Zeiten des Umbruchs [2022]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 7. November 2022
Genre: Drama

Originaltitel: Armageddon Time
Laufzeit: 115 min.
Produktionsland: USA / Brasilien
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: James Gray
Musik: Christopher Spelman
Besetzung: Michael Banks Repeta, Anne Hathaway, Jeremy Strong, Anthony Hopkins, Jaylin Webb, Ryan Sell, Tovah Feldshuh, Dane West, Landon James Forlenza, Andrew Polk, Richard Bekins, Jacob MacKinnon, Domenick Lombardozzi, John Diehl, Jessica Chastain


Kurzinhalt:

Im Jahr 1980 geht der zwölfjährige Paul Graff (Michael Banks Repeta) auf eine öffentliche Schule in Queens, New York. Auch wenn es ihm dort gefällt, seine Tagträume und seine künstlerische Ader lassen ihn im Schulstoff hinterherhinken. Dies wird nicht besser, als er sich mit dem afroamerikanischen Johnny (Jaylin Webb) anfreundet, der die Klasse wiederholen muss. Gemeinsam geraten sie immer wieder in Schwierigkeiten, bis Pauls Eltern Esther (Anne Hathaway) und Irving (Jeremy Strong) entscheiden, ihn mit Hilfe der finanziellen Unterstützung seines Großvaters Aaron (Anthony Hopkins) auf dieselbe Privatschule wie Pauls Bruder Ted (Ryan Sell) gehen zu lassen. Zu seinem Großvater hat Paul ein sehr gutes Verhältnis, selbst wenn der ihm ins Gewissen redet, dass Paul für seine Überzeugungen eintreten soll, wenn seine neuen Klassenkameraden schlecht über Johnny reden, auf Grund seiner Hautfarbe. Doch Paul muss lernen, dass er in vielerlei Hinsicht bedeutend machtloser ist, als er es sich in seinen jungen Jahren eingestehen mag …


Kritik:
Auf den ersten Blick erscheint das Drama Zeiten des Umbruchs gewohnten Mustern zu folgen, wie es sie oft bei Dramen zu beobachten gibt, die kurz vor oder in der Filmpreissaison veröffentlicht werden. Angefangen von einer namhaften Besetzung in zurückhaltenden Rollen, über die Zeit, in der das Geschehen spielt, bis hin zur eigentlichen Thematik. Doch während die Preiswürdigkeit bei anderen Werken oftmals regelrecht geplant wirkt, erweist sich James Grays Erzählung als zutiefst persönliche Schilderung einer Geschichte über das Erwachsenwerden. Das ist so leise wie zurückhaltend, aber nichtsdestoweniger fesselnd und beeindruckend.

Basierend auf den persönlichen Erlebnissen des Filmemachers, der auch das Drehbuch schrieb, spielt die Geschichte im Jahr 1980. Der zwölfjährige Paul Graff geht auf eine öffentliche Schule, während seine Eltern den älteren Bruder, dank der finanziellen Unterstützung der wohlhabenden Großeltern, auf eine Privatschule gehen lassen. Paul ist dort glücklich, hat fest vor, eines Tages Künstler zu werden, wobei seine Zeichnungen sogar wirklich gut sind. Als er sich mit dem sitzengebliebenen Johnny, einem afroamerikanischen Jungen, anfreundet, findet die Freundschaft keine Zustimmung bei seinen Eltern, selbst wenn sie die Ablehnung nicht auf dessen Hautfarbe zurückführen. Auch ist Paul zu jung, um den Alltagsrassismus zu verstehen, der nicht nur an der Schule kaum zu überhören ist, sondern teilweise auch beim Abendessen der eigenen Familie, die aufgrund ihrer jüdischen Abstammung selbst mit Anfeindungen zu kämpfen hat. Auch kann Paul es kaum einordnen, wenn sein Großvater Aaron, zu dem er ein sehr gutes Verhältnis hat, ihm davon erzählt, wie dessen Mutter vor den Nazis aus der Ukraine in die USA floh, oder was die Gräueltaten bedeuten, die Aaron schildert. Doch sie prägen Paul, so wie das Vertrauensverhältnis zu diesem Mann, der ihn und seine Interessen nie abschätzig behandelt. Doch Paul und Johnny geraten immer wieder in Schwierigkeiten, die mal vom einen, mal vom anderen ausgehen. Als Paul ebenfalls auf die Privatschule kommt, erfährt er hautnah, wie es Privilegierten ergeht, die gleichzeitig von Chancengleichheit reden. Und die rassistische Ressentiments bedienen, die Paul zwar falsch findet, gegen die er aber nicht wagt, sich zu wehren.

