Missing [2023]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 6. Februar 2023
Genre: Thriller / Drama

Originaltitel: Missing
Laufzeit: 111 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt

Regie: Nicholas D. Johnson, Will Merrick
Musik: Julian Scherle
Besetzung: Storm Reid, Nia Long, Ken Leung, Joaquim de Almeida, Daniel Henney, Amy Landecker, Tim Griffin, Megan Suri, Ava Zaria Lee, Michael Segovia


Kurzinhalt:

Abgesehen von verblassten Fotos ist der Videoclip „Letzter Familienausflug“ die prägendste Erinnerung, die die 18jährige June (Storm Reid) an ihren Vater (Tim Griffin) hat, doch der Clip ist bereits 14 Jahre alt. Es ist ein Verlust, den sie nie verkraftet hat und der möglicherweise mit die Ursache ist, weshalb sie sich so abweisend gegenüber ihrer Mutter Grace (Nia Long) verhält. Die unternimmt einen ersten Kurzurlaub mit ihrem neuen Partner Kevin (Ken Leung) nach Kolumbien. Doch als June beide wieder vom Flughafen abholen soll, muss sie feststellen, dass weder Grace, noch Kevin an Bord waren. Telefonisch kann June sie nicht erreichen und ein Anruf beim Hotel offenbart, dass die Koffer zurückgelassen wurden. Auf der Suche nach Hilfe wendet sich June an die langjährige Freundin ihrer Mutter, Heather (Amy Landecker), und auch das FBI wird eingeschaltet. Zunehmend verzweifelt, engagiert June vor Ort in Kolumbien Javier (Joaquim de Almeida), der wenigstens eine Spur ihrer Mutter findet. Doch die führt nur zu noch mehr Fragen, während June in den digitalen Konten von Grace und Kevin Beunruhigendes entdeckt …


Kritik:
Wie der thematisch und handwerklich ähnliche Searching [2018], wird auch die Geschichte der Fortsetzung Missing einzig durch Inhalte erzählt, die auf verschiedenen Bildschirmen zu sehen sind. Durch die zahllosen Apps und Webseiten erhält die Erzählung nicht nur eine unvermittelte Aktualität, der Thriller wirkt auch dichter, realer, als klassische Verfilmungen oder Found-Footage-Adaptionen. Dabei ist die Story selbst zwar cineastischer und weniger alltäglich als beim Vorgänger, aber trotz inhaltlicher Ungereimtheiten nichtsdestoweniger packend.

Sie beginnt mit einem Prolog, der ohne große Worte eine Stimmung setzt und Figuren vorstellt, die man nach wenigen Minuten zu kennen glaubt. Am Anfang der Collage steht ein privates Heimvideo, das die vierjährige June mit ihrem Vater und ihrer Mutter zeigt. Am Ende des kurzen Clips blutet der kränklich aussehende James aus der Nase und hören wir kurz darauf, wie sich Arbeitskollegen und Freunde von Junes Mutter verabschieden, sie in Los Angeles einen Neuanfang sucht, kann man sich die fehlenden Momente erschließen. 14 Jahre später ist June gerade erwachsen und reagiert auf ihre Mutter Grace abweisend. Umso schwerer fällt es Grace, mit ihrem neuen Partner Kevin einen Trip nach Kolumbien zu unternehmen. June hingegen genießt die Freiheit und veranstaltet in dem leeren Haus am Vatertag, der für sie sehr schwer auszuhalten ist, da sie ihren Vater, den sie sehr vermisst, nur noch aus Fotos und kurzen Videoaufnahmen kennt, eine große Party. Doch am nächsten Tag, als sie ihre Mutter und Kevin am Flughafen abholen soll, sind beide nicht im Flugzeug. Auch telefonisch kann June Grace nicht erreichen und weder die Polizei, noch Graces langjährige Freundin Heather haben einen Anhaltspunkt. So beginnt June, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, selbst zu recherchieren und engagiert dafür sogar vor Ort in Kolumbien eine Hilfskraft über eine Online-Vermittlungsplattform. Doch statt Antworten, findet sie immer nur mehr Fragen.

