Alice Sebold: "In meinem Himmel" [2002]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 04. März 2005
Autorin: Alice Sebold

Genre: Drama

Originaltitel: The Lovely Bones
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 328 Seiten
Erstveröffentlichungsland: USA
Erstveröffentlichungsjahr: 2002
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2003
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 0-330-41316-3


Kurzinhalt:
Susie Salmon ist 14 Jahre alt, als sie ermordet wird. Der Täter, Mr. Harvey, ist ein etwas seltsamer Nachbar, hinter dem jedoch niemand einen Kindesmörder vermuten würde. Die Polizei, unter der Leitung von Len Fenerman, kann nicht einmal eine vollständige Leiche finden – von der wachsenden Ungewissheit, die schon lange erschütternde Wahrheit geworden ist, wird die Familie Salmon, Susies Vater Jack, ihre Mutter Abigail und ihre Geschwister Lindsey und Buckley, zunehmend erdrückt.
Als klar wird, dass Susie Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, zerbricht ihre Familie unter der schrecklichen Nachricht. So begleitet Susie von ihrem Himmel aus ihre Eltern, die sich zunehmend weiter auseinander leben, und auch ihre Schwester Lindsey, nur ein Jahr jünger als sie, wie sie ihre Trauer zu überspielen versucht. Ihr kleiner Bruder Buckley ist beinahe noch zu jung, um zu verstehen, dass Susie nicht mehr nach Hause kommen wird. Doch je älter er wird, desto mehr versteht er, was vorgefallen sein muss.
Es beginnt für die Salmons ein schmerzhafter Prozess, in dem sie akzeptieren müssen, was geschehen ist, während Len Fenerman mit seiner Ermittlung nicht weiter kommt.
So beobachtet Susie, an der Seite ihrer Freunde und Verwandten, wie sie mit ihrem Verlust umzugehen versuchen und muss doch hilflos mit ansehen, dass ohne einen Abschluss auch kein Neuanfang möglich ist.


Kritik:
Als The Lovely Bones, so der Originaltitel, 2002 in den USA veröffentlicht wurde, polarisierte der Roman die Leser und Kritiker gleichermaßen. Während einige den Roman als unpassend und den Inhalt als zu kontrovers empfanden, lobten die meisten die Sensibilität, mit der die Autorin hier zu Werke geht Sie wurden beim Lesen regelrecht paralysiert durch das unvorstellbare Grauen, das der Hauptperson widerfahren ist, sowie durch die offene Art und Weise, wie Susie Salmon darüber spricht. So gibt es in der Tat zahlreiche Seiten im Buch, bei denen dem Leser die Tränen kommen, bei denen man, von einem unsichtbaren Schmerz gepeinigt, zusammen zuckt. Doch überraschen auf der anderen Seite viele Momente, in denen Alice Sebold Susies Familie beschreibt oder aber auch ihre Versuche aufzeigt, mit der Situation umzugehen.
Dieser Balanceakt ist der Autorin nicht nur ausgezeichnet gelungen, er ist das Kernthema des Romans, eines der besten Bücher, die in jenem Jahr erschienen sind und die zurecht wochenlang auf Platz eins vieler Bestsellerlisten standen.