Zeiten des Umbruchs schildert die Geschehnisse nicht nur aus Sicht von Paul, das Drama begleitet ihn in einer wichtigen Phase seines jungen Lebens, die ihn prägt, in der er verstehen lernen muss, dass die unbeschwerten Tage der Kindheit vergangen sind. Dass das Ziel so wichtig ist, wie der Weg dorthin – und wie schwer es ist, diesen ohne die wichtigste Bezugsperson in seinem Leben zu gehen. Das klingt nur wenig mitreißend und tatsächlich geschieht im Grunde wenig Offensichtliches. Viel entscheidender ist, welche Beobachtungen James Gray dabei gelingen. Sowohl Paul als auch Johnny haben große Träume, insbesondere Paul aber nur wenig Ahnung von der Welt an sich. Ihre Entscheidungen, so irrational sie von Seiten des Publikums sein mögen, ergeben aus der Sicht von 12jährigen womöglich Sinn. Wer hat als Kind nichts Dummes getan in der Überzeugung, es besser zu wissen, als die Erwachsenen? Doch Paul erfährt am eigenen Leib, dass seine Handlungen Konsequenzen haben. Und wenn er für andere einsteht, tut, was er für richtig hält, selbst, wenn er sich selbst belastet, muss das nicht heißen, dass anderen nicht dennoch Unrecht widerfährt. So wandelt sich im Verlauf des kurzen Zeitraums sein anfangs freches Auftreten mit seinem großen Mundwerk. Zusehends findet er seinen Platz in dieser Gesellschaft, deren Scheinheiligkeit er am Ende buchstäblich den Rücken kehrt.

Das zu beobachten, ist wertvoll und wichtig. Es ist vor allem von der Besetzung, darunter insbesondere Michael Banks Repeta in der Hauptrolle, herausragend gespielt. Die Momente zwischen Paul und seinem Großvater, der beinahe wie ein Mentor für ihn ist, sind das Herzstück des Films. Anthony Hopkins’ Darbietung mit der Weisheit und dem seelischen Schmerz des Alters beim Blick auf Aarons Leben, in dem er immer wieder Ungerechtigkeiten erfahren hat und nun sieht, wie diese auf andere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt werden, ist eine der besten des Jahres. Dem stehen Anne Hathaway und Jeremy Strong in nichts nach, die so viel mehr Zwischentöne ihrer Figuren erkennen lassen, als man anfangs zu sehen vermag, oder als Paul einordnen kann. Von der Mutter, die von der Sorge um die Zukunft ihrer Kinder getrieben wird, bis hin zu Pauls Vater, der wider Willen zum Patriarchen der Familie werden muss, auch wenn diese Position zu groß für ihn ist und er bislang Stärke mit Gewalt kompensiert hat. Ebenso sehenswert ist Jaylin Webb als Pauls Freund Johnny, dessen Blick mehr verrät, als seine Dialoge.

Die Besetzung zeichnet Zeiten des Umbruchs ebenso aus wie die handwerkliche Umsetzung, die der Geschichte angemessen zurückhaltend gewählt ist. Passiv. Sich darauf einzulassen erfordert Geduld, aber nur abseits einer lauten Inszenierung sind die Zwischentöne der Charakterentwicklungen auch zu vernehmen. Als Porträt dieses jüdisch-amerikanischen Jungen, der seine Grenzen aufgezeigt bekommt, ist das wenig ermutigend, insbesondere in Anbetracht der Verbindungen in unsere heutige Zeit und die mächtige, politische Elite. Es scheint beinahe, als wollte sich Filmemacher Gray für manche Entscheidungen seiner Kindheit entschuldigen, als schäme er sich dafür (dies müssen nicht die hier gezeigten sein). Blickt man selbst zurück, wer könnte behaupten, es ginge einem nicht ebenso?


Fazit:
Anstatt ein lautes, effektvolles Drama voller Allüren oder überspitzter Momente zu zeichnen, entscheidet sich Regisseur James Gray für ein geradezu ehrlich anmutendes Porträt seiner Hauptfigur, das ohne nostalgische Verklärung jener Zeit auskommt. Womöglich in der Darstellung der eigenen Rechtschaffenheit schließlich etwas zu versöhnlich mit sich selbst, überzeugt die (auto)biografische Nacherzählung der prägenden Zeit der gezeigten Kindheit durch eine fantastische Besetzung und eine gleichermaßen behutsame wie authentische Inszenierung. Zeiten des Umbruchs ist ein intimer, spürbar persönlicher und starker Film für ein ruhiges Publikum. Dieser Umbruch ist nicht laut, er findet in der inneren Haltung seiner Hauptfigur statt. Das macht ihn nicht weniger bedeutend. Oder sehenswert. Klasse!