John Godey: "Abfahrt Pelham 1 Uhr 23" [1973]

Wertung: 4 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 07. Juni 2009
Autor: Morton Freedgood

Genre: Thriller

Originaltitel: The Taking of Pelham One Two Three
Originalsprache:
Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 373 Seiten
Erstveröffentlichungsland: USA
Erstveröffentlichungsjahr: 1973
Erstveröffentlichung in Deutschland: 1973
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 978-0-425-22879-1


Kurzinhalt:
Vier mit Maschinengewehren bewaffnete Männer, der Anführer Ryder, Steever, Longman und Welcome, nehmen die U-Bahn Pelham 123 in ihre Gewalt. Nachdem sie den vorderen Wagen abgekoppelt, inmitten eines Tunnels platziert und den Strom gekappt haben, stellen sie an die Zentrale ihre Forderung: 1 Million Dollar binnen einer Stunde, sonst wird jede Minute eine Geisel erschossen. Sollte sich die Polizei dem Wagen nähern oder der Strom wiederhergestellt werden, ereilt die Geiseln dasselbe Schicksal.
Während der Polizist Clive Prescott mit Ryder verhandelt und über den Bürgermeister versucht, das Geld rechtzeitig zu beschaffen, steigt die Anspannung in dem U-Bahn-Waggon. Denn während Ryder das Kommando hat, sind zwei seiner Mitstreiter sehr labil. Und der zivil gekleidete Polizist unter den Fahrgästen, Tom Berry, muss sich entscheiden, ob er unerkannt bleiben will, oder handelt – und dabei riskiert im Kugelhagel umzukommen. Mit der knappen Zeitvorgabe rennt den Polizisten die Zeit davon und immer noch bleibt die Frage, wie die Geiselnehmer denn aus dem Tunnel entkommen wollen ...


Kritik:
Eine Story wie diejenige in Abfahrt Pelham 1 Uhr 23 hat grundlegend immer ein Problem: als Leser weiß man von vorne herein, dass die Geiselnehmer nicht ungeschoren davonkommen werden. Die Frage bleibt nur, wann und wo machen sie den entscheidenden Fehler, anhand dem sie letztlich dingfest gemacht werden?
Angesichts der Schilderungen von Autor Morton Freedgood, der hier unter seinem Pseudonym John Godey schreibt, ist man sich da der eigenen Behauptung aber nicht immer sicher. Dafür gibt es überraschenderweise trotz vier sehr klar definierter und mit einem reichen Hintergrund versehener Bösewichte, keinen tatsächlichen Helden. Angeführt wird die Truppe der militärisch organisierten Geiselnehmer von dem charismatischen aber emotional losgelösten Ryder, dem schlichtweg kein Gewissen außer seiner eigenen Moralvorstellung in die Wiege gelegt wurde. Konfrontationen hat er genügend zu bestehen und zeichnet sich in jedem Fall durch seine Disziplin aus. Anders der verängstigte Longman, der die Nerven immer gerade lange genug zu behalten scheint, dass er die nächsten fünf Minuten aushält. Steever dient als ausführendes Organ der Geiselnehmer und ist dabei ebenso gehorsam wie diszipliniert. Dagegen sorgt Welcome für die psychopathische Komponente. Für Spannungen und Auseinandersetzungen ist also gesorgt. Nur gibt es auf der Gegenseite keine wirklichen Identifikationsfiguren.

