Anatomie eines Falls [2023]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 6. Januar 2025
Genre: Drama / Krimi

Originaltitel: Anatomie d’une chute
Laufzeit: 151 min.
Produktionsland: Frankreich
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Justine Triet
Besetzung: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado-Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis, Jehnny Beth, Saadia Bentaïeb, Camille Rutherford, Anne Rotger, Sophie Fillières, Messi


Kurzinhalt:

Als der sehbeeinträchtigte, elfjährige Daniel (Milo Machado-Graner) nach einem Spaziergang mit seinem Hund zurückkehrt, findet er seinen Vater Samuel (Samuel Theis) im Schnee vor dem Chalet liegen. Seine herbeigerufene Mutter Sandra (Sandra Hüller) ruft den Notarzt, aber es ist zu spät. Es scheint, als sei Samuel aus dem Fenster im Dachgeschoss gestürzt und habe sich tödlich am Kopf verletzt. Doch könnte die Wunde auch durch den Schlag mit einem schweren Gegenstand entstanden und Samuel erst danach in die Tiefe gestürzt sein. Da es unmittelbar vor Samuels Tod eine unschöne Situation im Haushalt gab, als eine Studentin die erfolgreiche Autorin Sandra interviewen wollte und die Polizei eine Tonaufnahme findet, die einen Streit zwischen Sandra und ihrem Mann beinhaltet, wird Sandra angeklagt. Ihr Anwalt Vincent Renzi (Swann Arlaud), den sie von früher kennt, verteidigt sie vor Gericht. Doch je mehr Details aus der Ehe vor Gericht ausgebreitet werden, umso schwerer fällt es selbst Daniel zu sagen, was geschehen ist …


Kritik:
Filmemacherin Justine Triet erzählt in Anatomie eines Falls mehr als die juristische Aufarbeitung eines unerklärlichen Todesfalls. Das Drama seziert außerdem die Dynamik einer Beziehung mit einer geradezu übergroßen Persönlichkeit, in welcher der andere Partner kaum zu sehen ist. Gleichzeitig stellt die Regisseurin Geschlechterrollen auf den Kopf und präsentiert eine Symbolik und Bildersprache in den Figuren sowie den Einstellungen, dass man dies stundenlang analysieren könnte, es aber vor allem für eines sorgt: ein ungemein packendes Drama.

In dessen Zentrum steht die Autorin Sandra Voyter, die mit ihrem Ehemann Samuel Maleski und ihrem gemeinsamen elfjährigen Sohn Daniel in einem Chalet in Grenoble in den französischen Alpen lebt. Es ist der Heimatort ihres Mannes, wohin sie mit ihm gezogen ist, nachdem das Leben in London für sie zu teuer wurde. Als Sandra von einer Studentin interviewt wird, beginnt Samuel im Dachgeschoss des bei weitem nicht fertig sanierten Hauses laute Musik abzuspielen. So laut, dass sie das Interview abbrechen. Wenig später, als Daniel, dessen Sehkraft nach einem Unfall stark beeinträchtigt ist, von einem Spaziergang mit dem Hund Snoop zurückkehrt, liegt Samuel tot vor dem Haus. Eine Wunde am Kopf könnte darauf hindeuten, dass er tödlich verletzt wurde, bevor er vom Balkon fiel – oder dass er sich die Wunde beim Sturz aus dem Dachgeschoss zugezogen hat. Nachdem Tonaufnahmen gefunden werden, die Streit in der Ehe belegen, wird Sandra angeklagt. Ein Jahr später stellt sie sich mit ihrem Anwalt Vincent, den sie von früher kennt, einem Prozess, in dem nicht nur ihre Ehe, sondern auch sie selbst und ihre Persönlichkeit ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden.

Die Frage, die bei Anatomie eines Falls dabei verständlicherweise im Raum steht, lautet, was ist geschehen? Ist Sandra eine Mörderin, oder unschuldig? Könnte sie auch keines von beidem sein? Filmemacherin Justine Triet behält sich eine Antwort auf diese Fragen zu Beginn bewusst vor. Es gibt zahlreiche Augenblicke noch vor oder während des Prozesses, in denen man der Auffassung sein könnte, dass Sandras Schilderungen jenes Tages Lücken oder Ungereimtheiten aufweisen, die sie wenigstens verdächtig erscheinen lassen. Doch dann kommen Details über Samuels Vergangenheit ans Licht, die unter anderem mit Daniels Unfall zusammenhängen und wiederum nahelegen könnten, dass der Dozent und gescheiterte Autor, der seit Jahren Antidepressiva nahm, sich selbst das Leben genommen haben könnte. Bezeichnend ist dabei, welche Rolle die verschiedenen Zeugen und Personen im Prozess erfüllen. Angefangen vom Staatsanwalt über dessen berufene, männliche Sachverständige, sind diese allesamt der Auffassung, dass Sandra schuldig ist. Dem stehen die weiblichen Zeugen und Expertinnen gegenüber, die Sandras Unschuld unterstreichen.

