Menschliche Dinge [2021]

Wertung: 4 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. Oktober 2022
Genre: Drama

Originaltitel: Les choses humaines
Laufzeit: 138 min.
Produktionsland: Frankreich
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Yvan Attal
Musik: Mathieu Lamboley
Besetzung: Ben Attal, Suzanne Jouannet, Charlotte Gainsbourg, Pierre Arditi, Matthieu Kassovitz, Camille Razat, Audrey Dana, Benjamin Lavernhe, Judith Chemla


Kurzinhalt:

Als der erfolgreiche Fernsehmoderator Jean Farel (Pierre Arditi) den Verdienstorden des Großoffiziers der Ehrenlegion erhalten soll, reist sein 22jähriger Sohn Alexandre (Ben Attal), der an der Stanford-Universität in Kalifornien studiert, zurück nach Frankreich. Dabei besucht er auch seine Mutter Claire (Charlotte Gainsbourg), eine bekannte Essayistin, die sich für feministische Themen einsetzt. Sie ist inzwischen mit Adam (Pierre Arditi) liiert, dessen 17 Jahre junge Tochter Mila (Suzanne Jouannet) Alexandre abends zu einer Party begleitet. Am nächsten Tag wird Alexandre von der Polizei verhaftet, da gegen ihn eine Anzeige wegen Vergewaltigung vorliegt – durch Mila. Es ist eine Anschuldigung, die nicht nur sein Leben und das der gut situierten Familie aus den Angeln hebt, auch Mila gerät zunehmend unter Druck. Zuerst bei Erstattung der Anzeige, als man ihr nahelegt, die auf sie zukommenden Anwaltskosten zu bedenken, aber auch durch ihre streng gläubige Mutter, die fürchtet, niemand wolle ihre Tochter heiraten, wird der Vorfall bekannt …


Kritik:
Basierend auf dem gleichnamigen Erfolgsroman aus dem Jahr 2019 von Karine Tuil erzählt Filmemacher Yvan Attal in Menschliche Dinge eine Geschichte, die relevanter kaum sein könnte. Und im Grunde kaum einfacher zur beantworten, selbst wenn sich die Gesellschaft offenbar sehr schwer damit tut. Kann eine sexuelle Handlung von zwei Personen derart unterschiedlich wahrgenommen werden, dass eine sie als Vergewaltigung ansieht, die andere aber nicht? Inspiriert von einem wahren Fall, der international Schlagzeilen machte, liefert das Drama darauf wichtige Antworten, präsentiert sich jedoch auf eine Art und Weise strukturiert, dass diese kaum einem größtmöglichen Publikum zugänglich werden.

Die Geschichte erzählt von dem 22jährigen Alexandre Farel, Sohn des erfolgreichen Fernsehmoderators Jean Farel, der in Kürze für seine Verdienste von höchstoffizieller Stelle ausgezeichnet wird. Für diese Verleihung reist Alexandre zurück nach Frankreich, studiert er an sich doch in Kalifornien. Seine Mutter Claire ist eine feministische Essayistin, die durch ihr Engagement landesweit bekannt ist. Gerade erst hat sie sich dafür eingesetzt, dass sexuelle Straftäter unabhängig eines eventuellen Migrationshintergrunds so streng wie möglich bestraft werden. Doch dann wird Alexandre am nächsten Morgen von der Polizei verhaftet. Ausgerechnet die erst 17jährige Tochter von Claires neuem Lebensgefährten Adam, Mila, die er am Vorabend auf eine Party mitgenommen hat, hat gegen ihn mit dem Vorwurf der Vergewaltigung Anzeige erstattet.

