L.A. Crash [2004]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 16. Oktober 2005
Genre: Drama

Originaltitel: Crash
Laufzeit: 113 min.
Produktionsland: USA / Deutschland
Produktionsjahr: 2004
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Paul Haggis
Musik: Mark Isham
Darsteller: Don Cheadle, Sandra Bullock, Matt Dillon, Jennifer Esposito, Brendan Fraser, Ryan Phillippe, Michael Peña, Ashlyn Sanchez, Terrence Howard, Thandie Newton, Chris 'Ludacris' Bridges, Larenz Tate, Beverly Todd, Shaun Toub, Bahar Soomekh, Marina Sirtis, Loretta Devine, Bruce Kirby


Kurzinhalt:
Ein junger Afroamerikaner wird ermordet am Straßenrand gefunden, die Detectives Graham Waters (Don Cheadle) und Ria (Jennifer Esposito) nehmen die Ermittlungen auf – doch der Ursprung des Falls liegt 36 Stunden früher, als die beiden Schwarzen Anthony (Chris Bridges) und Peter (Larenz Tate) den Wagen des Staatsanwaltes Richard Cabot (Brendan Fraser) und dessen Frau Jean (Sandra Bullock) stehlen und die beiden mit einer Waffe bedrohen.
Auf der Suche nach dem gestohlenen Wagen treffen die Polizisten Ryan (Matt Dillon) und Hanson (Ryan Phillippe) auf das Ehepaar Cameron (Terrence Howard) und Christine (Thandie Newton), wobei Christine vom rassistischen Ryan sexuell belästigt wird und Cameron nicht in der Lage ist, etwas dagegen zu tun.
In derselben Nacht hat der Schlosser Daniel (Michael Peña) einen Auftrag beim persischen Ladenbesitzer Farhad (Shaun Toub), der sich kurz zuvor eine Waffe gekauft hat – als er mit Daniel eine Auseinandersetzung um das neue Schloss hat und wenig später der Laden ausgeraubt ist, sieht Farhad rot.
Damit beginnt in Los Angeles eine Reihe von Ereignissen, bei denen sich die Wege der Beteiligten in den kommenden eineinhalb Tagen mehrmals kreuzen werden, und bei vielen Personen stellt sich erst durch diese bedrohlichen Situationen heraus, was für eine Art Mensch sie wirklich sind.


Kritik:
Beinahe vier Millionen Menschen wohnen im Kern von Los Angeles – siebzehneinhalb im gesamten Stadtgebiet, das sich über 1200 Quadratkilometer erstreckt; das ergibt eine Bevölkerungsdichte von über 3000 Einwohner pro Quadratkilometer. Was die kalifornische Großstadt jedoch auszeichnet ist die Mannigfaltigkeit an Menschen verschiedenster Herkunft: Knapp 47% der Einwohner sind weiß, 11% afroamerikanisch, 10% asiatisch, 25% von anderer Herkunft. Knapp die Hälfte der Einwohner sind Spanier oder Lateinamerikaner.
Gerade dieser Schmelztigel in Bezug auf Herkunft, Gesinnung und Religion ist es, was Los Angeles nach wie vor zu einem sehr schwierigen Podium macht. Vor nur 13 Jahren gab es Ausschreitungen, in die Tausende von Menschen verwickelt waren, die eine Woche lang andauerten, und bei denen 60 Menschen starben – ausgelöst durch einen skandalösen Freispruch vierer Polizisten, die einen jungen Afroamerikaner bei einer Verkehrskontrolle verprügelt hatten. Wer also heute von einer Zeit der Aufklärung und des Verständnisses spricht, sollte lieber zweimal hinsehen – nach wie vor sind die Menschen in Los Angeles (wie häufig in Gebieten mit einer vielfältigen Bevölkerungszusammensetzung) geographisch und finanziell in verschiedene Zonen und Gruppen unterteilt, was sie jedoch alle verbindet ist der allzeit präsente Rassenhass, der manchmal stärker, manchmal weniger stark ausgeprägt ist, sie jedoch meist jeden Tag begleitet.

