Over & Out [2022]

Wertung: 3 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 26. August 2022
Genre: Drama / Komödie

Laufzeit: 122 min.
Produktionsland: Deutschland
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Julia Becker
Musik: Josef Bach, Arne Schumann
Besetzung: Jessica Schwarz, Petra Schmidt-Schaller, Julia Becker, Nora Tschirner, Denis Moschitto, Sascha Alexander Geršak, Sabine Vitua, Elvis Clausen, Lo Rivera, Amelie Hennig, Mina-Giselle Rüffer, Clara Devantié, Lena Buhl, Axel Stein, Elisabeth Clark-Hasters, Patrick Kalupa, Riccardo Angelini, Rona Özkan, Marion Breckwoldt, Jannik Lüsing, Jörn Peter Grosse, Sofia Koliofotos


Kurzinhalt:

Lea (Jessica Schwarz), Toni (Petra Schmidt-Schaller), Steffi (Julia Becker) und Maja (Nora Tschirner) waren bereits als Teenagerinnen eine unzertrennliche Clique. Mehr als 20 Jahre später, sind die vier Frauen an ganz unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben angekommen. Lea ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die jedoch ohne feste Beziehung auskommen muss, Toni eine gefeierte Musikerin, die vor aller Welt ein Geheimnis behält, und Steffi zweifache Mutter und Hausfrau, deren Mann Karl (Axel Stein) Karriere macht. Zwar sehen sich die vier Freundinnen regelmäßig und halten auch Kontakt, doch die enge Verbundenheit der geteilten Gemeinsamkeiten von einst ist nicht mehr vorhanden. Bis Lea, Toni und Steffi eine Mitteilung von Maja erhalten, die sie zur Erfüllung eines früheren Schwurs nach Italien bittet. Sie vermuten eine Hochzeit mit Überraschung – tatsächlich jedoch stehen sie vor Majas Sarg. Ihr letzter Wunsch an ihre Freundinnen ist es, ihre Leiche für eine Bestattung zur See zur Küste zu bringen. Es ist eine Fahrt, die ihre Freundschaft tief verändert …


Kritik:
Julia Beckers Over & Out ist insbesondere in der ersten Hälfte trotz Unglaubwürdigkeiten so vielversprechend und von den starken Darbietungen getragen, dass es umso bedauerlicher – und unverständlicher – ist, wenn all das letztlich in sich zusammenfällt. Die Geschichte von drei Freundinnen seit Kindertagen, die sich auf einen Road Trip begeben, um der vierten im Bund ihren letzten Wunsch zu erfüllen, zerbricht daran, dass am Ende der Reise alles zum Bestmöglichen aufgelöst werden muss. Und sei es in den letzten Minuten.

Nach einem kurzen Rückblick in eine Zeit, als Lea, Toni, Steffi und Maja unzertrennlich waren, stellt die Erzählung die drei erstgenannten Frauen vor, die Ende dreißig alle an einem ähnlichen Punkt in ihrem Leben angekommen sind, selbst wenn ihre Lebensentwürfe unterschiedlicher kaum sein könnten. Lea hat Karriere gemacht, obwohl sie es in der Firma als Frau schwer hat, dieselbe Anerkennung wie die männlichen Kollegen zu finden. So sehr, dass nun ein Jungspund die Beförderung erhält, für die sie so hart gearbeitet hat. Privat ist sie allein, hat keine Familie, keinen festen Freund. Allerdings hat sie, wie man später erfährt, eine nicht unwichtige Affäre. Toni ist eine erfolgreiche Musikerin, immer auf Social Media präsent, aber unglücklich verliebt. Steffi hingegen ist verheiratet und hat zwei Kinder. So sehr sie der Haushalt zeitmäßig ausfüllt, sie ist wie die anderen beiden nicht glücklich mit ihrer Situation. Auch greift Steffi (zu) oft zum Alkohol und, wie der Film später ausführt, zu anderen Männern. Alle drei Frauen werden von Maja mittels Videobotschaft nach Italien gebeten, um einen Blutschwur einzulösen. Sie gehen davon aus, dass Maja schwanger sei und heiraten will, doch als sie ankommen, ist Maja tatsächlich bereits gestorben. Ihr letzter Wunsch ist es, nicht nach Deutschland überführt zu werden, wie ihre Mutter es möchte, sondern an die Küste gebracht zu werden. Darum nehmen Lea, Toni und Steffi nachts Majas Leiche aus dem Sarg und beginnen die knapp 1.200 km lange Fahrt.

