A Real Pain [2024]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 27. November 2024
Genre: Komödie / Drama

Originaltitel: A Real Pain
Laufzeit: 90 min.
Produktionsland: Polen / USA
Produktionsjahr: 2024
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Jesse Eisenberg
Besetzung: Jesse Eisenberg, Kieran Culkin, Will Sharpe, Jennifer Grey, Kurt Egyiawan, Liza Sadovy, Daniel Oreskes, Ellora Torchia


Kurzinhalt:

Ein halbes Dutzend Mal ruft David (Jesse Eisenberg) seinen Cousin Benji (Kieran Culkin) an, noch bevor sich die beiden am Flughafen treffen. Sie fliegen von New York nach Polen, um dort mit einer Reisegruppe ihre jüdischen Wurzeln zu erkunden und in diesem Zuge das Zuhause ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter zu besuchen. Es ist das erste Mal seit einem halben Jahr, dass sich die beiden überhaupt wiedersehen, obwohl sie einst wie Brüder unzertrennlich waren. Aber nicht nur, dass sie sich merklich von einander entfernt haben, ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten und wie sie ihr Leben leben, macht die Kluft zwischen ihnen nur größer. Hat David inzwischen Familie und einen geregelten Job, sieht sich Benji als einen das „kapitalistische System“ kritisierenden Außenseiter. Einen Job hat er nicht und auch kein Bestreben, einen aufzunehmen. Die Reisegruppe lernt dabei beide Seiten von Benji kennen, die David so zwiespältig auf seinen Cousin blicken lassen. Einerseits den einnehmenden, aufgeschlossenen und empathischen jungen Mann – und dann denjenigen, der kurz darauf alle Menschen um sich herum in ein tiefes Loch reißt …


Kritik:
Der zweite Spielfilm von Filmemacher Jesse Eisenberg wagt sich an ein schwieriges Thema und seine Aussage ist überaus schwer zu greifen. Das mag auch daran liegen, dass die Geschichte von A Real Pain eine eindeutige Auflösung, ein Ziel, das die Figuren erreichen, vermissen lässt. Im Zentrum steht vielmehr ihre Reise und welche Erkenntnisse sie dabei gewinnen. Getragen von einer starken und einer herausragenden Darbietung, richtet sich die Dramödie an ein kleines Publikum, das aber nicht enttäuscht wird.

Sie erzählt von den beiden Cousins David und Benjamin „Benji“ Kaplan, die von New York City aus gemeinsam zu einer Herkunftstour nach Polen aufbrechen. Die beiden jungen, jüdischen Männer wollen ihre familiären Wurzeln erkunden und unter anderem das Haus ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter besuchen. Noch bevor sie überhaupt in Warschau ankommen oder auf die anderen vier Teilnehmenden ihrer Reisegruppe nebst -führer James treffen, treten die Unterschiede zwischen David und Benji zutage. Ihre Reise konfrontiert sie dann nicht nur mit ihrer jüdischen Geschichte, sie müssen sich auch einander stellen und dem, was seit langer Zeit unausgesprochen zwischen ihnen steht.

So vertraut David und Benji dabei miteinander sind, dass etwas geschehen sein muss, trotz des familiären Umgangs eine Distanz zwischen ihnen herrscht, ist kaum zu übersehen. Schon deshalb, da sie vom Typ her grundverschieden sind. Benji ist extrovertiert, geradezu „laut“ und nimmt jeden Raum ein, den er betritt. So auch, wenn sie auf ihre Reisegruppe treffen. Trotz seiner vulgären Ausdrucksweise kommt er sofort in der Gruppe an, findet Kontakt und wirkt interessiert. David hingegen ist zurückhaltend, beinahe schüchtern und reserviert. Dass sie beide wie Brüder aufgewachsen sein sollen, mag man kaum glauben. Zu verschieden sind ihre Persönlichkeiten. Doch das Geld, das ihnen ihre Großmutter hinterlassen hat, sollte eben dazu dienen, dass sie diese Reise gemeinsam unternehmen können. Die Eindrücke, die sie gewinnen, lassen jedoch eine andere Seite an Benji zum Vorschein kommen, mit der offenbar er selbst ebenso hadert wie die Menschen in seiner Umgebung.

