Wir [2019]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 13. März 2019
Genre: Horror / Thriller

Originaltitel: Us
Laufzeit: 120 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Jordan Peele
Musik: Michael Abels
Darsteller: Lupita Nyong’o, Winston Duke, Elisabeth Moss, Tim Heidecker, Yahya Abdul-Mateen II, Anna Diop, Evan Alex, Shahadi Wright Joseph, Madison Curry, Cali Sheldon, Noelle Sheldon


Kurzinhalt:

Als die Familie Wilson zu ihrem Sommerhaus am Strand fährt, kommen bei Adelaide (Lupita Nyong’o) stückweise Erinnerungen hoch an ein Erlebnis ihrer Kindheit. Vor allem als ihr Mann Gabe (Winston Duke) vorschlägt, mit Tochter Zora (Shahadi Wright Joseph) und ihrem jüngeren Bruder Jason (Evan Alex) die Strandpromenade zu besuchen, beschleicht Adelaide ein düstere Vorahnung. Am späten Abend will sie Gabe überzeugen, wieder zurückzufahren, da kommt Jason in ihr Schlafzimmer und sagt, es stünde eine Familie in der Einfahrt. Tatsächlich stehen dort im Schatten vier Gestalten, die auf Gabes Aufforderung zu verschwinden, nicht reagieren. Im Gegenteil, sie verschaffen sich Zutritt zum Haus und kurz danach beginnt für die Wilsons ein wahrer Alptraum, denn diese Fremden scheinen wie düstere Spiegelbilder von ihnen selbst …


Kritik:
Um eines gleich vorwegzunehmen, Wir ist ziemlich sicher der beste Horrorfilm, der dieses Jahr im Kino zu sehen sein wird. Dass er zugleich immens einfallsreich ist, außerdem unterhaltsam und aktuelle gesellschaftliche Themen auf den Punkt bringt, unterstreicht das Gespür für intelligentes Geschichtenerzählen, das Regisseur Jordan Peele bereits bei Get Out [2017] bewiesen hat. Auch hier überzeugt er mit einem Auge für eindrucksvoll unheilvolle Bilder und entlockt seiner Besetzung preiswürdige Darbietungen.

Zur eigentlichen Story sollte man nicht mehr verraten, als die Trailer bereits preisgegeben haben, auch wenn sie in einer Hinsicht eigentlich zu viel zeigen. Wir beginnt im Jahr 1986 bei einer Strandpromenade in Santa Cruz. Der Prolog handelt von einem kleinen Mädchen, das von seinen Eltern getrennt wird und allein umherwandert. Am Strand findet es den Eingang für ein Kabinett, wo es sich in ein Spiegellabyrinth verläuft. Bereits hier zeigt der Filmemacher, wie gut er es versteht, Atmosphäre und Spannung ohne Worte zu erzeugen. Die Perspektive versetzt das Publikum auf Augenhöhe mit dem Mädchen und obwohl sie kaum etwas sagt, besteht kein Zweifel, was in ihr vorgeht. Ihre Neugier ist ebenso sichtbar wie ihre Angst angesichts dessen, was sie vorfindet. Viele Einstellungen im Film können mit einer zusätzlichen Bedeutung interpretiert werden und nicht zuletzt der Verweis auf den Bibelvers Jeremia 11,11 kündigt bereits an, dass etwas Schlimmes geschehen wird.

Der Hauptteil der Geschichte spielt in der heutigen Zeit bei der Familie Wilson, die zu ihrem Sommerhaus am Strand fährt. Man erfährt nicht viel über sie, außer dass sie ganz normale Leute sind, die der gehobenen Mittelschicht angehören. Tochter Zora verbringt die meiste Zeit mit ihrem Smartphone und ist einzig darum besorgt, wie gut der WLAN-Empfang in ihrem Domizil ist. Ihr jüngerer Bruder Jason spielt dagegen lieber. Ihre Mutter Adelaide ist dem Publikum aus dem Prolog bekannt. Zusammen mit ihrem Mann Gabe, der die Zeit mit der Familie sichtlich genießt, könnte dies ein ganz normaler Urlaub sein, das lassen auch die heiteren Momente aus dem Familienleben erahnen. Doch auch hier verlieren die Perspektiven oder der Szenenrhythmus und die schlicht fantastische Musik nie aus dem Blick, dass etwas Unheimliches passieren wird – oder zumindest passieren könnte.