Dass währenddessen die Unterschiede der drei Frauen zutage gefördert werden, ist keine Überraschung und tatsächlich sind es eben diese Spannungen, an denen die Figuren wachsen könnten. Allerdings nimmt sich Over & Out viel Zeit, bis es soweit kommt. Auch wird kaum greifbar, was diese unterschiedlichen Charaktere nach so langer Zeit noch verbindet. Vielmehr sind sie eingangs mit den praktischen Details der Überführung beschäftigt, wie der Tatsache, dass ihnen schon kurz nach der Abfahrt das Benzin ausgeht. Das klingt nach einem Klischee, was es auch ist, es wird aber nicht das einzige bleiben. Man nehme irgendein Element, das man mit heutigen Road Trip-Filmen verbindet, die Chancen stehen gut, dass es hier vertreten ist. Ein Singalong während der Fahrt? Dabei. Ein Stopp am See? Check. Fahrzeugwechsel? Ebenfalls. Drogenkonsum? Sowieso. Wobei letzteres bereits andeutet, dass sich die als Drama beginnende Geschichte in der zweiten Hälfte recht plötzlich zu einer Hangover-Variante wandelt, bei der die drei Frauen in immer neue Verstrickungen geraten. Das ist wenig glaubwürdig und würde ohne Leiche auf der Rückbank ebenso gut oder schlecht funktionieren. Es ist vor allem ein Stimmungswechsel, der schon deshalb keinen Sinn ergibt, weil er nur kurz dauert, um auf die unausweichliche Konfrontation der drei Frauen zuzusteuern, die aber nach 10 Minuten vollständig ausgeräumt ist.

Wie wäre es gewesen, hätte Maja ihre Freundinnen bewusst auf diese Reise entsandt? Wenn sie, angesichts der Tatsache, dass sich die vier Frauen immer weiter von einander entfernt hatten, sie an Wegstationen ihres eigenen Glücks hätte Halt machen lassen, um sie so wieder zusammen zu führen? Auch das wäre ein Klischee, aber es hätte der Fahrt eine Route und ein Ziel gegeben. So brauchen Lea, Toni und Steffi für die ersten 100 Kilometer die Hälfte des Films, während der Rest einfach passiert. Auch die übrigen Begegnungen wirken alle zufällig, von einem Freund aus der Schule, mit dem Steffi anbandelt, bis hin zur betrügerischen Wahrsagerin, die irgendwie doch weiß, wovon sie spricht. So interessant die erste Filmhälfte, in der ein berührender, melancholischer Road Trip in Aussicht gestellt wird, so ziellos und chaotisch wirkt Over & Out ab der Hälfte.

In schönen Bildern eingefangen und in absehbaren Momenten wie ein Musikvideo umgesetzt, erfüllt Over & Out alle vermarktungsfreundlichen Ansprüche, die an modernes Kino gestellt werden. Dabei bleibt aber die Geschichte überraschend seicht. Bricht es aus Lea in einer Szene heraus, dass sie Maja vor ihrem Tod ein Treffen abgesagt hat, nicht ahnend, dass es das letzte gewesen wäre, könnte das ein starker Moment sein. Aber sie muss sich damit nicht auseinandersetzen, es ist dieser eine Ausbruch und wird nie wieder thematisiert. Steffi andererseits äußert sich immer wieder rassistisch und wird von ihren Freundinnen darauf hingewiesen. Aber außer, dass ihre Beteuerungen „ich bin nicht rechts“ irgendwann aufhören, findet keine Auseinandersetzung mit ihrer Einstellung statt. Filmemacherin Julia Becker, die auch das Drehbuch schrieb, gewährt ihren Figuren keine fortschreitende Entwicklung, vielmehr wird ein Konflikt vorgestellt und aufgelöst. So auch kurz vor Schluss, wenn die drei Freundinnen endlich aussprechen, was alles zwischen ihnen steht. Rechtzeitig vor dem Abspann ist dann aber auch alles wieder im Reinen, als wollte man die gute Stimmung zum Schluss nicht trüben. Das ist schade und auch irgendwie mutlos.


Fazit:
Dass alle drei Frauen mit ihrem Platz im Leben nicht wirklich glücklich sind, würde viel Potential bieten, die unterschiedlichen Lebensentwürfe zu erkunden, wenn sie die anderen hinter die eigene Fassade blicken lassen. Doch ein Verständnis für einander stellt sich nicht ein, oder Demut in Anbetracht dessen, dass Maja jedes ihrer Schicksale vermutlich lieber gewesen wäre, als ihr eigenes. Filmemacherin Julia Becker vereint eine starke Besetzung, die jeweils auch in einem Moment glänzen darf, doch der emotional im Grunde aufwühlende Road Trip erscheint in der zweiten Hälfte mehr um ausgefallene Szenen (mit teils fragwürdiger Aussage), denn eine Entwicklung der Figuren bemüht. Anstatt die Spannungen zwischen ihnen aufzubauen und auszuhalten, entlädt sich der Konflikt zwischen ihnen in einer absehbaren Konfrontation und ist kurz darauf vollends in Wohlgefallen aufgelöst. Das würde aber bedeuten, dass es ausreicht, wenn man die Zeit, die man hat, nur in einem Moment nutzt, anstatt das meiste daraus zu machen. Die fehlende Konsequenz der Handlungen wirkt bei Over & Out schließlich ebenso unentschlossen wie oberflächlich, was die versöhnlichen Text- und Sprachnachrichten beim Abspann noch unterstreichen. Ganz so, als wollte man das Publikum in jedem Fall mit einem guten Gefühl entlassen. Ein solches Ende müssten sich die Figuren aber erarbeiten, anstatt zufällig am Ende dort anzukommen. Gerade in Anbetracht des Beginns ihrer Reise erscheint das schlicht zu wenig.