Kieran Culkin haucht auf geradezu beängstigende Weise einer Figur Leben ein, die in einem Moment charmant, witzig und ungemein empathisch sowie sensibel ist auf eine Art und Weise, dass er eine gesunde Distanz vermissen lässt, um im nächsten Moment die Menschen in seiner Umgebung vor den Kopf zu stoßen. Sei es durch seine Herablassung, mit der er ihre Auffassungen negiert, oder wenn er ihre Empfindungen als fehlplatziert vorführt. Der Filmtitel A Real Pain ist so wörtlich zu verstehen wie doppeldeutig, denn zum einen empfindet Benji diese Hochs und Tiefs ungefiltert, wirkt euphorisch und vom emotionalen Schmerz ergriffen. Andererseits ist auch Davids Schmerz real, wenn er von Benjis Lebenswillen ebenso mitgetragen wird, wie von seinen Abstürzen mit in die Tiefe gerissen. So sehr er sich wünscht, wie Benji eine Gesellschaft zum Leuchten bringen zu können, so sehr schämt er sich, wenn er sich für seinen Cousin entschuldigen muss, nachdem dieser wieder einmal verbrannte Erde zurücklässt.

Culkins Darbietung ist eine der stärksten des Jahres und macht Benjis Auf und Ab auf eine kaum beschreibliche Art anstrengend. Eisenbergs David hingegen brodelt die gesamte Erzählung über in einer Mischung aus Verzweiflung und Wut. In einigen wenigen Momenten lässt A Real Pain das Publikum einen Blick auf die Hintergründe erhaschen, doch eine Läuterung, die man den Figuren so sehr wünschen würde, bleibt leider aus. Dafür begleitet das Drama sie auf ihrem Road Trip, der sie mit Erfahrungen konfrontiert, die sie bislang nur überliefert kannten. Dem beizuwohnen ist durchaus interessant und nie langweilig. Doch es wirkt in gewisser Weise ziellos. Wird so lange angedeutet, dass Benji und David das Haus ihrer Großmutter besuchen wollen, würde man erwarten, dass sie dort eine Eingebung erwartet, ein entscheidender Moment auf ihrer Reise. Doch eine solche Offenbarung gibt es nicht.

Entsprechend wirkt auch das Ende nicht, als wäre es ein Abschluss. Zwar nähert sich A Real Pain dem Kern dessen, was David bewegt, doch hinter Benjis Fassade blickt das Drama nicht und gibt auch keinen Aufschluss, ob er in der Lage ist, sein Verhalten und seine Wirkung auf die Menschen in seiner Umgebung zu reflektieren. Oder für sich einen Weg in die Zukunft zu finden. So bleibt die Erzählung eine gewisse Auflösung schuldig, ist aber was die Darstellung von Menschen in Benjis Situation anbelangt vermutlich realistischer, als es viele andere sind. Eben dies macht es aber schwer, Jesse Eisenbergs Geschichte eine konkrete Aussage zuzuschreiben.


Fazit:
Womöglich ist die Botschaft des mit Stücken des polnischen Komponisten und Pianovirtuosen Frédéric Chopin unterlegten Dramas, dass man eine Katharsis nicht erzwingen kann. Nicht einmal, wenn man sich auf die geschichtsträchtigen Pfade der eigenen Vorfahren begibt. David und Benji scheinen beide von ihrem Road Trip etwas zu erwarten oder zu erhoffen, doch sie finden am Ende nur den Konflikt, der zwischen ihnen steht und den sie selbst mitgebracht haben. Selbst wenn er angesprochen und so ins Licht gezerrt wird, aufgelöst wird er nicht. Vielleicht ist das auch gar nicht möglich. Feinfühlig und mit einem Auge für die Darbietungen umgesetzt, überzeugt Autor und Regisseur Jesse Eisenberg nicht nur hinter, sondern auch vor der Kamera mit ausgesprochen starken Momenten. Doch er überlässt die Bühne Kieran Culkin, dessen herausragende Verkörperung selbst beim Zusehen anstrengt. A Real Pain ist ruhig erzählt und trotz einiger humorvoller und geradezu beiläufig amüsanter Augenblicke ein einfühlsames Drama, das mehr durch Beobachtung denn Analyse überzeugt. Ein großes Publikum findet sich dafür kaum, doch das interessierte wird hier auf eine sehenswerte Reise eingeladen.