Menschliche Dinge schildert in mehreren Kapiteln, wie zuerst Alexandre das Geschehen bis zur Tatnacht und ab dem nächsten Morgen wahrnimmt, anschließend, wie es Mila nach den Ereignissen ergeht. Was sich tatsächlich in der Nacht ereignet hat, erfährt das Publikum lediglich aus den Schilderungen dieser zwei Figuren, die im abschließenden Kapitel, mit Rückblicken zu jenem Abend unterlegt werden. Gleichzeitig springt die Erzählung im letzten Drittel, nachdem Alexandre vom Untersuchungsrichter bis zum Beginn des Prozesses freigelassen wird, zweieinhalb Jahre nach vorn. Dabei wäre es gerade diese Zeit, in der sich Alexandre mit den Konsequenzen der Anklage in seinem Umgang durch andere Menschen oder deren Auswirkung auf sein Studium konfrontiert sieht, die für das Publikum umso interessanter wäre. Nimmt sich Filmemacher Attal in der ersten Hälfte viel Zeit, die übrigen Figuren zu beleuchten, Claire mit ihren eindeutigen Standpunkten, Jean als alternde Fernsehpersönlichkeit, der sich mit einer Praktikantin einlässt, die seine Enkeltochter sein könnte, und damit womöglich genau das Bild von „verfügbaren“ Frauen vorlebt, das seinen Sohn zu der ihm vorgeworfenen Tat hätte ermutigen können, blendet der Regisseur vollständig aus, dass sich die Figuren mit der neuen Situation tatsächlich auseinandersetzen müssen. In welche Gewissenskonflikte wird Claire gestürzt, muss sie nun ihren eigenen Sohn gegen Vorwürfe verteidigen, die sie bei anderen Taten angenommen hat, ohne sie zu hinterfragen? Wie geht ihre Beziehung mit dem Vater des Opfers des Übergriffs in die Brüche? Haben die Anschuldigungen Auswirkungen auf Jeans Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und den Verdienstorden, der ihm durch die Politik verliehen wird? Es gäbe so Vieles zu thematisieren, dass es bedauerlich ist, all diese Punkte zu überspringen.

Es scheint beinahe, als würde Menschliche Dinge Elemente der Vorlage aufgreifen, und sie auch in deren Struktur vorstellen. Aber während die Autorin ihre Figuren auch in Beschreibungen weiterentwickeln und Entwicklungen zusammenfassen kann, werden die Personen und die Auswirkungen des Geschehens auf sie hier kaum vertieft. Der grundlegende Ansatz, sowohl Alexandres Schilderungen als auch Milas Wahrnehmung ihrer Erlebnisse vorzustellen und das Publikum – ähnlich wie die Richterin und die Geschworenen – daraus ein Urteil bilden zu lassen, ist ein entblätterndes Stilmittel. Aber es hätte sich angeboten, dies von Beginn an im Rahmen der Gerichtsverhandlung zu tun und im Zuge der Aufarbeitung der Ereignisse in Rückblenden das Geschehen zu beleuchten. Stattdessen beschäftigt sich der Film in der ersten Hälfte zu großen Teilen mit Figuren wie Alexandres Eltern, die in der zweiten Hälfte aber keine wirkliche Rolle mehr spielen, da auch nicht gezeigt wird, wie sich ihr Leben durch die Anschuldigungen gegen ihren Sohn verändert hat. Jeans folgenreiche Affäre hat bis auf einen kurzen Dialog, den man auch anders hätte transportieren können, gar keine Auswirkung und wirkt damit umso mehr aufgesetzt.

