Mark Billingham: "Der Kuss des Sandmanns" [2001]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 09. November 2004
Autor: Mark Billingham

Genre: Krimi / Thriller

Originaltitel: Sleepyhead
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 404 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Großbritannien
Erstveröffentlichungsjahr: 2001
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2002
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 0-06-103221-2


Kurzinhalt:
Seit sich der britische Polizist Tom Thorne bei einem Fall vor über zehn Jahren durch seine Intuition bewiesen hat, ist er bei vielen seiner neuen Fälle wie besessen. Doch als er einer Sondereinheit zugeteilt wird, die sich mit mehreren aktuellen Frauenmorden beschäftigt, weiß der erfahrene Kriminalinspektor zunächst nicht, womit er es hier zu tun hat.
Dann wird eine junge Frau gefunden, die mittels einer speziellen Technik in ein nicht zu durchbrechendes Wachkoma versetzt wurde. Zunächst scheint es, als habe derselbe Täter seinen ersten Fehler begangen, bis dieser überraschend Kontakt zu Thorne aufnimmt: Die im Krankenhaus an zahlreiche Apparate angeschlossene Allison Willetts, die sich mit Ausnahme ihrer Augen nicht mehr bewegen kann, ist das erste Opfer, an dem der Täter sein Werk vollendet hat!
Die Hinweise deuten klar auf jemanden aus der Ärzteschaft hin, und als er Allisons Ärztin Anne Coburn näher kommt, meint Thorne den Täter in dem undurchsichtigen Jeremy Bishop (ein Freund der Ärztin) zu erkennen – zudem hat Bishop für die Tatzeiten kein Alibi. Allerdings kann Thorne seine Vermutungen nicht beweisen und der Täter, der ihm weiter Nachrichten hinterlässt, sucht sich in der Zwischenzeit seine nächsten Opfer aus. Zusammen mit Assistent Dave Holland versucht Thorne, den Kreis um Bishop enger zu ziehen, bis er plötzlich selbst im Visier des Täters steht, der bereits vier Frauen bei seinem grausamen Ritual ermordet hat ...


Kritik:
Ein Psychopath, der seine Opfer nicht tötet, sondern sie in einem Wachkoma gefangen hält – fürwahr eine Horror-Vorstellung.
Dank der eindringlichen Beschreibungen von Autor Mark Billingham bekommt man genau das als Leser beinahe selbst zu spüren und das tatsächlich existierende Locked-In-Syndrom erweist sich als eine der verheerendsten und grausamsten Waffen in den Händen srupelloser Menschen, die diese – sonst meist durch Unfälle hervorgerufene – neurologische Störung, vielleicht bewusst herbeiführen könnten.
Dennoch ist dies nur der Aufhänger für Billinghams eigentliche Geschichte, die Charakterisierung eines routinierten, bisweilen besessenen Polizisten im Alltag der Verbrechensbekämpfung. Mit Tom Thorne schuf er einen interessanten, lebensnahen und doch kantigen Helden, der ansich gar keiner ist. Billinghams Beschreibung der gebrochenen Figur beantwortet dabei ebenso viele Fragen, wie sie Raum für weitere Facetten offen lässt. Thorne in Worte zu fassen fällt schwer, seinem rauen Charme nicht zu erliegen und mit ihm nicht auf Verbrecherjagd gehen zu wollen, aber ebenso. An seiner Seite kommt der ebenfalls vielschichtige Dave Holland zum Zug, der wohl nicht unbeabsichtigt wie eine verjüngte Version der Hauptfigur wirkt, ihm intuitiv vertraut und sich im Laufe des Buches sein Vertrauen erarbeitet. Im Gegensatz dazu werden die Vorgesetzten der beiden nur schemenhaft beschrieben und wachsen leider nicht über das vertraute Muster hinaus, auch wenn ein kurzer Abschnitt, den Billingham einem der Figuren gewidmet hat, den Leser offensichtlich auf eine falsche Fährte führen soll, die dafür allerdings zu schnell versandet.
Interessanter sind die Nebenfiguren, in Gestalt von Anne und Rachel Coburn, die beide einen reichhaltigen und interessanten Hintergrund zugeschrieben bekommen, der demjenigen der Familie von Jeremy Bishop aber in nichts nachsteht. Sie alle haben genügend zu tun, besitzen ebenso viele positive wie negative Seiten, bleiben interessant und facettenreich, vor allem jedoch glaubwürdig und nicht überspitzt.

