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Die Leidenschaft zur Leidensbereitschaft
Treffpunkt: Kritik Sieht man sich die andauernden Aufmärsche in Stuttgart gegen den geplanten Umbau des dortigen Bahnhofs an, oder die Rekordproteste gegen den jüngsten Castor-Transport, dann gewinnt man durchaus den Eindruck, als läge eine Umbruchstimmung in der Luft. Weg vom dauernden "Basta", dem Gemauschel, das allerorts stattfindet und hin zum offenen "wenn ich dafür zahle, dann möchte ich gefälligst auch mitbestimmen!". Während es insbesondere die Politik in den vergangenen Jahrzehnten verstand, die Menschen augenscheinlich einzulullen und hinterrücks aufs Kreuz zu legen, fühlt man sich derzeit ganz offen von den in die höchsten Ämter gekauften Machthabern veräppelt.
Die passive Resignation wurde so lange überspannt, bis sie sich in einen aktiven Widerstand gewandelt hat. Dabei ist die Politik nur eine Baustelle, auf der sich der Protest der Menschen inzwischen formuliert, in vielen Belangen zeigt man derzeit, dass man nicht länger nur alles hinnehmen will – manchmal wird dies dies in Versammlungen und Protestmärschen ausgedrückt, manchmal auch dadurch, dass die Menschen ganz weg bleiben.
Interessant ist dabei insbesondere, dass selbst offenkundig parteiische Tagesblätter inzwischen flexible Loyalitäten entwickelt haben. Während bislang offen links gerichtete Internetseiten[1] und Zeitungen über viele Hintergründe der jüngsten Krankenkassenreform berichteten und damit reinen Tisch mit jenen Berichten machten, wonach der Patient im Mittelpunkt der letzten Änderungen stand[2], lenkten sogar Tageszeitungen, die der jetzigen Regierung sehr zugetan sind, ihren Blick auf einige geplante Änderungen, die einem das kalte Grausen über den Rücken jagen.
So wird beispielsweise von einem Gesetzesvorstoß berichtet[3], nach welchem Pharmaunternehmen die Wirkung von Medikamenten gegen seltene Krankheiten nicht mehr nachweisen müssen. Will heißen, ob die teure Pille, die man als Leidender zu schlucken bekommt, nun eine Verbesserung oder Heilung bewirkt, oder nicht, wäre nicht gewiss. Wer dies kaum für möglich hält, wird feststellen, dass zum Thema Nierenleiden schon seit vier Jahren Medikamente auf den Markt gebracht werden, die selbst laut der Europäischen Arzneimittelbehörde keine nennenswerte Wirkung haben, außer dass sie den Geldbeutel des Patienten erleichtern.

Tragischer Weise werden solche Themen in den großen Tageszeitungen oder auch den Fernsehnachrichten nur oberflächlich angeschnitten und für die Vertiefung der Thematik ins Internet verwiesen. Immerhin können sich die Redaktionen so aus der Misere ziehen und nach wie vor behaupten, man habe umfassend informiert, auch wenn die wenigsten Zuschauer wirklich im Internet nachlesen. Der Informationspflicht ist man also nachgekommen, ohne eine Meinungsbildung aber zu forcieren.
Ebenso geschehen beispielsweise bei der kurzzeitig geplanten Privatisierung der Atom-Endlager[4], oder dem beunruhigenden Fund von Mineralöl in Lebensmitteln[5], der durch die Recycling-Stufen der verwendeten Plastikverpackungen herrührt. Je unangenehmer eine solche Nachricht ist, umso wahrscheinlicher findet man sie nur als Randnotiz in der Zeitung, oder gar ausschließlich im Internet. Dank Suchmaschinen wie Google vergisst das zwar nicht, nur sind dort die meisten Meldungen ebenfalls gut versteckt.
Der offene Lobbyismus, der sowohl im politischen Tagesgeschäft betrieben wird, als auch bei denen, welche die Bevölkerung darüber an sich aufklären sollten, kennt inzwischen keine Grenzen mehr.