Zwischen ihnen steht Daniel, der den Prozess mitverfolgt und in dessen Verlauf ihm zahlreiche Details der Ehe seiner Eltern bekannt werden, über die er nichts wusste. Angefangen von den Medikamenten, die sein Vater einnahm, über Seitensprünge einer seiner Eltern. In vielerlei Hinsicht befindet sich Daniel in derselben Situation wie das Publikum, das all diese Informationen zum ersten Mal hört. Wird er am Ende in den Zeugenstand berufen und gibt seine Einschätzung der Ereignisse zu Protokoll – sehbeeinträchtigt wie Justizia mit der Augenbinde selbst – ist das Publikum aufgefordert, es ihm gleich zu tun. Käme man zu demselben Ergebnis? Anatomie eines Falls überlässt die Beantwortung dieser Frage einer bzw. einem jeden einzelnen nach der Aufarbeitung jener Ehe, in der die berufliche Erfüllung einer Person mit der Frustration und Bitterkeit der anderen unmittelbar zusammenhängen. Wäre Samuel erfolgreich gewesen, hätte man von Sandra zweifellos erwartet, dass sie sich um den Haushalt und den gemeinsamen Sohn kümmert, der insbesondere auf Grund seiner Beeinträchtigung entsprechend Aufmerksamkeit erfordert. Hier nun sind die Rollen vertauscht, doch macht dies Sandra zu einer kaltherzigen Karrieristin?

Dass dies nicht einfach zu beantworten ist, liegt unter anderem an der preisgekrönten und unbeschreiblich intensiven Darbietung von Sandra Hüller. Als zielstrebige Autorin wirkt ihre Figur unterkühlt, in Erinnerung an ihren verstorbenen Mann geradezu beschützend. Über allem jedoch steht ein Streit, der den Höhepunkt des Dramas markiert. Anfangs defensiv, erscheint Sandra im Verlauf beinahe, als würde sie Verachtung für ihren Mann empfinden, der sein Talent nicht nutzt, bis der Streit in einer rasenden Vehemenz mündet, bei der einem beim Zusehen bereits merklich warm wird. Es ist eine herausragende Verkörperung, die unter die Haut geht und einmal mehr das Pendel der Sympathie in die andere Richtung schlagen lässt. Selbst dann, wenn Sandra anmerkt, dass ein solcher Moment nicht repräsentativ für eine ganze Beziehung sei.

In diese gibt Anatomie eines Falls Einblicke und überlässt es dem Publikum, das Bild zu vervollständigen. Erstklassig in Szene gesetzt und von einer tollen Besetzung sehenswert zum Leben erweckt, ist dies mehr Drama als Krimi, was die ruhig präsentierte Geschichte in ihrer Wirkung nicht schmälert. Lässt man sich darauf ein, kann man hier viele Details entdecken. Mehr noch, wenn man sich vor Augen führt, dass die originale Sprachfassung in französisch und englisch gehalten ist, Sandra also vor der französischen Justiz zusätzlich mit der Sprachbarriere zu kämpfen hat, was ihre Verunsicherung bei manchen Antworten nur noch unterstreicht. Dem beizuwohnen, ist ungemein packend, umso stärker, wenn die eigene Antwort auf die alles entscheidende Frage nicht so leicht zu treffen ist, wie man gern möchte.


Fazit:
Die unumstritten tragischste Figur in Justine Triets Drama ist der beim Prozess zwölf Jahre alte Daniel, stark gespielt von Milo Machado-Graner. Je mehr Details er aus der Ehe seiner Eltern hört, umso mehr gerät alles ins Wanken, was er zuvor über sie zu wissen glaubte. Dass seine Mutter mit ihm nicht über den Prozess sprechen darf, macht es nur schlimmer, aus alledem einen Sinn zu machen. Anatomie eines Falls versetzt das Publikum in seine Situation und lässt es dennoch durch Sandras Augen erleben, wie sie den Prozess in einem Land erlebt, dessen Sprache nicht ihre Muttersprache ist. Fantastisch ergreifend verkörpert und erstklassig in Szene gesetzt, bietet das Drama, das innerhalb eines Gerichtsprozesses im Nachgang eine alles andere als einfache Beziehung schmerzhaft analysiert, auch dank der Bildersprache viel zu entdecken. Das mag sich nur Zuseherinnen und Zusehern erschließen, die bereit sind, sich auf eine solch ruhige Erzählung einzulassen, doch das ist nicht als Kritikpunkt zu verstehen, ganz im Gegenteil. Klasse!