The Outrun [2024]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 30. November 2024
Genre: Drama

Originaltitel: The Outrun
Laufzeit: 118 min.
Produktionsland: Großbritannien / Deutschland
Produktionsjahr: 2024
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Nora Fingscheidt
Musik: John Gürtler, Jan Miserre
Besetzung: Saoirse Ronan, Saskia Reeves, Stephen Dillane, Scott Miller, Lauren Lyle, Paapa Essiedu, Izuka Hoyle, Eilidh Fisher, Naomi Wirthner, Danyal Ismail, Posy Sterling, Patch Bell, Nabil Elouahabi, Jack Rooke, Seamus Dillane, Conrad Williamson, Tony Hamilton, Ammar Younis


Kurzinhalt:

Aufgewachsen an den rauen Küsten der nördlichsten Inseln Großbritanniens, kehrt Rona (Saoirse Ronan), die an sich in London studiert, dorthin zurück. In den Jahren in der Stadt ist sie dem Alkohol verfallen und immer weiter abgerutscht, bis selbst ihr Freund Daynin (Paapa Essiedu) sie verlassen hat. Nach einem dreimonatigen Entzug hilft sie in Orkney ihrem Vater Andrew (Stephen Dillane), der selbst an gesundheitlichen Problemen leidet, auf dem Bauernhof, um einen Weg zurück in den Alltag zu finden. Auch besucht sie ihre Mutter Annie (Saskia Reeves), die sich von ihrem Mann getrennt hat und Trost in einer Glaubensgemeinschaft sucht. Dort in ihrer Heimat hat sie die Zeit zu überlegen, was sie mit ihrer Zukunft anfangen möchte. Doch dafür muss sie sich auch ihrer Vergangenheit stellen. Die Versuchung, rückfällig zu werden, lauert allerorts …


Kritik:
Basierend auf den 2016 erschienenen Memoiren der schottischen Autorin und Journalistin Amy Liptrot begleitet Filmemacherin Nora Fingscheidt in The Outrun eine junge Frau auf ihrem Weg aus der Alkoholsucht. Von Hauptdarstellerin Saoirse Ronan ist das eindringlich wie facettenreich gespielt und in gleichermaßen raue wie schöne Bilder gekleidet. Doch die Art der Erzählung macht es schwer, mit der Figur im Zentrum mitzufiebern, was nicht bedeutet, dass dies nicht sehenswert wäre. Im Gegenteil.

Eine der zahlreichen negativen Folgen von übermäßigem Alkoholkonsum sind Auswirkungen auf das Kurz- und Langzeitgedächtnis. Vielleicht möchte Regisseurin Fingscheidt, die das Drehbuch zusammen mit Liptrot selbst schrieb, durch die Erzählung außerhalb der chronologischen Reihenfolge eben dies unterstreichen. Sicherlich sind die zeitlichen Sprünge, zurück in die Zeit, in der Hauptfigur Rona in London Biologie studiert, oder in eine Zeit, in der sie erstmals einen Entzug bzw. wenn sie sich später auf die Suche nach einem nachhaltigen Weg aus der Sucht macht, als Stilmittel zu verstehen. Doch was dieses Stilmittel tatsächlich bewirken soll, ist schwer zu greifen.

Begleitet von Ronas Erzählungen, die sich um die Landschaft der schottischen Inselgruppe Orkney drehen, beginnt die Geschichte, als Rona an einem (weiteren) Tiefpunkt angekommen ist. Verletzt ist die junge Frau im Krankenhaus angekommen. Zuvor hat sie in einer Bar in London die nicht ausgetrunkenen Gläser geleert, ehe sie hinausgeworfen wurde. Sie ist dort bekannt und offenbar ist es nicht das erste Mal. Nach einem dreimonatigen Entzug reist sie zu ihrer Familie nach Orkney. Ihre Eltern sind geschieden, die Mutter dem Glauben zugewandt und ihr Vater lebt inzwischen in einem Wohnwagen auf dem Bauernhof, den er betreibt. Das Haus musste er verkaufen. Dort hilft sie ihrem Vater, den Hof zu bewirtschaften, während dieser auf Grund seiner Erkrankung immer wieder von depressiven Schüben heimgesucht wird. Erst, als Rona für eine Vogelschutzorganisation tätig wird, scheint es bergauf zu gehen. Bis der Druck auf sie zu groß wird.