Ist es anfangs nur so eine Ahnung von Adelaide, als sich Zufälle, seltsame Muster häufen, kippt die Stimmung in Wir von einem Moment auf den anderen, als Jason seinen Eltern nachts, gerade als der Strom ausgefallen ist, sagt, dass eine Familie in ihrer Einfahrt stehen würde. Zwar behält Filmemacher Peele auch hier den teils trockenen Humor bei, aber er wird für den Moment, da die Bedrohung sicht- und spürbar wird, beinahe vollständig außen vor gelassen. Stattdessen werden die einzelnen Einstellungen länger. Der Regisseur verwehrt seinem Publikum in den Momenten, die man mit den Wilsons als Gefangene in ihrem eigenen Haus erlebt, den rettenden Schnitt von einer Perspektive zur nächsten, der die Spannung lösen würde. Er setzt das Publikum unmittelbar an die Seite der zentralen Figuren, was besonders bei der Flucht im Auto deutlich wird, die man einzig aus der Fahrerkabine heraus erlebt.

Die Familie, die die Wilsons bedroht, sind Spiegelbilder ihrer selbst, gekleidet in rote Overalls und mit Scheren bewaffnet. Das bedeutet aber auch, dass die Darsteller jeweils in einer Doppelrolle zu sehen sind. Die Darbietung von Lupita Nyong’o ist schlichtweg atemberaubend und offenbart eine Bandbreite an Emotionen, die von verängstigt bis zu einer unbezwingbaren und entfesselten Rage reicht. Als Familienvater Gabe sorgt Winston Duke für viele komödiantische Momente, die den Ton des Films merklich anheben. Gleichzeitig gelingt ihm aber auch ein subtiles und vielschichtiges Porträt als jemand, der von sich selbst und von dem von anderen erwartet wird, dass er dieser Bedrohung besser gewachsen ist. Allein seine Zwischentöne zu Beginn des Aufeinandertreffens mit ihren „Schatten“ sind bemerkenswert. Ebenso Evan Alex und Shahadi Wright Joseph als Jason und Zora. Dass auch die schwarzhumorigen Szenen mit den jungen Darstellerinnen und Darstellern überzeugen, ist nicht die einzige Überraschung.

Mit zwei Stunden ist Wir knapp 15 Minuten zu lang und sieht man, dass sich der Überlebenskampf der Familie Wilson im Mittelteil inhaltlich wiederholt, ist gut zu erkennen, wo man die Erzählung hätte straffen können. Das heißt nicht, dass nicht alle Szenen ihren Sinn und Zweck hätten, ganz im Gegenteil. Sogar die Texttafel zu Beginn und der ungewöhnliche Vorspann haben eine Bedeutung, die sich im Verlauf des Films erschließt, und die sich in das stimmige Gesamtbild einfügen. Sie runden einen Film ab, dessen Aussage mehr überrascht als der gezeigte Horror. Doch das ist kein Kritikpunkt.


Fazit:
Was Jordan Peeles zweite Regiearbeit, Wir, ausmacht, ist, welche Unterschiede der Film vereint. Sei es zwei Genres, die schwerer nicht zusammenpassen, die so unterschiedlichen musikalischen Themen, die eben das unterstreichen, oder eine anspruchsvolle Geschichte, deren Subtext man nicht sehen muss, um sich unterhalten zu lassen, der den Film jedoch auf ein anderes Niveau hebt, wenn man es tut. Gewissermaßen wird dem gesellschaftlichen Horror durch den gezeigten lediglich Ausdruck verliehen. Peele gelingt ein Film, der sich auf so unterschiedliche Arten interpretieren lässt, mit einer Leichtigkeit, dass etablierte Filmemacher vor Neid erblassen werden. Trotz der etwas zu langen Laufzeit überzeugt der Erzählrhythmus, der eine tolle Balance zwischen Horror und Humor findet und nicht nur die Stimmung ausmacht, sondern den Figuren Raum gibt, sich zu entfalten. Wie gesagt, Wir ist höchstwahrscheinlich der beste Horrorfilm des Jahres, dessen gesellschaftsrelevante Themen nicht aufgesetzt erscheinen, sondern mit der DNA der Geschichte verwoben sind. Das sorgt sicher für Diskussionsbedarf beim Publikum, ist aber genauso überraschend wie sehenswert. Klasse!