Der Sommer mit Anaïs [2021]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 9. Juni 2022
Genre: LiebesfilmOriginaltitel: Les Amours d'Anaïs
Laufzeit: 98 min.
Produktionsland: Frankreich
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung
Regie: Charline Bourgeois-Tacquet
Musik: Nicola Piovani
Besetzung: Anaïs Demoustier, Valeria Bruni Tedeschi, Denis Podalydès, Jean-Charles Clichet, Anne Canovas, Bruno Todeschini, Xavier Guelfi, Christophe Montenez, Annie Mercier, Grégoire Oestermann
Kurzinhalt:
Studentin Anaïs (Anaïs Demoustier) ist immer in Bewegung, privat wie beruflich auf dem Sprung, was womöglich auch die Ursache ist, weshalb sie nichts zu Ende bringt. Just mit ihrem Freund Raoul (Christophe Montenez) in Paris zusammengezogen, hat sie ihn wieder vor die Tür gesetzt. Zusammenleben, mit jemandem einschlafen und aufwachen, ist nichts für sie, selbst wenn sie die Beziehung, die sie sehr locker sieht, aufrechterhalten möchte. Bei einer Feier lernt sie den Verleger Daniel (Denis Podalydès) kennen, der hinsichtlich des Alters ihr Vater sein könnte. Sie beginnt eine kurze Affäre mit ihm, ist jedoch stärker an Daniels Lebensgefährtin interessiert, der Autorin Emilie (Valeria Bruni Tedeschi). Nachdem sie eines ihrer Bücher gelesen hat, ist Anaïs der Überzeugung, dass sie und Emilie sich sehr ähnlich sind, selbst wenn Emilie in Wirklichkeit fokussiert und zielstrebig ist. Als sie die Schriftstellerin zufällig trifft, wird Anaïs’ Welt auf den Kopf gestellt und sie ist fest entschlossen, Emilie näher kennenzulernen. Wohin das führen soll, weiß sie zwar nicht, doch entwickelt sich zwischen den Frauen mehr, als beide zugeben wollen …
Kritik:
In ihrem Spielfilmregiedebüt Der Sommer mit Anaïs erzählt Filmemacherin Charline Bourgeois-Tacquet von der ebenso impulsiven Flatterhaftigkeit der Jugend wie deren unbändiger Anziehungskraft. Aber auch von ihrer Unsicherheit und Egozentrik. Sie bettet dies in eine so elektrisierende wie leuchtend charmante Erzählung ein, getragen von zwei bemerkenswerten Darbietungen im Zentrum. All das sind Stärken des europäischen Autorenkinos – oder dessen Schwächen, abhängig von der eigenen Einstellung dazu.
Eine bessere Vorstellung für die von Anaïs Demoustier gespielte Hauptfigur gleichen Vornamens kann man sich dabei kaum vor Augen führen. Wie so oft rennt sie zu ihrem Ziel, ist zeitlich spät dran und hat überdies die Hälfte dessen vergessen, was sie im Grunde erledigen sollte. Die 30jährige Studentin hat sich von ihrem Freund quasi getrennt. Das heißt, getrennt sind sie nicht, er musste aber ausziehen, weil sie ungern mit anderen Menschen einschläft. Vielleicht, weil es sie so einengt wie ihre Klaustrophobie, dank derer sie lieber 16 Stockwerke nach oben hechtet, auch wenn der Blumenstrauß, den sie in der Hand hat, den Aufstieg kaum übersteht. Nachdem ihr Freund Raoul ausziehen musste, kann sie ihre Miete nicht bezahlen und vertröstet die Vermieterin mit allen möglichen Ausreden. Raoul eröffnet sie auch nebenbei, dass sie schwanger ist, weil sie wohl einmal für eine gewisse Zeit vergaß, die Pille zu nehmen. Doch für sie ist das kein großes Thema, sie wird „es“ sowieso abtreiben lassen, immerhin will sie keine Kinder. Das Wort, das Anaïs am meisten benutzt, und das stets im Zentrum ihres Handelns steht, ist „ich“. Selbst als ihre Mutter einen Rückfall erleidet und wieder an Krebs erkrankt, stellt sich Anaïs selbst in den Mittelpunkt. Sie möchte nicht verlassen werden oder, dass ihr Leben durch den Tod ihrer Mutter traurig wird.