Dennoch spickt Yvan Attal sein Drama mit vielen gelungenen Beobachtungen, insbesondere in Bezug auf die Art Mann, die Alexandre verkörpert. Ihm wird durch seinen Vater vorgelebt, dass Sex etwas „Verfügbares“ ist, bei dem Frauen Mittel zum Zweck der eigenen Befriedigung darstellen. In seinen Beziehungen ist er trotz seines jungen Alters schon beherrschend, fordernd, bestimmend und weder in der Lage, noch willens, sich in die Situation des Gegenübers hinein zu versetzen. Gleichzeitig hält der Filmemacher aber auch Frauen einen Spiegel vor, wenn er eine junge Zeugin vor Gericht aussagen lässt, die sich nach Aufforderungen oder eingeredeten Schuldgefühlen ihres Partners an sexuellen Handlungen beteiligt, obwohl sie dies eigentlich nicht möchte. Durch Gesellschaft und Wiederholung geprägt, ordnet sie sich unter und wird damit zu einem Werkzeug, einem Objekt der Lustbefriedigung des Mannes. Es sind diese Momente, die bei Menschliche Dinge in Erinnerung bleiben, so wie unter anderem das inhaltlich packende Plädoyer von Milas Anwältin vor Gericht. Stellt Alexandres Verteidiger fest, dass sein Mandant eine andere Wahrnehmung der Dinge hat, bringt er die zugrunde liegend Problematik gekonnt auf den Punkt. Diese verschiedenen Perspektiven stellt die Geschichte vor und gibt damit dem Publikum auf, nicht nur zu erkennen, woher diese unterschiedliche Wahrnehmung rühren kann, sondern auch, was notwendig ist, damit die Täter, für die bestimmte Handlungen nichts außergewöhnliches darstellen, erkennen, weshalb diese einen Übergriff darstellen – oder gar eine Vergewaltigung.

Dabei arbeiten Jeans und Alexandres Wiederholungen, „Hätte sie es nicht gewollt, hätte sie nein sagen sollen“, die grundlegende Problematik der inhärenten Überhöhung der eigene Wahrnehmung über derjenigen des Gegenübers gelungen heraus. Unzweifelhaft ist jedes „Nein“ ein „Nein“, aber Schweigen ist keine Zustimmung. Nur ein „Ja“ ist ein „Ja“ und jedes fehlende Verständnis hierfür nur ein Beleg der eigenen Selbstüberschätzung. Der Vorwurf, eine aktive Zustimmung zu sexuellen Handlungen zu verlangen, wie es sie in anderen Ländern inzwischen vorgegeben ist, um selbst „fahrlässige Vergewaltigungen“ auszuschließen, würde dazu führen, dass Menschen, die gar keine Opfer sind, Anzeigen ‚aus Spaß‘ tätigen würden, ist so unsinnig wie vorgeschoben. Gelungen stellt Regisseur Yvan Attal vor, wie die gesamte Situation noch vor der Gerichtsverhandlung sämtlichen Prozessbeteiligten zusetzt und ihre Familien belastet. Ungeachtet der Demütigung, wenn Psychologen vor Gericht und Publikum die Persönlichkeiten von Beklagtem und Klägerin ausbreiten. Inhaltlich sind diese Feststellungen wichtig. Nur schwer greifbar präsentiert.


Fazit:
Nach mehreren Aussagen klingen die Schilderungen von Mila und Alexandre dessen, was sich in der Tatnacht ereignet hat, nicht so unterschiedlich. Aber die Wahrnehmung der Ereignisse könnte verschiedener kaum sein. Insbesondere bei der Gerichtsverhandlung bringt Suzanne Jouannet als Mila dies so ergreifend wie vielschichtig zur Geltung und auch Ben Attal zeigt eine gelungene Darbietung. Doch so wichtig die Beobachtungen in diesem Bereich, so unentschlossen scheint das Drehbuch, alldem eine übergeordnete Struktur zu verleihen. Wie sich die Gesamtumstände auf die Figuren auswirken, wird unerklärlicherweise nicht beleuchtet. So erscheint vor allem der Beginn zu lang, mit dem Fokus auf prominent besetzte Charaktere, die später keine wirkliche Rolle mehr spielen. Eindrucksvoll gespielt und tadellos umgesetzt, mit einer beeindruckenden, sehr langen Einstellung bei den Plädoyers, erzählt Menschliche Dinge eine wichtige und leider aktuelle Geschichte, die sich gelungen Fragen nähert, die seit #MeToo breiter diskutiert werden, aber wenigstens gefühlt gesellschaftlich kaum gelöst sind. Wie sieht sexueller Konsens aus? Wann beginnt eine Vergewaltigung? Sich damit zu beschäftigen ist relevant und daher hier auch sehenswert. Selbst, wenn die Präsentation des Themas nicht so einnehmend oder zugänglich ist, wie sie sein könnte.