Tom Berry als Polizist, der mit seinen Überzeugungen hadert, verhält sich über weite Teile des Romans zu passiv, als dass man mit ihm mitfiebern könnte, während Clive Prescott zwar bemüht scheint, das Wohlergehen der Geiseln sicherzustellen, sich dann allerdings in unnötigen Wortgefechten verheddert. Überhaupt scheint es von keinem der Gesetzeshüter angebracht, die Geiselnehmer mit Schimpfworten zu beleidigen und so ja grundsätzlich noch mehr zu reizen. Immerhin befinden sich mehr als ein Dutzend Geiseln in Lebensgefahr! Das umso mehr, da Ryder in seinen Verhandlungen mit der Polizei bestimmt und autoritär erscheint, aber nie ausfallend wird. Wenn sich die Behörden, darunter Prescott und Correll zudem gegenseitig attackieren und gar handgreiflich werden, anstatt ihre Energien auf die Situation zu verwenden, wirkt das Verhalten schlichtweg unglaubwürdig.
Auch dass jemand, der für die Routenplanung der U-Bahn zuständig ist, seine Arbeit als wichtiger empfinden würde, als das Leben der Geiseln erscheint arg überspitzt. Der Zynismus, mit dem Autor Freedgood die New Yorker darstellt scheint zumindest aus der heutigen Sicht nicht wirklich passend. Es wird geschildert, als würden die Einwohner die Polizeikräfte und die Stadt an sich hassen, während die Polizisten die Bürger und die Stadt hassen. All das ergibt ein künstliches Konfliktpersonal bei den an sich abgesperrten U-Bahnhöfen, die dann von wütenden Passanten gestürmt werden, so dass man sich als Leser fragt, ob ein solch irriges Verhalten denn vor 35 Jahren tatsächlich Gang und Gäbe war. Dass New York selbst lange Zeit im Sumpf der Verbrechen unterzugehen drohte, ehe sich das Bild durch Bürgermeister Rudolph Giuliani wandelte, ist zwar belegt, erscheint aus der heutigen Sicht aber unwirklich. Allein sich ein Bild vorzustellen, bei dem ein Mob aus Menschen in eine führerlose U-Bahn drängt, bei der manche Scheiben herausgebrochen wurden, wirkt beinahe unfreiwillig komisch.
Vom wahlkampfgetriebenen Bürgermeister über den militanten Afroamerikaner bis hin zur egoistischen Edelprostituierten, sind sicherlich zahlreiche Bevölkerungsschichten repräsentiert. Doch mit keiner einzigen Person fühlt man tatsächlich mit. Viele Figuren, die kurz vorgestellt werden, werden im Nachhinein gar nicht mehr beachtet und es gibt auch keinen tatsächlichen Helden, der die Schurken zur Strecke bringt. Der tatsächliche Showdown findet einerseits zwischen den Gaunern selbst statt und mit zwei Gesetzeshütern, die aber jeweils nicht in der Lage sind, die Situation im Ganzen aufzulösen. Wer also auf so etwas wie Stirb langsam [1988] mit einer U-Bahn hofft, der wird definitiv enttäuscht.
Erzählt wird die Geschichte jeweils in kurzen Abschnitten aus der Sicht ausgewählter Personen, wobei darin ihr Gefühlsleben, ihre Erinnerungen und ihre Absichten mit vorgestellt werden. Dass sich die verschiedensten Personen dabei immer wieder Gedanken zu Sex machen, ist zwar nicht unrealistisch, wirkt aber in manchen Momenten überflüssig und erzwungen.

Sprachlich stellt der geradlinig erzählte Thriller dabei keine großen Ansprüche und liest sich erfreulicherweise sehr flott und flüssig. Dass sich viele Figuren mit der Rassentrennung auseinandersetzen und oftmals erwähnt wird, wie sich die Akzeptanz der afroamerikanischen Bevölkerung auch in besser gestellten Berufsgruppen wandelt, ist ein Zeitzeugnis, das auch aus heutiger Sicht nicht vergessen werden sollte.
Die Stärken des Thrillers liegen in der Planung und der Ausführung der Geiselnahme durch die vier Kidnapper, die allesamt unterschiedlich angelegt wurden, um auch die Auswirkungen einer solchen Situation auf verschiedene Persönlichkeiten zur erläutern. Erzählt wird Abfahrt Pelham 1 Uhr 23 sehr schnell und beinahe in Echtzeit. Doch mangelt es dem Roman an tatsächlichen Identifikationsfiguren oder einem richtigen Helden. Das Gefühlsleben der einzelnen Charaktere ist dabei zwar eingangs interessant, wiederholt sich aber schnell und wirkt mit Prototypen wie Aktivisten oder Hippies zu gekünstelt. Die Auflösung des Romans ist dagegen passend und auch nicht unrealistisch – nur einen richtigen Knalleffekt lässt das Buch leider vermissen.


Fazit:
Autor Morton Freedgood zeichnet ein sehr desillusioniertes Bild New Yorks als Stadt voller Einzelgänger, die nur um ihr persönliches Schicksal bemüht sind. Insofern sind die Geiselnehmer keine Ausnahme. Ihre Methode und ihr Vorgehen sind gelungen geschildert und packen insbesondere, wenn man sieht, wie sich ihre Pläne ohne große Mühe in die Tat umsetzen lassen. Doch so gut gemischt die Schurken sind, so einfältig wirken ihre Gegner. Einen richtigen Protagonisten gibt es nicht, und wenn man sich einen aus den gegebenen heraussuchen würde, findet sich niemand, der sympathisch genug ist, damit man mit ihm mitfiebert.
Das Verhalten vieler Charaktere scheint zumindest aus heutiger Sicht unglaubwürdig und wenn sich alle fünf Seiten das Gefühlsleiben mancher Figuren wieder um das Thema Sex dreht, wirkt die Erzählung wie eine Wiederholung ihrerselbst. Durch die interessante Ausgangslage und der umfangreichen Schilderungen der Umgebung, der Personen drum herum und gar der Medien scheint Abfahrt Pelham 1 Uhr 23 beinahe dokumentarisch angehaucht. Doch auch wenn es mehr Fiktion bedurft hätte, um einen Helden zu etablieren, mit dem man mitfiebert, diesen Kompromiss wäre man aus heutiger Sicht gern eingegangen.