas anderes zum Ziel habe. Was sie sind, vermag sie jedoch auch nicht zu sagen. Dabei wäre es wichtig, hier nachzufragen, oder auch genauer zu beleuchten, was diese Erfahrungen mit den Opfern anrichten. Dies blendet Gefangen im Netz vollkommen aus und stellt auch keine möglichen Lösungen oder Hilfen für die Opfer, die Mädchen wie Jungen sein können, in Aussicht. In Tschechien wurde die Dokumentation auch in einer speziellen Version für Kinder veröffentlicht, um als Aufklärungsfilm zu dienen. Als solche ist sie besser gedacht, denn als umfassender Blick auf diese Entmenschlichung, der sich die Opfer hier ausgesetzt sehen.


Fazit:
Teilt der beteiligte Anwalt den drei jungen Schauspielerinnen mit, dass sie die tiefsten Abgründe zu sehen bekommen, die er selbst je erlebt hat, klingt er ebenso aufrichtig wie resigniert. In der kurzen Zeit des Drehs haben beinahe 2.500 Männer die Opfer angesprochen. Zweieinhalb Tausend Sexualstraftäter, die drei 12jährige Mädchen ins Visier genommen haben. Dass immerhin ein positives Beispiel dabei ist, sorgt dafür, dass das Publikum den Glauben an die Menschheit nicht vollständig verliert. Denn diese unmenschlichen Abscheulichkeiten spielen sich nicht in einer Parallelwelt oder im Darknet ab, sondern in regulär zugänglichen Sozialen Medien wie Facebook, bei Videochat-Anbietern wie Skype, die offenbar nicht genügend Mechanismen etablieren, um diese Verbrechen zu unterbinden. Werden die Täter angesprochen, lässt sich entweder überhaupt kein Unrechtsbewusstsein erkennen, oder wenigstens keines, das Hoffnung macht, es würde sich etwas an der Situation ändern. Gefangen im Netz ist schwer durchzuhalten für alle Menschen, die wenigstens einen Funken Anstand oder Schamgefühl besitzen. So wütend das Gezeigte macht und so erschreckend das schiere Ausmaß des geschilderten sexuellen Kindesmissbrauchs im Internet ist, dass die Filmemacher Barbora Chalupová und Vít Klusák den Opfern keinen Platz geben und keine Möglichkeiten aufzeigen, diese Verbrechen einzudämmen, ist ein Versäumnis, das nicht nur schwer wiegt, sondern die Dokumentation nur schwerer erträglich macht. Wichtig ist sie leider dennoch.