Was Marielle weiß [2025]
Wertung:
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Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 19. März 2025
Genre: Drama
Laufzeit: 86 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2025
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt
Regie: Frédéric Hambalek
Besetzung: Julia Jentsch, Felix Kramer, Laeni Geiseler, Mehmet Ateşçi, Moritz Treuenfels, Sissy Höfferer, Victoria Mayer, Nadja Sabersky, Marion Mikerhammer
Kurzinhalt:
Als Julia (Julia Jentsch) ihre Teenagertochter Marielle (Laeni Geiseler) nach dem letzten Schultag vor den Ferien abholt, spürt sie bereits, dass etwas vorgefallen sein muss. Später, beim gemeinsamen Abendessen mit Vater Tobias (Felix Kramer), erzählt Marielle, dass ihre Mitschülerin sie geohrfeigt hat, nachdem Marielle sie beleidigte. Doch das Schlimme ist, seit der Ohrfeige kann Marielle sehen und hören, was ihre Eltern tun – ständig, auch wenn sie nicht bei ihnen ist oder sogar schläft. So weiß Marielle, dass ihr Vater nicht die Wahrheit sagt, wenn er erzählt, dass er von seinem Kollegen Sören (Moritz Treuenfels) in der Arbeit bloßgestellt wurde, sich aber behauptet hat. Denn nach der Bloßstellung hat Tobias klein beigegeben. Auch hat Marielle miterlebt, wie ihre Mutter in der Arbeit heimlich mit ihrem Kollegen Max (Mehmet Ateşçi) geraucht hat und sie sich dabei über eine mögliche Affäre unterhalten haben, da Julia das Ehe- und Familienleben anödet. Auch wenn Marielle die mögliche Affäre nicht anspricht, über den Rest informiert sie ihre Eltern, die unterschiedlich reagieren. Sie streiten zwar alles ab, aber je länger die Situation anhält und je mehr Marielle ihnen aus ihrem Alltag erzählt, umso mehr beginnen Julia und Tobias, ihr Verhalten anzupassen. Wie sehr Marielle dies belastet, ist dabei nachrangig …
Kritik:
Filmemacher Frédéric Hambalek erzählt in seinem ungewöhnlichen Was Marielle weiß von familiären wie gesellschaftlichen Themen, die heute aktueller sind denn je. Ausgehend von der Frage, was es mit einer Familiendynamik anrichtet, wenn das Kind alles sieht und hört, was seine Eltern tun, entspinnt das Drama eine Geschichte um Vertrauen, Selbstwert und die elterliche Vorbildfunktion, die oftmals amüsant erscheint, im Kern aber umso tragischer ist. Das richtet sich zwar eher an ein ruhiges Publikum, das jedoch viele feine Beobachtungen erwartet.
Alles beginnt, als die Jugendliche Marielle am letzten Schultag vor den Ferien von ihrer Freundin geohrfeigt wird. Dass etwas nimmt stimmt, bemerkt ihre Mutter Julia bereits, als sie Marielle von der Schule abholt und sie bei einer Berührung zurückweicht. Denn wie sie ihren Eltern beim Abendessen erzählt, kann Marielle seit der Ohrfeige alles sehen und hören, was ihre Eltern tun. So hat sie auch mitbekommen, dass ihre Mutter auf Arbeit heimlich geraucht und sich mit ihrem Kollegen Max darüber unterhalten hat, wie langweilig sie das Ehe- und Familienleben findet. Sie haben sich über sexuelle Fantasien ausgetauscht und fantasiert, eine Affäre zu führen. Dies spricht Marielle zwar nicht offen an, aber, dass ihr Vater Tobias, der Buchcover entwirft, in der Arbeit von seinem Kollegen Sören vor versammelter Mannschaft bloßgestellt wurde. Beim Essen erzählt Tobias, dass er sich anschließend behauptet und Sören in die Schranken gewiesen habe. Doch Marielle stellt klar, dass dies nicht stimmt.
Julia und Tobias gehen unterschiedlich mit Marielles detaillierten Schilderungen ihres Alltags um, zumal Marielle sie ebenfalls sieht, wenn sie schläft, also alles mitbekommt, was ihre Eltern über sie sagen, wenn sie nicht dabei ist. Während Tobias Marielles Richtigstellung leugnet und vor seiner Frau vertritt, dass ihre Tochter nur zufällig einige Details erraten hat, glaubt Julia, dass ihre Tochter tatsächlich urplötzlich eine solche Fähigkeit entwickelt hat, selbst wenn sie Tobias gegenüber immer noch abstreitet, dass sie heimlich geraucht haben soll. Die potentielle Affäre hat Marielle immerhin noch nicht angesprochen. Je länger allerdings dieser Zustand der ständigen Beobachtung durch ihre Tochter dauert, umso mehr verändern sich Julia und Tobias in ihrem Verhalten. Zum einen beginnen sie, sich auf Französisch zu unterhalten, wenn Marielle sie nicht verstehen soll, selbst wenn sie gar nicht im Raum ist. Zum anderen spornt die Situation Tobias an, sich so zu verhalten, wie er es seiner Tochter erzählen will, selbst wenn er immer noch nicht zugibt, dass Marielle sehen kann, was er tut. Darum setzt er sich im Büro, untypisch für ihn, tatsächlich durch, obwohl er damit seine Kolleginnen und Kollegen vor den Kopf stößt. Ganz anders bei Julia, die sich gegenüber Max anders auf Arbeit gibt, aus Angst, ihre Tochter könnte dies sehen. Es ist ein gelungenes Bild dafür, wie sich Menschen anders verhalten, allein aus der Angst heraus, jeder ihrer Schritte könnte überwacht werden.
