Sultanas Traum [2023]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 12. Januar 2024
Genre: Animation / DramaOriginaltitel: El sueño de la sultana
Laufzeit: 86 min.
Produktionsland: Deutschland / Spanien
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren
Regie: Isabel Herguera
Musik: Gianmarco Serra
Stimmen: Miren Arrieta, Mary Beard, Roberto Bessi, Miren Gabilondo, Nausheen Javeed, Debjani Mukherjee, Paul B. Preciado, Ranjitha Rajeevan
Kurzinhalt:
Die spanische Künstlerin Inés (Miren Arrieta) lebt in Indien und stößt in einer Buchhandlung auf die utopische Novelle „Sultanas Traum“ von Rokeya Sakhawat Hussain. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnete die visionäre Autorin das Bild eines Landes, in dem Frauen ein friedliches Land regieren, während Männer zu Hause bleiben. Es ist ein Land voller Möglichkeiten für die Frauen, in der sie in Wissenschaft, Kunst und Politik erfolgreich sind. Inés ist fasziniert und macht sich auf, die Ursprünge der Geschichte und der Autorin zu recherchieren. Was sie findet, ist in Anbetracht der Widrigkeiten, die Hussain in ihrer Zeit überkommen musste, nur noch inspirierender – und angesichts dessen, wie wenig sich die Situation der Frauen seither verbessert hat, umso entmutigender. Dabei hat auch Inés Erfahrungen machen müssen, die sie selbst ebenso geprägt haben wie ihr Verhältnis anderen Menschen gegenüber …
Kritik:
Der nicht an ein kindliches Publikum gerichtete Animationsfilm Sultanas Traum ist keine Verfilmung der gleichnamigen Novelle der bengalischen Schriftstellerin und Sozialarbeiterin Rokeya Sakhawat Hussain aus dem Jahr 1905. Vielmehr ist es es eine (autobiografische) Nacherzählung der Entdeckungsreise von Filmemacherin Isabel Herguera zu den Ursprüngen jener Autorin. Ihr Spielfilmregiedebüt ist beeindruckend zum Leben erweckt und von einer geradezu schmerzlichen Relevanz und Dringlichkeit. Doch wartet es weder mit einem Appell auf, noch mit einer positiven Botschaft, was das Gezeigte nur umso bedrückender macht.
Erzählt wird die Geschichte von der spanischen Künstlerin und Animationsfilmemacherin Inés, die sich eingangs an ihre Kindheit erinnert. Damals wartete sie in einem Park auf ihren Vater, der jedoch nicht kam. Als die Nacht hereinbrach, bemerkte sie einen Mann, der sie beobachtete. Je länger Inés wartete, umso mehr Angst bekam sie. Inzwischen eine junge Frau, findet sie in einer Buchhandlung in Ahmenabad in Indien die feministische Utopie-Novelle Sultanas Traum – Die furchtbare Rache an den Männern von Rokeya Sakhawat Hussain. Darin beschreibt die Autorin den Ort „Ladyland“, in dem Frauen das Land regieren, während die Männer sich um die Hausarbeit kümmern. Die Herrscherin von Ladyland erläutert der Hauptfigur in dem Buch, dass anstatt die Frauen wegzusperren, um sie zu beschützen, die wilden Bestien weggesperrt werden – die Männer. Die Beschreibung einer Welt, in der Frauen keine Angst haben müssen, freien Zugang zu Bildung und Wissenschaft, zu den Künsten und sämtliche Möglichkeiten erhalten, fasziniert Inés, die sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Autorin und dem sagenumwobenen Land der Frauen macht.
Während ihres Road Trips besucht sie ihre getrennt lebenden Eltern in Spanien, wobei ihr Vater, ebenfalls ein Filmemacher, Inés trotz seiner Abwesenheiten in ihrer Kindheit stärker beeinflusste, als sie sich eingesteht. Auch berichtet sie ihrem Partner Amar von ihrer Reise, von dem sie sich gleichermaßen nicht verstanden fühlt, wie sie ihn vermisst. Inés bereist Hussains Geburtsort Pairabondh, erfährt, dass sie aus einer Familie muslimischer Landbesitzer stammte, jung verheiratet wurde und heimlich Lesen und Schreiben in englischer Sprache lernte. Weil man fürchtete, dass der Einfluss der Männer schwinden würde, würde man Frauen den Zugang zur Bildung ermöglichen, war sie für den Haushalt verantwortlich. Ihr Werk Sultanas Traum spiegelt die Welt wieder, die die Autorin selbst nie erleben durfte. Eine Welt, in der Frauen in Freiheit und Unversehrtheit leben können, eine Welt voller Hoffnung. Dem gegenüber scheint die Welt, die Inés beinahe 100 Jahre später vorfindet, geradezu schmerzhaft wenig vorangekommen. In der indischen Stadt Vrindavan leben viele verwitwete oder von Männern verlassene Frauen zurückgezogen in einer abgeschiedenen Gemeinschaft, da sie von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Immer noch wird von Frauen erwartete, bestimmte Rollen zu erfüllen, stets zu lächeln, „verfügbar“ zu sein, und in vielen Ländern der Welt wird ihnen der Zugang zu Bildung vorenthalten oder erschwert. Von der sozialen Unsicherheit im Alter ganz zu schweigen.
