Carlos Ruiz Zafón: "Der Schatten des Windes" [2001]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 08. Juni 2013
Autor: Carlos Ruiz Zafón

Genre: Unterhaltung / Drama / Liebesgeschichte

Originaltitel: La sombra del viento
Originalsprache:
Spanisch
Gelesen in: Deutsch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 563 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Spanien
Erstveröffentlichungsjahr: 2001
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2003
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 978-3-518-45800-6


Kurzinhalt:
Eines Tages wird Daniel Sempere von seinem Vater an einen Ort in Barcelona gebracht, der den meisten Menschen verborgen bleibt. In einer versteckten Bibliothek, dem Friedhof der vergessenen Bücher, darf er sich ein Werk aussuchen. Er entscheidet sich für Der Schatten des Windes des Autors Julián Carax. Während er sich in der Geschichte verliert, hat es ihm der Autor angetan, doch etwas über ihn oder seine weiteren Werke zu erfahren, scheint außerordentlich schwierig. Über seinen Vater nimmt er Kontakt zu dem Buchhändler Gustavo Barceló auf, dessen Nichte Clara einen Teil des Mysteriums um Carax lüften kann. Von seinen Büchern ist jeweils nur ein Werk übrig geblieben, versteckt im Friedhof der vergessenen Bücher. Alle anderen wurden von einem unbekannten Mann vernichtet, der sich Laín Coubert nennt. Doch Coubert ist eigentlich eine Figur aus Carax' Roman.
Obwohl Daniel älter wird, fasziniert ihn Julián Carax immer noch. Er erfährt, dass dieser in Barcelona gelebt hat, aber um 1920 herum nach Paris geflohen ist. Es ist das Ende seiner Beziehung zu Penélope Aldaya, Tochter des einflussreichen Don Ricardo, der Carax als Protegé aufgenommen hatte. Doch je weiter Daniel forscht, darunter auch bei Nuria Montfort, die Julián ebenfalls kennen gelernt hatte, umso mehr gerät er selbst ins Visier des Mannes, der sich Laín Coubert nennt. Und auch der skrupellose Inspektor Javier Fumero wird auf Daniel aufmerksam. Fumero verbindet eine gemeinsame Vergangenheit mit Carax. Es scheint, als würden sich Juliáns und Daniels Schicksal öfter kreuzen, als es reiner Zufall sein kann ...


Kritik:
Die Figuren in Carlos Ruiz Zafóns Roman Der Schatten des Windes scheinen vom Schicksal getrieben. Beinahe so, als könnten sie sich nicht dagegen wehren. Für den Erzähler Daniel Sempere ist dies umso tragischer, da er in der Geschichte eines verschollenen Autors Wegstationen seines eigenen Lebens wiederfindet. Es ist dieses Fantasy-Element, das dem Roman – dem ersten einer angestrebten vierteiligen Reihe – einen ungewohnten Touch verleiht. Und hat man das erste Kapitel "Der Friedhof der vergessenen Bücher" erst einmal gelesen, kann man das Buch kaum mehr aus der Hand legen.

Ich muss dabei gestehen, dass ich wohl nie selbst zu Der Schatten des Windes gegriffen hätte. Es war ein Geschenk und ein Buch, das ich trotz der vielen positiven Meinungen, die man darüber gehört hat, sehr weit unten in meinem Stapel einsortiert hatte. Doch erzählt Daniel von einer sehr gut versteckten, riesigen Bibliothek, in der tausende seltener Bücher ein Heim gefunden haben, zeichnet er ein Bild von diesem Gebäude und beschreibt den Geruch, den diese alten Werke verströmen, war ich gefangen.
Woher kommt die Faszination für Bücher, die vom Geist anderer Bücher erzählen? Michael Endes Die unendliche Geschichte [1979] ist einer der prominentesten Vertreter hiervon. Daniel entdeckt in jenem "Friedhof" ein Buch mit dem Namen Der Schatten des Windes von einem Autor namens Julián Carax. Von dem Buch fasziniert, forscht er nach und muss feststellen, dass von Carax Werken keines mehr übrig geblieben ist. Jeweils eines in jener Bibliothek, doch darüber hinaus wurden sie allesamt vernichtet.

Zafóns Roman spielt in Barcelona nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Spanien unter der Diktatur General Francisco Francos. In vielen Rückblicken schildert er darüber hinaus die Zeit zwischen 1920 und 1939 und deckt dabei auch die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs ab 1936 ab. Ob es richtig ist, Der Schatten des Windes als Historienroman zu bezeichnen, sei dahingestellt. Auch wenn der Hintergrund des Franco-Regimes real ist und die Situation der Menschen damals beschrieben wird, letztendlich gibt es kaum geschichtlich belegbare Figuren.
Man sieht als Leser den jungen Daniel Sempere aufwachsen und erwachsen werden. Wie er sich zum ersten Mal verliebt, in die blinde Clara Barceló, seine Liebe aber nicht in dem Maße erwidert wird. Je mehr sich Daniel für den Werdegang von Julián Carax interessiert, umso verworrener scheint dieser zu werden. So gab es eine heimliche Beziehung dessen zur Tochter Penélope des reichen Don Ricardo Aldaya, doch als sie beschlossen, gemeinsam fortzugehen, um zusammen sein zu können, verliert sich Penélopes Spur. Daniels Informationen über Ereignisse, die 20 Jahre oder noch länger zurückliegen, erhält er sowohl aus Briefen aus jener Zeit, wie auch durch Befragungen von Zeitzeugen. Sei es die Kinderfrau der Aldayas, Jacinta, oder Nuria Montfort, die als Verlagsmitarbeiterin mit Carax damals in Kontakt getreten war – und sich in ihn verliebt hat, als er bereits in Paris im Exil war.