Wenn man dies hört, scheint Anaïs wie eine schreckliche Person und tatsächlich ist sie die Art Mensch, die anderen in ihrem Leben nicht guttut. Und doch versprüht ihr wirbelwindartiges Auftreten einen unvergleichlichen Charme. Sie nimmt jeden Moment für sich ein, liebt – wenn sie es tut – mit einer überspringenden, an Besessenheit grenzenden Leidenschaft und auch ihr Blick auf die Welt verheißt trotz ihrer selbst auferlegten Wehmut eine durch ihren Bezug auf den Moment beherrschende Unbeschwertheit, die man nur in jungen, stürmischen Jahren verspüren kann. Über eine Affäre mit dem deutlich älteren Daniel, ein Verleger und Freund gemeinsamer Freunde, wird sie auf dessen Lebensgefährtin Emilie aufmerksam. Weiß Anaïs mit 30 immer noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen möchte, beendet nichts, was sie beginnt, am wenigsten ihr Studium, bei dem sie ihren Dozenten mutwillig im Stich lässt, als er sich auf sie verlassen hatte, ist Emilie das genaue Gegenteil. Die Mittfünfzigerin ist eine etablierte Schriftstellerin, ruhig und besonnen, mit einer eher introvertierten Ausstrahlung. Und doch glaubt Anaïs, sie seien sich ähnlich. Daher sucht sie Emilies Nähe, als sie ihr zufällig begegnet, schreibt sich in einem Kolloquium für Autorinnen und Autoren ein und gibt sich aufdringlich Mühe, Emilie kennen zu lernen. Nicht nur, dass Anaïs dafür ihre Arbeit als Studentin und ihr gesamtes Studium gefährdet, wie gut sie Emilie kennenlernen möchte, weiß sie selbst nicht genau.
Im Zuge dessen wandelt Bourgeois-Tacquet den erzählerischen Rhythmus und die Ausrichtung von Der Sommer mit Anaïs. Ist die erste Filmhälfte geradezu getrieben davon, dass Anaïs keine Sekunde stillsitzen kann, nicht einmal beim Besuch bei ihren Eltern und zieht ihren Unterhaltungswert hauptsächlich aus dem leichten alltäglichen Humor, wenn Anaïs mit einer geradezu entblätternden Unverblümtheit argumentiert, ändert sich die Tonlage in der zweiten Hälfte. Dann rückt die Filmemacherin in ihren warmen Farben und den Aufnahmen aus alltäglichen Situationen die beiden so unterschiedlichen Frauenfiguren ins Zentrum. Emilie, die lange nur angekündigt wird und nicht zu sehen ist, erscheint wie ein Gegenpol zu Anaïs, weniger wie eine reifere, gesetztere Version von ihr. Die Anziehung zwischen diesen Frauen, die von Anaïs’ Seite aus früh existiert, sich bei Emilie jedoch erst entwickelt, ist mit Händen zu greifen. Und doch ist all das, wie der Titel gebende Sommer, vergänglich. Der Abschluss, den die Regisseurin wählt, lässt sich in vielerlei Hinsicht interpretieren und weiterspinnen. Dabei bringt er beide Seiten von Anaïs treffend auf den Punkt: Den Status quo nicht akzeptieren zu wollen – und dabei die Wünsche anderer nicht zu berücksichtigen.
Fazit:
Die Titelfigur Anaïs vereint in sich eine geradezu unaufhaltsame Entschlossenheit mit einer Leichtigkeit bei ihrem Blick auf die Dinge und einer schweren Wehmut. Aber auch wenn diese Eigenschaften klingen, als würden sie es schwierig machen, ihr auf ihrer Reise folgen zu wollen, tatsächlich machen sie Anaïs’ gegensätzliche Anziehungskraft aus. Filmemacherin Charline Bourgeois-Tacquet gibt ihren Figuren Raum, sich zu entfalten und zu finden. Ist ihre Titelfigur anfangs immer laut, färben Emilies Stille und ihre bedachte Art schließlich ab, so dass Vieles in der zweiten Filmhälfte ohne Worte gesagt wird, sondern mit Blicken und flüchtigen Berührungen. Der Sommer mit Anaïs ist ein sinnlicher, warmer Film, der seine zentralen, gegensätzlichen Figuren auf der Suche nach sich selbst begleitet. Ihre elektrisierende Chemie überträgt sich über die Leinwand hinweg, selbst wenn es den Anschein hat, als wäre ihre Geschichte am Schluss nicht an einem Ende angekommen. Fantastisch gespielt, ist das ein sehenswertes Porträt für ein Publikum, das bereit ist, sich auf einen solchen Sommer einzulassen. Es lohnt sich allemal.