Was hat Rokeya Sakhawat Hussain zu einer solch hoffnungsvollen Vision beflügelt? Wie wurde sie als islamische Feministin zu einem leuchtenden Stern des Kampfes für Gleichberechtigung in Indien, die eine Schule gründete und so viele Mädchen und Frauen inspirierte? Auf ihrer Reise nähert sich Filmemacherin Isabel Herguera dieser Inspiration an und schildert dabei die Ungleichbehandlung der Geschlechter auch heutzutage, ebenso wie die Abhängigkeit und die Objektivierung von Frauen. In der Regel nicht ausgesprochen, sondern beobachtend, in Bildern und Perspektiven, dem Spiel aus Farben und Formen. Die unterschiedlichen Animationsstile in Sultanas Traum, als animierte, handgezeichnete Aquarelle, Schattentheater oder filigrane, zum Leben erweckte Henna bzw. Mehndi-Tattoos, sind beeindruckend und verdeutlichen in ihrer abstrakten Darstellung oftmals die tieferliegende Bedeutung des jeweiligen Moments. Dabei reichen die wenigen Farben und Formen, um die komplexen Situationen, Straßen oder Cafés auf zauberhafte Weise zum Leben zu erwecken. Dies unterscheidet sich grundlegend von den Animationsfilmen, die ein großes Publikum anlocken und zusammen mit der Musik und den hinter der Geschichte liegenden Themen entwickeln die Momente eine geradezu transzendente Wirkung. Doch richtet sich die Erzählung damit auch an ein spezielles Publikum, das bereit ist, sich auf eine diese Art der Geschichtenerzählung einzulassen.
Fazit:
Sagt ihr Freund Inés, sie wäre schweigsam, klingt das wie ein Vorwurf. Dabei ist sie, wie auch der Animationsfilm selbst, in sich gekehrt, aber nie ruhig. Ist es keine kaum mit Händen zu greifende Unruhe und Bedrohung, die Inés umtreibt, dann brodelt es unter ihrer ruhigen Oberfläche angesichts der Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung, die sie selbst und andere Frauen erfahren. Dank ihr sind die beinahe (und richtigerweise) anklagenden Botschaften nicht zu übersehen. Sultanas Traum ist ein optisch eindrucksvoller und inhaltlich drängender Film. In der Art der Geschichtenerzählung vermutlich der beeindruckendste Animationsfilm des Jahres. Doch er ist einem Publikum vorbehalten, das bereit und in der Lage ist, sich auf diese Art der Erzählung einzulassen. Das macht ihn nicht weniger empfehlenswert oder wertvoll. Doch so berührend die Geschichten der beiden Frauen sind, sie sind geradezu hoffnungslos, wenn Inés feststellt, „einen sicheren Ort für Frauen gibt es auf der Erde nicht“. Auch sie hat nach einem Übergriff geschwiegen. Ob aus Scham oder einem falschen Schuldverständnis spielt keine Rolle, was es mit ihr seither gemacht hat, ist entscheidend. Filmemacherin Isabel Herguera spiegelt in ihrem spürbar persönlichen Spielfilmdebüt die Welt, wie sie ist, nicht, wie sie sein sollte – oder könnte. Eindrucksvoll animiert und inhaltlich wichtig, ist das Filmkunst in seiner reinsten Form. Als solches nicht unbedingt für das Publikum zugänglich, wohl aber für dessen Interpretationen. Daraus den Appell mitzunehmen, eine bessere Welt zu erschaffen, fällt schwer. Vielleicht wäre es ein erster Schritt, die jetzige nicht mehr schweigend zu ertragen.