In diesem Szenario ein episodenartig angelegtes Drama anzusiedeln, ist ebenso mutig, wie aufrichtig, zeugt von einem Gespür des Drehbuchautors für aktuelle Themen, die in den Medien gern totgeschwiegen würden, und ist dennoch so anspruchsvoll, wie man es kaum für möglich halten würde. Für Regisseur und Drehbuchautor Paul Haggis galt es, das Thema des Rassismus nicht nur von verschiedenen Seiten zu beleuchten, die Vorurteile der verschiedenen Menschen aufzuzeugen, sondern auch, die Herkunft jener Vorurteile auszuloten – und das, ohne sich auf Klischees und altbekannte Erklärungen zu stützen.
Haggis gelingt dies in seinem ungewöhnlichen Drama durch sehr einfache Entscheidungen, durch Figuren verschiedenster Herkunft und mit den unterschiedlichsten Berufen. Dabei werden ihnen meist Menschen gegenüber gestellt, die sie auf ihre Fehler, ihre haltlosen Reservierungen ansprechen, die diese Hinweise aber erst im Laufe des Films verstehen lernen.
Wie geschickt der Drehbuchautor die verschiedenen Geschichten seines Films dabei miteinander verbindet, wie es ihm gelingt, dass sich die Figuren mehrmals begegnen, sich ihre Wege auf beiläufige Weise kreuzen und sie sch gegenseitig beeinflussen, ist erstaunlich – doch nicht so überraschend wie die Tatsache, dass beinahe alle Figuren im Verlauf der 116 Minuten so genau beleuchtet werden, dass sie eine 180° Drehung erfahren. Wer zu Beginn der Meinung ist, Officer Ryan sei ein egoistischer Rassist und Officer Hanson einer der wenigen aufrichtigen Polizisten der Stadt, wird seine Meinung am Ende sicher geändert haben. Auch das Opfer von Anthony und Peter, ein älterer Asiate, steht am Ende in einem ganz anderen Licht da.
Es sind menschliche Schicksale, die hier vorgestellt werden, die einem veranschaulichen, wie sich das gesamte Leben in einer Sekunde ändern kann, und wie man daraufhin unter seinen Entscheidungen zu leben hat. Dabei spitzt Paul Haggis das Geschehen in den verschiedensten Höhepunkten unerwartet zu, bereitet Konfrontationen vor, die einem als Zuschauer nahe gehen, die einen buchstäblich verkrampfen lassen in der Ungewissheit, was geschieht, zumal man als Zuseher die Hintergründe jener Situation versteht, Informationen hat, die die anderen Beteiligten nicht besitzen, und die ihre Entscheidungen womöglich beeinflussen würden. Doch wenn der persische Ladenbesitzer Farhad den Schlosser Daniel vor seinem Haus stellt, Cameron ungewollt bewaffnet sich auf eine gefährliche Situation mit Polizisten einlässt und Officer Ryan sein Leben aufs Spiel setzt, um Christine aus einem verunglückten Wagen zu befreien, verdichtet sich die Atmosphäre so stark, dass einem als Zuseher der Atem stockt, und der weitere Verlauf der Geschichte unmöglich abzusehen ist. Die Überraschungen und überraschenden Erkenntnisse, die in L.A. Crash eingewoben sind, tragen hierzu verständlicherweise noch bei.
Was Haggis mit seinem Skript gelang, lässt sich kaum in Worte fassen, es ist vielschichtig, aufrichtig und doch nicht anklagend, überlässt dem Zuseher die Entscheidung, wie die Figuren zu bewerten sind und stellt sie allesamt als Opfer ihrer Umstände dar, ohne sie anzuklagen. So viele Charaktere in zwei Stunden zu behandeln, auszubauen und ihnen eine Geschichte, einen Hintergrund zu verleihen, ist ein Kunststück – mehr noch, es ist ein Kunstwerk, das einzig dadurch geschmälert wird, dass ein wenig die Dramaturgie über die gesamte Lauflänge zu leiden scheint, während einzelne Szenen sehr intensiv und spannend geraten sind.