Das erinnert spürbar an die Story von Searching, doch Missing geht früh eigene Wege und entwickelt ein enormes Tempo, bei dem man allein auf Grund der wahren Informationsflut mit den Textmitteilungen, Videobeiträgen und Internetseiten, die zu sehen sind, gefordert ist, mitzurätseln. Sieht man die Anordnung der Apps oder Icons auf den Bildschirmen, die Dateinamen und Hintergrundbilder, kann man nicht umhin festzustellen, wie viel diese allein über uns alle verraten. Ebenso, auf welche Textmitteilungen wir antworten, oder nur auf sie „reagieren“. Die Filmemacher Nicholas D. Johnson und Will Merrick vermitteln hier so viel Subtext, definieren ihre Figuren auf eine immens persönliche Art und Weise, ohne dass sie überhaupt etwas sagen müssten, oder wir ihre Mimik sehen. Dennoch ergibt unser digitales Selbst nur ein unvollständiges Bild, es sind Schnappschüsse, Details, denen Kontext fehlt, wie June mehrmals herausfindet, als sie beispielsweise Kevins digitale Konten durchleuchtet.

Wie ihr dies gelingt, ist nachvollziehbar und zu sehen, dass sie selbständig die Technik, mit der sie aufgewachsen ist, für sich nutzt, clever kombiniert und versucht, Lösungen für die vielen Probleme zu finden, mit denen sie konfrontiert wird, ist eine ihrer großen Stärken. Dass wir mit ihr mitfiebern, obwohl sie anfangs so ablehnend auftritt, liegt auch an der starken Darbietung von Storm Reid, der Junes Wandlung fantastisch gelingt und die ebenso sehenswert ist, wie Joaquim de Almeidas als Javier oder Nia Long und Ken Leung als Grace und Kevin. Dank der kurzen Videoclips, die June findet, gewinnen sie an Tiefe und lassen Schwächen erkennen, mit denen man sich gleichermaßen identifizieren kann. Dabei legt Missing viele falsche Fährten, die in den allermeisten Fällen so unerwartet kommen, wie sie nachvollziehbar sind. Auch, dass sich die Geschichte ab der Hälfte in eine andere Richtung entwickelt, ist kein Kritikpunkt. Doch gerade in der zweiten Hälfte gibt es ein bzw. zwei Twists, die, obwohl sie der Geschichte eine nachhaltige Bedeutung verleihen, sehr konstruiert erscheinen.

Doch das sind Kritikpunkte, die nicht ins Gewicht fallen, während man sich von der Story tragen lässt .Dank einer glaubhaften Hauptfigur mit Stärken und Schwächen sowie einer erstklassigen Zusammenstellung der authentischen Apps und Webseiten, die den digitalen Thriller paradoxerweise realer und greifbarer scheinen lassen, als viele klassisch erzählte Geschichten, wird man von Beginn an bei Missing mitgerissen. Die Ausgangslage wie die Umsetzung erscheinen größer als bei Searching, aber als Fortsetzung eben nicht ganz so innovativ – oder im Verlauf durchweg natürlich. Trotzdem, anstatt durch den Bildschirm in unser digitales Leben hineinzublicken, blicken wir hier auf die Person jenseits des Bildschirms heraus und können dabei auch einen Teil von uns selbst entdecken. Das hohe Tempo, das auch dem packenden Soundtrack zu verdanken ist, halten die Verantwortlichen bis zu Schluss und feilen fortwährend an ihren Figuren. Sieht man die Grenzen hier verschwimmen, ist das packend und spürbar für die große Leinwand gemacht.


Fazit:
Würde man Missing etwas vorhalten wollen, dann dass der Thriller trotz der überwiegend unvorhersehbaren Story und der sichtbar aufwändig einfallsreichen Umsetzung letztlich doch nur Mustern folgt, die Searching so erfolgreich etabliert hat. Das ist auch sicher richtig, aber es ändert für sich genommen nichts daran, dass den Filmemachern Nicholas D. Johnson und Will Merrick ein handwerklich exzellent choreografierter, stark gespielter und mitreißender Thriller gelungen ist, bei dem selbst ein jugendliches Publikum auf Grund der vertrauten App-Eindrücke auf der Leinwand nicht ständig zum Blick auf das eigene Smartphone verleitet sein dürfte. Die gewählte Perspektive ist dabei nicht einfach nur ein Blickfang, sondern ermöglicht es, Charakterzeichnungen vorzunehmen, die sonst nicht möglich wären. Und sei es nur, wenn sie einen Text eingeben, ihn dann aber löschen, anstatt ihn abzusenden. Eine Aussage des Films lautet, so sehr man sich auch in das digitale Leben eingraben mag, das wirkliche holt einen früher oder später ein. Umso mehr, da heute beides untrennbar miteinander verbunden ist. Es macht Missing trotz einiger konstruierter Umstände unvermittelt authentisch, mit aktuellen Bezügen und einer emotionalen Schlagkraft, der man sich kaum entziehen kann. Klasse!