Die Geschichte ist dabei, traurigerweise, von wahren Ereignissen inspiriert, die der Autorin selbst widerfahren sind. Im Mai 1981 wurde Alice Sebold auf brutale Art und Weise vergewaltigt, ein Erlebnis, das sie in ihrem Memoirenroman Glück gehabt [1999] verarbeitete. Ihre Arbeit an In meinem Himmel hatte sie dabei bereits 1996 begonnen, konnte aber nach dem traumatischen ersten Kapitel die Geschichte von Susie Salmon nicht weiter erzählen, sondern musste, wie sie selbst sagt, zuerst ihre eigene Geschichte zu Papier bringen. Vom Erfolg des Buches war damals niemand so recht überzeugt. Ihre Lektorin sagte ihr sogar, sie hätte das Buch nie verlegen lassen, hätte sie vor dem Lesen gewusst, worum es ging. Und doch wurde ihr zweites Buch ein Welterfolg, überschattet von den zahlreichen Kindesentführungen, die Monat für Monat, Tag für Tag die Nachrichten beherrschen.
Die ehrlichen und offenen Beschreibungen, mit der die Autorin ihre Protagonistin dabei ihr Schicksal schildern lässt, sind alles andere als leicht zu ertragen. Der Auftakt des Romans, in dem Susie Salmon von ihrem gewaltsamen Tod berichtet, gehört dabei sicher zu den forderndsten Momenten des Buches. Und doch ist ihre Situation, ihre Möglichkeit, ihre Familie und ihre Freunde, die Hinterbliebenen und den Täter zu beobachten, so fesselnd und interessant zugleich, dass man ihr auf ihrer Reise durch die Zeit unbedingt folgen möchte. Dabei verwebt Sebold subtil die Veränderungen in Susies Himmel mit ihren Wünschen und Bedürfnissen, und trotz ihrer Situation muss sie hilflos mit ansehen, wie ihre Familie vor ihren Augen zerbricht. Diese Tragik ist es auch, die den Leser vor vielerlei Fragen stellt. Hat man sich erst einmal in die Lage von Abigail oder Jack Salmon versetzt, steht man vor denselben Entscheidungen und muss sich fragen, ob Jack für seine unverwüstliche Liebe zu seiner Tochter zu bewundern ist oder ob man ihn dafür bemitleiden sollte, was er deswegen durchmachen muss – oder darf man Abigail für ihre Entschlüsse verurteilen, oder sollte man nicht besser Verständnis dafür entgegen bringen?
Scheinen viele dieser Fragen noch zu Beginn eine einfache Antwort mit sich zu bringen, wird die Entscheidung im Laufe des Buches durch die zahlreichen Einzelheiten, die man über die Hauptfiguren erfährt, immer schwieriger. Aus den einfach scheinenden Zusammenhängen wird ein komplexes Muster, in dem es immer schwerer wird, sich zurecht zu finden. Doch genau diese Tiefgründigkeit, die Sebold dem Leser hier nicht aufzwingt, sondern ihm unterschwellig vermittelt, zeichnet den herausragenden Stil des Romans aus.
Was das Lesen außerdem zu einem bittersüßen Erlebnis macht sind die zahlreichen Details, die Susie nach ihrem Tod nun auffallen, die sie verstärkt wahrnimmt, seien es Gerüche, Hautporen, Farben oder besondere Momente. Sie lenkt dadurch den Blick der Leser auf die Alltäglichkeiten, denen man kaum Beachtung schenkt und findet darin so viel Schönheit, so viel Einzigartigkeit, dass man sich in ihren Beschreibungen verlieren könnte. So wie sie die Welt mit neuen Augen sieht, wie sie die Auswirkungen ihres Verschwindens auf ihre Familie, Freunde und die Schule beobachtet, baut man zu Susie Salmon, trotz der Tatsache, dass man ansich recht wenig über sie erfährt, eine umso stärkere Beziehung auf, da man vermittelt bekommt, was sie verloren hat. Dass dabei auch der Täter, Mr. Harvey, beleuchtet wird, ohne dass eine Erklärung für seine Handlungen geliefert und auch ohne dass seine Existenz mit jedem Satz verteufelt wird, wird sicherlich vielen Lesern Unbehagen bereiten. Dies ist im Endeffekt aber dennoch die eleganteste und auch verständlichste Lösung, ohne dass die Autorin dem Leser eine fadenscheinige Antwort liefern würde.

Ein Wermutstropfen, den man bei In meinem Himmel allerdings hinnehmen muss, ist die Tatsache, dass sich die Geschichte schon kurz nach Beginn in eine andere Richtung entwickelt, als man allgemein erwarten würde. Deutlich wird das auch, wenn Alice Sebold Jahre überspringt und nur kurze Anekdoten in jener Zeit erzählt, ehe sie zu den Figuren zurückkehrt und dem Leser vermittelt, wie sie sich entwickelt haben (und ob überhaupt). Dabei kommen wirklich alle Charaktere zum Zug, die eine sehr persönliche und realistische Persönlichkeit zugeschrieben bekamen.
Doch beschränkt die Autorin die Charakterentwicklung nicht auf die Salmon-Familie allein, auch wenn Abigail, Jack, Lindsey, Buckley und Großmutter Lynn schon genügend Stoff für einen Roman bieten würden. Auch vermeintliche Nebenfiguren wie Ruth Connors oder Susies Freund Ray oder auch Detective Len Fenerman werden unter die Lupe genommen.
Umso überraschender ist dabei, dass sie alle, trotz der unterschiedlichen Reaktionen der einzelnen Figuren auf Susies Verschwinden, überaus realistisch erscheinen, sie dem Leser Facetten vor Augen führen, die man so nicht erwartet hätte. Auch hier hat Sebold eine herausragende Arbeit geleistet.

Das eigentliche Finale, so viel sei verraten, wird manchen Lesern die größten Schwierigkeiten bereiten, hauptsächlich aus inhaltlicher Sicht. Zweifelsohne scheint es im Zusammenhang mit der restlichen Geschichte ein wenig losgelöst und auch einen Schritt weiter, als die Autorin in den vorangegangenen Seiten zu gehen wagte. Aber dank der exzellenten, feinfühligen Beschreibung, kann man dieses Manko leicht verschmerzen. Dass manche Storyaspekte nicht großartig weiter verfolgt werden, liegt der Natur des Romans zu Grunde, der sich weniger als Krimi oder Thriller versteht, sondern mehr als Charakterportrait, als Drama in einer sehr ruhigen und schon deswegen aufwühlenden Weise. Und doch ergeben sich alle Stationen in Susie Salmons Reise natürlich aus der Story heraus, Sprünge oder unnötige Szenen gibt es nicht. Jeder Dialog, jede Person und jede beschriebene Erinnerung erfüllen einen Zweck, der die Welt, die Susie verlassen musste, so detailreich zum Leben erweckt.