Man muss kein Romantiker sein, um Carlos Ruiz Zafón Buch genießen zu können, es hilft jedoch, mit den verschiedenen Liebesbeziehungen mitfühlen zu können. So ergeht es Daniel in seiner Beziehung zu Beatriz, Schwester seines besten Freundes Tomás, ähnlich wie Carax mit seiner Penélope. Und immer wieder trifft er in den Berichten der Zeitzeugen auf den böswilligen Polizisten Javier Fumero, der Carax um seine Beziehung beneidet hat – und eben dieser Fumero sucht Daniel auf, um einen Angestellten von Daniels Vater, Fermín Romero de Torres, zu drangsalieren, deren Wege sich in der Vergangenheit immer wieder gekreuzt haben.

Auf verschachtelte Weise erzählt der Autor in verschiedenen Zeiten, schildert selbst die Rahmenhandlung als Erinnerung und taucht darin in weitere Erzählungen von anderen Charakteren ein, die wiederum von Berichten weiterer Figuren ausgeschmückt sind. Das macht ihn, zusammen mit den vielen Personen, zu denen man einen ausgeschmückten Hintergrund erfährt, und den tragischen Liebschaften zu einem wirklichen Schmöker. Aber Der Schatten des Windes ist noch mehr.

Ein sehr großes Lob gebührt dem deutschen Übersetzer Peter Schwaar, dem hier ein wirkliches Meisterstück gelingt. Bereits die ersten Seiten lesen sich nicht wie ein gewöhnliches Buch, sondern gleichen in ihrer prunkvollen, ausgeschmückten Wortwahl einem Gemälde, das hier nur in Worte gefasst wird. Die Straßen Barcelonas vor 60 Jahren werden so lebendig beschrieben, Gerüche und Eindrücke so detailliert und doch der Vorstellung des Lesers überlassen, dass Der Schatten des Windes sprachlich ein ganz anderes Niveau darstellt, als man es in vielen Büchern findet. Diese Wortwahl trübt den Lesefluss nicht, sondern beschleunigt ihn. Man wird von den geschliffenen Monologen Fermíns mitgerissen und bekommt auf den knapp 600 Seiten traumhafte Sonnenaufgänge am Hafen geschildert, sieht das leichte Flackern der alten Filmprojektoren in dunstigen Kinos und erkundet mit Daniel zusammen die verlassene Villa der Aldayas. Von der Schreckensfigur Laín Coubert ganz abgesehen, die sich vor dem Auge des Lesers im Dunkeln versteckt. Carlos Ruiz Zafóns Erzählungen lesen sich, als würden sie gesungen, sie besitzen einen Rhythmus und schwingen, dass es eine Freude ist, sie zu lesen. Dies hat Schwaar hervorragend eingefangen. Einzig weswegen das Buch zwar auf die neue deutsche Rechtschreibung zurückgreift, allerdings "dass" mit "ß" geschrieben wird, ist nicht ganz verständlich.


Fazit:
Zwei große Geheimnisse baut Carlos Ruiz Zafón um seine Figuren auf. Nach der Hälfte des Romans haben aufmerksame Leser hierüber schon ihre Vermutung, die sich am Schluss auch bestätigt. Der Aufbau des Buches mit den vielen Rückblicken und Einschüben hat in einem Fall die Folge, dass man Hauptfigur Daniel am liebsten zu seinem Glück, beziehungsweise zu einer mutigen und richtigen Entscheidung zwingen möchte. Diese scheint lange hinausgezögert, aber auch wenn über 120 Seiten vergehen, diese beschäftigen sich mit einer langen Erzählung der Vergangenheit von Julián Carax – tatsächlich vergehen gerade einmal zwei Tage für Daniel.
Mit einer lebendigen Schilderung Barcelonas während der Franco-Ära (die Kultur des Vergessens der moralischen und tatsächlich Verbrechen, die während der Zeit verübt wurden, wird auch angeprangert) überzeugt Der Schatten des Windes ebenso, wie durch vielschichtige Figuren, über die man mehr erfährt, als einem mitunter Recht ist. Die verschiedenen Zeitebenen jongliert der Autor gekonnt und entblättert so Stück um Stück den Werdegang seiner Figuren, deren Schicksal einem wichtig wird. Die lyrische Sprache passt hervorragend zur Magie, die der Roman bereits durch den Anfang mit dem "Friedhof der vergessenen Bücher" entfaltet und bis zum Schluss hält, das in einem angemessenen Finale mündet. So skeptisch ich vor dem Lesen des Buches war, so sehr hat es mich mitgerissen und in eine fantastische Geschichte entführt, die von gebrochenen Menschen und nicht Figuren handelt.