Während der Autor so sehr viel Zeit auf die Charaktere verwendet, kommt die Story dagegen insbesondere im ersten Drittel des Romans etwas zu kurz. Zwar werden häufig Parallelen zu einem Fall gezogen, durch den Hauptfigur Thorne seinen Ruf als Spürhund erlangt haben soll (und diesen Fall darf man als Leser im Verlauf auch nacherleben), aber das Katz-und-Maus-Spiel mit dem aktuellen Täter kommt eher schleppend in Fahrt, was wohl unter anderem daran liegt, dass der Roman trotz seiner Länge von 400 Seiten eine Dauer von insgesamt zwei Monaten umfasst und die polizeiliche Ermittlung gerade zu Beginn nicht sonderlich zu überzeugen vermag.
So würde man sich die Konfrontation Thornes mit dem Täter ansich etwas später wünschen. Während der Polizist dem Täter nachjagt, folgen ein immer intimer werdendes Verwirrspiel und falsche Fährten. Doch Billingham kann nur mit einem sehr eingeschränkten Täterkreis von nur drei Figuren dienen, was natürlich dazu führt, dass man als Leser recht schnell dahinter kommt, wie der Hase läuft, und nur wenig Überraschungen auf einen warten. Dahingehend hätte man sich vielleicht mehr Polizeiarbeit und einen komplexeren Fall gewünscht. Das soll allerdings nicht bedeuten, dass die Abfolge der Ermittlung nicht nachvollziehbar wäre, ganz im Gegenteil, nur wäre das Buch mit einer komplexeren Verstrickung mehrerer Figuren wahrscheinlich noch interessanter geworden.

Am dramaturgischen Aufbau gibt es jedenfalls nichts zu bemängeln. Der Leser wird nicht mit brutalen Schilderungen überflutet, oder einer höheren Agenda des Täters konfrontiert, stattdessen stellt der Autor recht schnell klar, was die eigentlichen Motive sind, nach welchen Kriterien der Täter seine Opfer auswählt, und weswegen er sich auf das Spiel mit der Polizei einlässt. Nachdem die Figuren eingeführt sind, und die Story mit Allisons Kommunikation in Fahrt gekommen ist, überschlagen sich die Ereignisse geradezu, führen zu immer neuen Erkenntnissen und halten den Zuschauer durch die Charaktere bei Laune. Akribische Beschreibungen der Polizeiarbeit sucht man hingegen vergebens, dafür wird der Unterhaltungsaspekt groß geschrieben.
Finale und Auflösung sind nicht unbedingt überraschend, aber trotzdem spannend; für Gänsehaut sorgen hingegen die Abschnitte, in denen Billingham aus der Sicht des "erfolgreichen" Opfers Allison Willetts schildert, ihre Emotionen und Gedanken zum Ausdruck bringt, und dem Leser in wenigen Seiten eine Wandlung der verwirrten Kämpferin, zur depressiv-melancholischen Frau und dem lebenswilligen Opfer vermittelt, die in einer zwar niederdrückenden, aber trotzdem angemessenen Auflösung ihren Abschluss findet. Obwohl diese Passagen auf den ersten Blick den Erzählfluss zu hemmen scheinen, verleihen sie mit ihrem besonderem Tempo und Stil dem gesamten Buch doch so etwas wie einen Herzschlag, ein Metrum, an dem sich auch die restlichen Kapitel orientieren. Allein dieser Einfall macht Der Kuss des Sandmanns bereits lesenswert.