Ähnliche Parteilichkeit gibt es momentan bei der Heimunterhaltung und im Kino, wo immer mehr Produktionen und Artikel auf das allrettende 3D zugeschnitten werden. Sieht man sich im Elektrofachhandel um, findet man überall 3D-Fernseher, Notebooks mit 3D-Display, spezielle Demoscheiben mit 3D-Bildmaterial und passend dazu im Drogeriemarkt 3D-Zahncreme, 3D-Haartönung und vieles mehr.
Dabei vergisst die Industrie gern, dass sich die Menschen von der dritten Dimension nicht blenden lassen. Die größten Kinohits des Sommers, Inception, Iron Man 2 und der neueste Twilight-Teil waren allesamt in 2D gedreht und veröffentlicht worden, selbst DreamWorks-Chef Jeffrey Katzenberg gab zu, dass sich die Versprechungen von 3D nicht gelohnt hatten[6]. Mehr noch, geht man nach den reinen Ticket-Verkäufen, war dies der schlechteste Kinosommer seit 13 Jahren in den USA. Lediglich die gestiegenen Ticketpreise und der Aufschlag für das 3D-Kino konnten diesen Trend dennoch in einen Erfolg für die Studios wandeln[7].
Interessanterweise verschob das Studio Warner Bros. die ursprünglich versprochene 3D-Version des ersten Teils des Harry Potter-Finals Heiligtümer des Todes. Das Fantasy-Abenteuer sollte in 3D in den Kinos starten, vor einigen Wochen allerdings kam überraschend der Rückzug des Studios[8]. Da die endgültige Schnittfassung zu spät fertig geworden sei, habe man sich entschieden, keine halbgare 3D-Konvertierung vornehmen zu lassen. Das wird vermutlich auch das größte Manko gewesen sein, immerhin wurden die beiden Teile des Potter-Finales nicht in 3D gedreht, sondern würden (wie schon Warners Kampf der Titanen dieses Jahr) nachträglich in das lukrative Format umgewandelt. Dieser Prozess ist sehr günstig und rechnet sich durch die erhöhten Ticketpreise in wenigen Tagen an den Kinokassen. Für die missratene Konvertierung von Kampf der Titanen musste das Studio viel Kritik einstecken.
Als bekannt wurde, dass die letzten beiden Teile der Harry Potter-Reihe in derselben Art und Weise überarbeitet werden sollten, war der Aufschrei verständlicherweise groß.
Nicht einmal die Langfassung von James Camerons Avatar konnte mehr genügend Menschen ins Kino locken, um den Befürchtungen der Studios ein Ende zu setzen: könnte die 3D-Welle (schon wieder einmal) vorbei sein? Das wird sich letztlich mit der Qualität der vorgestellten Filme entscheiden. Wenn im letzten Quartal nun ein halbes Dutzend neuer 3D-Produktionen anlaufen werden, von denen die Hälfte jedoch nur nachträglich konvertiert wurde, dann fragt man sich als Zuschauer durchaus, ob die Studios das ernst meinen. Zumal zu Gunsten der Optik meist der Inhalt umso eindimensionaler daherkommt.

Man kann nur hoffen, dass die Zuschauer ihrer derzeitigen Neigung treu bleiben und die Filmstudios für ein solches Verhalten konsequent mit dem Fernbleiben abstrafen. Nicht, weil man ihnen den Erfolg nicht gönnen würde, sondern weil man als Zuseher durchaus erwarten darf, dass die horrenden Budgets auch sinnbringend angelegt werden. Wie man an den diesjährigen Filmhits beobachten konnte braucht es keine dritte Dimension, um die Menschen überzeugend in eine Filmwelt zu versetzen. In dem Rahmen darf auch das angezielte Visier der Bitkom, dieses Jahr 100.000 3D-Fernseher in Deutschland zu verkaufen[9], als utopisch angesehen werden. Selbst wenn macht dies angesichts der Haushalte in Deutschland und des angebotenen Programms in 3D immer noch einen geringen Prozentsatz aus, der zusätzlich minimiert wird, wenn die Hersteller bis zum Jahresende wieder neue Techniken ankündigen, wie zuletzt geschehen.

Angesichts der Parolen, dass die Menschen die Gürtel permanent enger schnallen können, während andere die Taschen so voll stopfen, dass sie aus allen Nähten platzen, angesichts der stetigen Verteuerung im Alltag, der immer höheren Abgaben, die im Gesundheitswesen, im Nahverkehr, im Haushalt und sonst überall in den kommenden Wochen erneut anstehen, könnte man denken, die Menschen hätten sich daran gewöhnt immer am falschen Ende der Verteilerkette zu stehen.
Doch es formiert sich Widerstand, still und leise und damit für diejenigen, die sich derzeit noch auf der Gewinnerseite sehen umso gefährlicher. Sei es in offenkundigen Protestaktionen oder der wirksamsten Form der Bestrafung, die der Bevölkerung gegeben ist – dem Konsumverzicht – kristallisiert sich heraus, dass viele ihrer Bereitschaft zu leiden müde sind.
Es bleibt die Hoffnung, dass die Menschen im Zuge dieser langsamen Umwälzung nicht vergessen, wogegen sie sich wehren wollten. Auch das ist in der Vergangenheit schon oft genug geschehen.


[1] jungle-world.com: Nie wieder zum Chefarzt

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