Wer bei The Lovely Bones zur englischsprachigen Originalausgabe greift, sollte sich darüber im Klaren sein, dass der Roman deutlich anspruchsvoller ist, als gängige Unterhaltungsliteratur. Dies liegt nicht so sehr an der Wortwahl, sondern an den Beschreibungen, die dem Sprachgebrauch von Susie angepasst sind. So scheinen manche ihrer Kommentare, als würde sie sich vor Überschwänglichkeit selbst überrumpeln, und wenn sie zwischen Erinnerung und Jetztzeit hin und her springt, wird es recht schwer, dem Ganzen zu folgen, was aber umso mehr zur Stimmung des Buches beiträgt.
So ist das Buch auf Englisch zweifelsohne zu empfehlen, allerdings sollte man sich auf ein etwas anspruchsvolleres Leseerlebnis einstellen.
Alice Sebold gelingt es dabei von der ersten Seite an, Susies Perspektive gekonnt heraus zu arbeiten und das Geschehen aus ihrem Blick treffend zu beschreiben.

Es ist mit Sicherheit ein strittiges Thema, das die Autorin in ihrem zweiten Roman verarbeitet und ihre direkte Ausdrucksweise – aus den Augen des Kindes – erschreckt im ersten Moment, dabei ist es aber genau das, was den Roman von anderen seines Genres sichtlich abhebt. Zudem verlässt sich Sebold nicht auf die üblichen Zutaten einer solchen Geschichte, sondern stellt die Personen in den Mittelpunkt, die zurück geblieben sind, zeigt ihren Weg, ihren Absturz und ihren Kampf, der Lage Herr zu werden, oder zumindest mit ihr Leben zu können. Dabei gibt sie den Lesern so viele Anregungen mit auf den Weg, was sich im Alltag zu beachten lohnt, welche vermeintlichen Banalitäten man schätzen sollte und weswegen das Leben auch in unserer Zeit immer noch ein Geschenk ist, das man nicht leichtfertig verspielen sollte, sodass die wenigen Kritikpunkte kaum ins Gewicht fallen.


Fazit:
Es ist grundsätzlich einfacher, ein Buch oder einen Film zu kritisieren, als die positiven Aspekte heraus zu stellen, ohne dem vermeintlichen Leser die Freude an dem Roman im Voraus zu nehmen. Dem folgend gibt es bei In meinem Himmel ansich nur zwei Schwachpunkte, von denen einer keiner ist: geht man zu Beginn noch davon aus, dass sich der Roman um die Lösung des Mordes an Susie Salmon drehen wird, muss man recht schnell erkennen, dass der Autorin Alice Sebold andere Themen bedeutend wichtiger sind, dass sie sich auf die Figuren verlässt, auf ihre Charaktere eingeht und dem Leser ein völlig neues Bild vermitteln möchte. Insofern ist dies kein Kritikpunkt, sondern lediglich eine falsche Erwartungshaltung. Dass das Finale jedoch über eine Grenze schreitet, die die Autorin nicht nur selbst aufgestellt, sondern bis dahin nicht überschritten hat, ist jedoch ein anderes Thema. Hieran werden sich, wie am Grundthema des Buches die Geister scheiden, dabei macht es einem schon allein die sprachliche Finesse überaus leicht, dieses Manko zu übersehen.
Wenn man mit Susie mit ansieht, wie ihre Familie, ihre Eltern, ihre Schwester und ihr Bruder Stück für Stück Fortschritte machen, wie sie nach langem Ringen einen bitteren Sieg bei der Verarbeitung ihrer Trauer erkämpfen, sie für kurze Zeit die Mauern um ihre Herzen niederreißen können und sich wieder näher kommen, freute ich mich mit ihnen – mehr noch, ich habe mich für sie gefreut, an Susies Seite. Der Autorin Alice Sebold gelingt der dramatische Drahtseilakt so gut, dass die Gewalt, die Susie erleiden musste, gerade zu Beginn spürbar wird, jeder Stich, den die Familie durch neue, schreckliche Nachrichten (oder das Ausbleiben derselben) erdulden muss, sich auf den Leser überträgt. Das menschliche Drama, das sich vor Susies Augen abspielt, zieht einen in seinen Bann, wirft immer wieder die Fragen auf, ob man sich ähnlich verhalten hätte und lässt einen doch hoffen, dass die Salmons in der Lage sein werden, mit dem Verlust umzugehen.
Was Sebold in The Lovely Bones gelang, ist kaum in Worte zu fassen, zaubert einem bisweilen ein Lächeln aufs Gesicht und erzeugt auf derselben Seite mitunter einen Kloß im Hals. Auch wenn das Finale nicht jedermanns Geschmack treffen dürfte, künstlerisch, sprachlich wie inhaltlich verbirgt sich hier eines der facettenreichsten, vielschichtigsten und besten Bücher, die ich seit langem gelesen habe. Wenn man Susie nach den 320 Seiten wieder verlässt, sie ihre Reise allein fortsetzen wird, lernt man erst zu schätzen, wie sehr man sich ihr (und ihrer Familie) durch ihre persönlichen, direkten Beschreibungen verbunden fühlte – und was sie alle durch Susies Tod verloren haben.