Rona selbst sagt zu ihrer Situation, dass sie nüchtern nicht glücklich werden wird. Es ist eine Aussage, aus der nicht nur eine geradezu hoffnungslose Melancholie mitschwingt, sondern auch eine Erkenntnis, die vielen von einer Sucht betroffenen Menschen nicht gelingt. The Outrun beleuchtet diese Frau, die nicht weiß, was sie ursprünglich zum Alkohol trieb und die irgendwann an dem Punkt ankommt, dass sie Flaschen überall in der Wohnung verteilt. Nach dem Entzug und einem erneuten Rückfall zieht sie die einzige Konsequenz, die für sie Sinn ergibt, und isoliert sich weiter auf einer der nördlichsten der Orkney-Inseln. Ist das Leben dort, wo sie mit ihrer Familie lebte, bereits von rauen Naturgewalten geprägt, ist dies auf „Papa Westray“ noch extremer. Auf sich allein gestellt und in Anbetracht der Natur, findet sie dort zu sich selbst und Regisseurin Nora Fingscheidt zahlreiche Bilder, die die Katharsis ihrer Hauptfigur gelungen wiedergeben.

Aber nicht nur, dass sich diese Eindrücke häufig wiederholen und zusammen mit Archivaufnahmen der Insel sowie Ronas Beschreibungen der Flora und Fauna den Fokus der Erzählung von einem Drama hin zu einem Reisetagebuch lenken, was durchaus der Vorlage entspricht, der dramaturgische Aufbau macht es schwer, mit der Figur tatsächlich mitzufühlen. In einer herkömmlichen Dramaerzählung begleitet man die Hauptfigur durch ihr tiefes Tal und wie sie daraus emporsteigt, ggf. mit den damit verbundenen Rückschlägen. Doch die ständigen Sprünge in der Zeit, die unter anderem daran sichtbar werden, dass sich Ronas Frisur verändert, ihre blaugefärbten Haare im nächsten Moment blond mit blauen Spitzen sind, vermischen ihre Hoch- und Tiefphasen. Das mag dem tagtäglichen Kampf gegen die innere Sucht entsprechen, doch eine tatsächliche emotionale Bindung stellt sich so kaum ein.

Erschwerend kommt hinzu, dass die allermeisten Rückblenden keinen „Auslöser“ besitzen. Anders beispielsweise ganz am Ende, wenn Rona am Strand von einer Erinnerung überschwemmt wird und sich buchstäblich dagegenstemmt. In aller Regel jedoch reiht Fingscheidt die Einblicke in Ronas Reise lediglich aneinander. Zeigt sie in einem Moment gefestigt, im nächsten sturzbetrunken beim Feiern. So lässt The Outrun keinen roten Faden in der Erzählstruktur erkennen, zumindest keinen, der eine emotional greifbare Wirkung entfalten würde. Dass das Ergebnis dennoch überzeugt, ist Saoirse Ronan zu verdanken, die sichtbar engagiert ihrer Figur auch dann Facetten entlockt, wenn die Kamera geradezu unangenehm dicht jede Regung einfängt. Als eine der begabtesten Darstellerinnen ihrer Generation beweist sie hier eine wettergegerbte Natürlichkeit, die unter die Haut geht. Ihr ist es zu verdanken, dass die wenigen Male, die man Rona lachen sieht, unversehens berühren und sich auf das Publikum übertragen. Die Darstellung dessen, was sie durchmacht, ist ebenso erschreckend, wie der schleichende Abstieg betroffen macht. Doch anstatt ihren Weg heraus aus der Sucht nachhaltig wirken zu lassen, fragmentiert The Outrun ihren Werdegang, ohne dass dies einen wirklichen erzählerischen Mehrwert bringen würde. So muss man sich die Geschichte mehr erschließen, als dass man sie begleitet und die Frage wirkt deutlich nach, ob dies die beste Möglichkeit ist, sie zu erzählen.


Fazit:
„Es wird nie einfach. Es wird nur weniger schwer.“ Bis Rona diese Erkenntnis von einem anderen, trockenen Alkoholsüchtigen hört, hat sie den ersten Teil ihrer Reise, die den Rest ihres Lebens dauern wird, schon beinahe überstanden. Doch stammt die Aussage nicht von ihrem Mentor. Überhaupt hat sie niemanden an ihrer Seite, der sie begleitet. Vielmehr erkämpft sie sich ihren Weg allein. Dies ist ergreifend und preiswürdig gespielt, eingerahmt in Landschaftsaufnahmen jener windgepeitschten Inseln, die so rau und ungezähmt, wie sie gleichzeitig wunderschön sind. Filmemacherin Nora Fingscheidt gibt ihrer Hauptdarstellerin den Raum, die Figur in allen Tiefen und den wenigen Höhen auszuloten. Doch es fällt schwer, sich auf sie einzulassen in Anbetracht der unnötig sprunghaften Struktur der Erzählung, die mehr auf die Emotion der Bildersprache Wert zu legen scheint, denn Ronas Entwicklung durchgängig zu begleiten. The Outrun ist stark gespielt und toll bebildert. Nur was diese merklich authentischen Aspekte verbindet, ist zu schwer greifbar, um wirklich mitzureißen. Das ist schade, schmälert aber nicht, wie gut der Rest gelungen ist.