Memory [2023]

Wertung: 3 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 28. Juli 2024
Genre: Drama / Liebesfilm

Originaltitel: Memory
Laufzeit: 103 min.
Produktionsland: Mexiko / USA
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Michel Franco
Besetzung: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Merritt Wever, Jessica Harper, Brooke Timber, Elsie Fisher, Josh Charles, Tom Hammond


Kurzinhalt:

Mit ihrer überwundenen Alkoholsucht geht die alleinerziehende Sylvia (Jessica Chastain) auch gegenüber ihrer Teenager-Tochter Anna (Brooke Timber) offen um. Die Treffen der Anonymen Alkoholiker sind für Sylvia ebenso ein Anker im Alltag wie ihre Tätigkeit in einer Tagesstätte für Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen. Anna bemerkt zwar, dass ihre Mutter ihr gegenüber sehr beschützend auftritt, weshalb dem so ist, ahnt sie jedoch nicht. Bei einem Klassentreffen, bei dem auch Sylvias Schwester Olivia (Merritt Wever) zugegen ist, begegnet Sylvia dem ruhigen Saul (Peter Sarsgaard). Saul leidet an Demenz und ist daher auf eine Betreuung angewiesen. Da sie sich gut verstehen, bittet Sauls Bruder Isaac (Josh Charles) Sylvia, tagsüber Zeit mit Saul zu verbringen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Beziehung, in der nicht nur Sauls Krankheit eine große Hürde darstellt, sondern auch die traumatischen Erlebnisse, die Sylvia nie losgelassen haben …


Kritik:
In Michel Francos Liebesdrama Memory wahrt der Filmemacher durchweg eine so große Distanz zu seinen Figuren, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne, dass es merklich schwerfällt, sich auf sie einzulassen, geschweige denn, ihre Reaktionen zu lesen. Getragen von zwei starken Darbietungen, wird der Film damit weder der Besetzung gerecht, noch der Idee der Geschichte, die zwei verschiedene Aspekte aufgreift, ohne sie jedoch wirklich erforschen zu wollen.

Sie beginnt bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker. Es ist der 13. Jahrestag für Sylvia, die seit der Geburt ihrer Tochter Anna mit dem Trinken aufgehört hat. Sylvia ist alleinerziehend und arbeitet in einer Tageseinrichtung für Menschen mit Einschränkungen. Zu ihrer Mutter Samantha hat Sylvia ebenso wenig Kontakt, wie ihre Tochter. Die einzige Familie, die sie regelmäßig sieht, ist ihre Schwester Olivia, die ihr gelegentlich sogar etwas Geld zusteckt, damit Sylvia über die Runden kommen kann. Eines Abends, als Sylvia und Olivia ein High School Klassentreffen besuchen, setzt sich der schweigsame Saul neben Sylvia. Als Sylvia überstürzt nach Hause aufbricht, geht Saul ihr sogar nach und sitzt am nächsten Morgen vor ihrer Wohnung auf der Straße. Saul leidet unter Demenz. Während Sylvia versucht, ihre Vergangenheit zu vergessen, entgleitet Saul sein Gedächtnis immer mehr. Vielleicht entwickelt sich zwischen ihnen gerade deshalb eine Beziehung, die von den Menschen in ihrer Umgebung mehr als kritisch gesehen wird.

Und im ersten Moment, wenn Memory in Sylvias Worten schildert, was mit ihr geschehen ist, ist man auch als Unbeteiligter davon überzeugt, dass jede Minute, die diese beiden Figuren miteinander verbringen, für keine von beiden gesund ist. Dass Sylvia zutiefst traumatisiert ist, ist schon früh zu erkennen. Ihre Wohnungstür ist mit mehreren Schlössern und einer Alarmanlage versehen. Anstatt Saul anzusprechen oder abzulehnen, der sich beim Klassentreffen schweigend neben sie setzt, ergreift sie regelrecht die Flucht. Sie will um jeden Preis verhindern, dass Tochter Anna Zeit mit gleichaltrigen Jungen verbringt. Man fragt sich lange, was vorgefallen ist und es ist schließlich Sylvia, die Saul direkt damit konfrontiert. Als sie 12 Jahre alt war, sei sie von älteren Mitschülern missbraucht worden, sagt sie. Auch Saul sei einer von ihnen gewesen. Saul kann sich nicht erinnern, was in seinem Zustand keine gesicherte Aussage ist. Der Moment endet damit, dass Sylvia Saul an den Kopf wirft, er habe seine Situation nicht anders verdient, ehe sie davon stürmt und ihm das Umhängeband, das seine gesundheitliche Situation erklärt, wegnimmt, um es in den Müll zu werfen.