Wer sich Sleepyhead (so der deutlich passendere Titel der Originalausgabe) jedoch im englischen Original vornimmt, wird sich bisweilen warm anziehen müssen; auch wenn Billingham hinsichtlich der Polizeimethoden spart, sind medizinische Fachausdrücke keine Seltenheit. Zudem bemerkt man schnell, dass es sich hier um einen britischen und nicht amerikanischen Autor handelt; Billingham verwendet zum Teil eine vollkommen andere Struktur und Ausdrucksweise, als man es von Autoren aus den USA sonst gewohnt ist. Trotzdem bleiben die Schilderungen immer umgangssprachlich und sind gleichzeitig nicht aufgesetzt vulgär – dass es der Autor dabei versteht, gekonnt sowohl aus der Sicht von Frauen, als auch Männern zu schreiben, und ihnen jeweils einen subtil-anderen Stil zukommen lässt, der allzeit passend und natürlich wirkt, sei ebenfalls erwähnt.
Aufmerksamen Lesern wird darüber hinaus ein prinzipiell bekanntes, aber heutzutage nur selten verwendetes Stilmittel auffallen, dass Mark Billingham hier in einem entscheidenden Moment einsetzt: Bei der letzten Verfolgungsjagd, bei der Thorne dem Täter dicht auf den Fersen ist, wechselt der Autor unvermittelt vom Präteritum ins Präsens; dieser unterschwellige Schnitt heizt die Szene merklich an, erhöht das Erzähltempo und steigert die Spannung – gleichwohl man im ersten Moment angesichts des Wechsels etwas verwundert über die ersten paar Zeilen stolpert.

Sprachlich zieht der Autor alle Register, die man vom Genre erwarten kann, präsentiert dabei aber weniger einen Krimi, als vielschichtige und realitätsnahe Charakterstudien, die in einer interessanten und sympathischen Figur ihren Höhepunkt finden. Dadurch kommen zwar hin und wieder die Überraschungen zu kurz, langweilig wird es trotzdem nie. Zu einem so genannten "Pageturner" reicht es dennoch erst ab der zweiten Hälfte. Dafür brilliert Billingham in anderen Bereichen, nutzt eine höchst einfallsreiche Ausgangslage für einen der ungewöhnlichsten Krimis der letzten Zeit und stellt Charaktere vor, die man gern in weiteren Fällen begleitet. Bedenkt man zudem, dass Sleepyhead Billinghams Erstlingswerk gewesen ist (bislang hatte der Autor für die BBC an Comedy- und Kindersendungen gearbeitet), darf man angesichts der inhaltlichen Reife und des packenden Erzählstils seinen Hut ziehen.


Fazit:
Obwohl man sich nach wenigen Seiten fragt, welche Motivation der Täter denn haben mag, seinen Opfern ein solch grausames Schicksal antun zu wollen, allein die Ausgangslage macht Sleepyhead zu einem der interessantesten und innovativsten Romane, die ich seit langem gelesen habe.
Autor Mark Billingham überzeugt mit einer klugen, spannenden, wenn auch nicht immer überraschenden Story, die sich im ersten Drittel auf die Charaktere konzentriert, ehe dann der Fall selbst in Fahrt kommt. Mit einem ungeheuren Tempo steuert der Autor auf das mitreißende Finale zu, das allerdings in einem viel zu kurzem Epilog aufgelöst wird. Dank der lebensnahen Erzählweise und den sehr guten Figuren fällt das jedoch nicht weiter ins Gewicht.
Mit am besten gefallen haben mir dabei die Schilderungen aus der Sicht des überlebenden Opfers Allison Willetts, die auf den ersten Blick seltsam anmuten mögen, aber so viel Tiefgang und Hintersinnigkeit beinhalten, dass man über die wenigen Seiten die verschiedenen Entwicklungsstadien der Figur derart treffend beschrieben bekommt, dass man mit ihr kämpft, mit ihr mitfiebert und die ganze Grausamkeit des Verbrechens erst zu fassen beginnt. Mit Tom Thorne schuf der Autor einen vielschichtigen, realistischen Charakter mit Ecken und Kanten – vor allem aber einer ausreichenden Prise Sarkasmus und Unbeherrschtheit, um trotz seiner Verbissenheit sympathisch zu sein.
Die Story ist einfallsreich, die Figuren glaubhaft, die Erzählweise tadellos und das Buch unbedingt lesenswert. Als Erstlingsroman ist dies einer der besten seit langem, und so gelungen, dass ich mir den zweiten Tom-Thorne-Thriller gleich bestellt habe.