Dies geht so weit, dass sich Tobias selbst unter Druck setzt, dem Bild dessen zu entsprechen, wer er vor seiner Tochter sein will und dann zu Mitteln greift, die ihm gar nicht entsprechen. Julia hingegen gibt schließlich ihrem Impuls nach, auch wenn ihre Tochter sie dabei sieht. Auf diese Weise dreht Was Marielle weiß die Dynamik zwischen den Figuren gekonnt um, wobei diejenige, die unter der Situation am meisten leidet, immer noch Marielle ist, selbst wenn sie im Mittelteil nur eine untergeordnete Rolle spielt. Auf sie nimmt niemand Rücksicht, sie wird mit dem Verhalten ihrer Eltern ungefiltert konfrontiert, ohne sich jemandem anvertrauen zu können. Abseits der Themen der Privatsphäre, gerade innerhalb der Familie, beleuchtet Regisseur Hambalek damit auch, wie es Kinder belastet, wenn Erwachsene ohne Zurückhaltung nach außen tragen, was sie beschäftigt. Ist es dabei nicht auch an Eltern, ihre Kinder genau vor einem solchen Einfluss zu schützen und dienen alltägliche Schwindeleien, wenn das eigene Verhalten etwas anders dargestellt wird, als es war, nicht genau dazu?
Dies sind ebenso interessante Themen wie die Frage, ob es in einer Beziehung, in der jeder Schritt gesehen wird, überhaupt noch Vertrauen braucht. In den einzelnen Situationen mag dies mitunter durchaus amüsant präsentiert sein, doch die grundlegende Thematik von Was Marielle weiß ist überaus ernst, was vor allem die junge Laeni Geiseler in der Titelrolle mit einer starken Darbietung zur Geltung bringt. In den Hauptrollen verkörpern Julia Jentsch und Felix Kramer gekonnt ein Ehepaar, das unterschiedliche Vorstellungen von ihrem Zusammenleben hat, und dessen Wünsche durch die Situation offengelegt wird, ohne genau benennen zu wollen oder zu können, wo dies hinführen soll. Ähnlich ergeht es auch dem leichtfüßigen Drama selbst, in dem der familiäre Konflikt merklich brodelt, aber nie wirklich zum Ausbruch kommt. Anstatt dass Julia und Tobias in einem klärenden Streit die Fronten abstecken, halten sie sich durchgehend beide zurück. Es fehlt somit in gewisser Hinsicht eine Dramatik, die das Publikum tatsächlich packt. Hinzu kommt, dass die Erzählung keine Auflösung findet, sondern in gewisser Weise so endet, wie sie beginnt. Das mag hinsichtlich familiärer Konfliktsituationen realistisch sein, die sich in der Regel nicht plötzlich auflösen, sondern im Laufe der Zeit im Alltag abebben, aber es lässt die Erzählung auch unfertig erscheinen.
Fazit:
Wie explosiv die Grundidee ist, ist insbesondere nach Julias Gespräch mit ihrem Kollegen zu Beginn offensichtlich. Doch trotz der interessanten Fragen, die Was Marielle weiß aufwirft und mit Hintersinn beleuchtet, dass es nie zu einem großen Eklat kommt, die Figuren stets reserviert erscheinen, ist so schade, wie dass keine der verschiedenen Entwicklungen der Figuren zu einem wirklichen Abschluss geführt wird. Es ist beinahe, als wäre Filmemacher Frédéric Hambalek gar nicht darum bemüht, seine Charaktere an einen Punkt zu bringen, so dass sie nach alledem ihr weiteres Leben bestreiten können, in welcher Konstellation auch immer. Nach nicht einmal eineinhalb Stunden, wenn die Ferien zu Ende sind, endet auch die Erzählung überraschend. Man mag das so interpretieren, dass Menschen, auch wenn sie unter Überwachung stehen, irgendwann ihr Leben einfach weiterführen, selbst wenn sie ihr Verhalten in die ein oder andere Richtung angepasst haben. Wirklich befriedigend ist diese Auflösung aber für keine der Beteiligten, denen man wenigstens so etwas wie ein gemeinsames Ziel wünschen würde. Ein ruhiges Publikum, das sich auf eben diese feinen Beobachtungen einlässt, wird dennoch oder gerade deshalb viel mehr finden, als es auf den ersten Blick erscheint.