Nur, Sylvias Vorhaltungen stimmen nicht. Wie Olivia ihr später erzählt, kam Saul erst in dem Jahr an ihre Schule, als Sylvia diese wechselte. Diese Erkenntnis führt unweigerlich zu der Frage, ob nur Sylvias Anschuldigungen nicht stimmen, oder was sie über den Missbrauch in ihrer Kindheit generell erzählt? Ergründet Memory diesen Aspekt später weiter, wenn Sylvias Mutter Samantha einen größeren Raum in der Geschichte einnimmt, werden die Fragen nur zahlreicher. Was ist tatsächlich passiert? Nur Teile dessen, was Sylvia schildert?
Man kann ihre zutiefst traumatisierte Figur als jemand sehen, deren Gedächtnis mehr als 20 Jahre, nachdem ihr unvorstellbare Verbrechen angetan wurden, Verbindungen herstellt, wo keine sind. Oder als jemand, die bewusst auf Saul ihre Wut und Verzweiflung projizieren konnte. Ob Sylvia ihre eigenen Aussagen glaubt, oder ihre späte Entschuldigung Saul gegenüber aufrichtig ist, macht Filmemacher Michel Franco nie deutlich.

Stattdessen beobachtet er seine Charaktere bis auf wenige Momente aus großer Distanz, ohne dass er sich ihnen selbst nähern oder veranschaulichen würde, wie sie einander näher kommen. In ihrer Isolation, in der auch die Beziehung zu ihrer Tochter nicht so harmonisch ist, wie es auf den ersten Blick erscheint und die zunehmend mehr Zeit mit ihrer Großmutter verbringt, lässt sich Sylvia auf Saul ein. Aber dass beide in der Beziehung aufblühen würden, ist kaum zu sehen. Es gibt keine tiefgehenden Gespräche zwischen ihnen und über Saul erfährt man, außer, dass er verheiratet war und sich auf Grund seiner Erkrankung keine Filme mehr ansehen kann, gar nichts. Memory beschäftigt sich nicht nennenswert mit den alltäglichen Auswirkungen seiner Demenz, die eine der beängstigendsten Erkrankungen darstellt, die man sich vorstellen kann. Nebenbei wird erwähnt, dass Sylvia ihren Job aufgegeben hat, um Saul zu betreuen, nur um hiervon wieder zurück zu treten. Es ist ein Hin und Her, dessen Motivation jedoch allzeit ein Rätsel bleibt.

Die beiden zentralen Darbietungen entschädigen hierfür wenigstens in Teilen, doch die perspektivische Distanz macht es beinahe unmöglich, mit den Figuren mitzufühlen. Sei es, wenn Saul bei Sylvia übernachtet und kurz aus dem Zimmer geht, nur um dann nicht mehr zu wissen, hinter welchen der beiden Türen Sylvia oder Anna schlafen. Er entscheidet sich, vor den Türen zu warten und man glaubt, die stille Verzweiflung in Peter Sarsgaards Blick zu sehen, doch ist der Regisseur hieran augenscheinlich nicht interessiert. Dabei wäre eben der Kontrast der Aspekt von Memory, der die Figuren zueinander führen könnte: Sylvia die vergessen will und Saul, der sich nicht erinnern kann. Doch wenn diese Figuren sich einander nie öffnen dürfen und das Publikum weit von ihnen ferngehalten wird, führt der Ansatz schließlich nirgendwo hin. Da wundert es auch nicht, dass die Geschichte am Ende keinen Abschluss irgendwelcher Art findet.


Fazit:
Die kaum greifbare Stimmung der Erzählung wird derart schnell düster, wenn Sylvia aus ihrer Vergangenheit erzählt, dass es einem beinahe den Atem nimmt. Doch kurz darauf wird all dies in Frage gestellt und zusammen mit den späteren Entwicklungen bleibt die Unsicherheit, was nun tatsächlich vorgefallen ist. Anstatt das Publikum aufzuklären, gerät Filmemacher Michael Franco nur noch verwirrender, wenn Sauls Demenz zwar vorgestellt, aber kaum Auswirkungen davon auf seinen Alltag gezeigt werden. Über weite Strecken spielt die Erkrankung gar keine Rolle, wenn sich die Geschichte auf Sylvias Trauma konzentriert. Insofern bleibt die Frage, ob Sauls Aspekt der Story wirklich notwendig ist. Gleiches gilt für Sylvias überwundene Alkoholsucht, die ihr nie auch nur ein wenig Willenskraft abzuverlangen scheint. Ohne, dass dies eine Auswirkung hat, wirken die Details schlicht unnötig. Von den Figuren derart merklich entrückt in Szene gesetzt, dass man selten das Gefühl hat, man wäre mit ihnen überhaupt im selben Raum, wirkt Memory inhaltlich wie handwerklich hölzern und unfertig. Die zwei starken Darbietungen im Zentrum verpuffen damit in einer Geschichte ohne klare Struktur oder Ziel. Mag sein, dass sich Menschen in dieser Situation hier passend dargestellt wiederfinden. Ein Gefühl dafür, wie es ihnen ergehen muss, erschafft das Drama nicht. Das ist in Anbetracht des Engagements der Besetzung mehr als nur bedauerlich.