Der inzwischen 52jährige Haggis ist seit vielen Jahren bereits bei Film und Fernsehen aktiv, zuerst als Autor bei Serien wie Love Boat [1977-1986], L.A. Law - Staranwälte, Tricks, Prozesse [1986-1994], später als Autor und Regisseur bei Die besten Jahre [1987-1991], Ein Mountie in Chicago [1994-1996] und Frauenpower [1999-2002] – zuletzt erhielt er eine Oscarnominierung für das adaptierte Skript zum Clint Eastwood-Drama Million Dollar Baby [2004].
Um seinen Kinofilm in der Story entsprechende Bilder zu kleiden, holt sich Haggis Kameramann James Muro (Open Range - Weites Land [2003]) und den weniger bekannten Cutter Hughes Winborne ins Boot, die zusammen eine herausragende Arbeit leisten und L.A. Crash eine ebenso bestechende wie rhythmisch angemessene Optik verleihen, die nie zu lange auf den Figuren verweilt, sie aber dennoch voll zur Geltung kommen lässt, und die Dramaturgie in den einzelnen Szenen sprungartig so sehr anzieht, dass man als Zuseher die Spannung zwischen den Figuren förmlich spüren kann. Leicht dokumentarisch gehalten ist Crash nie unübersichtlich oder hektisch gefilmt, überzeugt mit ungewöhnlichen Einstellungen, innovativen Kamerafahrten und einem exzellenten Schnitt, der den Film wie die Bildersprache nur veredelt.

Wovon der Film jedoch eindeutig lebt, ist das Darstellerensemble, das sich liest, als hätten sich Hollywood-Stars allen Alters ein Stelldichein gegeben. Dass der Mitproduzent Don Cheadle vergleichsweise wenig zu tun bekommt, scheint ihn nicht zu stören, in seinen Szenen überzeugt er mit einer subtilen, natürlichen Mimik, die zu seiner Figur hervorragend passt; eine wirkliche Überraschung und hier so gut wie nie zuvor ist Sandra Bullock, die mit einer Intensität spielt, die man spüren kann. Ihre Szenen gehören nicht nur zu den offenbarendsten des Films, sondern auch zu den menschlichsten – wie sehr sie darum bemüht war, an der Produktion teilzunehmen erkennt man daran, dass sie das Flugticket zum Set sogar selbst bezahlte. Es hat sich gelohnt, nach vielen Komödien und finanziell wenig erfolgreichen ernsten Rollen zeigt die jüngst verheiratete Mrs. Bullock, dass sie spielen kann, und das in einer Art und Weise, wie man es ihr nicht zugetraut hätte.
Der zuletzt wenig aktive Matt Dillon steht ihr in nichts nach und hinterlässt mit seiner packenden Portraitierung von Office Ryan einen bleibenden Eindruck, wie bislang kaum zuvor. Auch Jennifer Esposito macht ihre Sache sehr gut, hat aber nur wenig zu tun. Ebenso Brendan Fraser, der in den letzten Jahren zwar wenig zu sehen war, aber angesichts von Projekten wie Crash und Der stille Amerikaner [2002] eine sichtlich bessere Rollenauswahl trifft, wie früher.
Ausgezeichnet mimt auch Ryan Phillippe, der eine der tragischsten Figuren im Film mimt und dieser Rolle vollauf gewachsen ist. Ihm zuzusehen ist so bewegend wie deprimierend, dabei aber nie aufdringlich. Ebenso bei Michael Peña, der einige sehr fordernde Szenen besitzt, und dessen Filmtochter Ashlyn Sanchez ebenfalls sehr gut spielt. Ein Highlight ist auch Terrence Howard, der seiner Kollegin Thandie Newton die Show stiehlt, obgleich sie bereits eine ausgezeichnete Leistung erbringt. Howard, der bereits zahlreiche Auszeichnungen und Nominierungen erhielt, hätte auch für diesen Film eine verdient – persönlicher und intensiver hätte man sich seine Rolle kaum vorstellen können.
Zwar sorgen Chris 'Ludacris' Bridges und Larenz Tate für einige aufgelockerte Momente, insgesamt sind ihre Rollen doch sehr ernst und auch sie machen ihre Sache ausgesprochen gut. Für eine Überraschung sorgen Shaun Toub und Bahar Soomekh, als Vater und Tochter des persischen Ladens (als Mutter ist Star Trek-Darstellerin Marina Sirtis kurz zu sehen); ihre Szenen sind nicht nur sehr intensiv geschrieben, sondern auch exzellent gespielt und tragen zur Atmosphäre des Films unschätzbar bei.
Angesichts einer solchen Besetzung fallen Gastauftritte wie diejenigen von Bruce Kirby (sehr gut als Matt Dillons Vater), William Fichtner, Keith David, Tony Danza und Lost [seit 2004]-Darsteller Daniel Dae Kim gar nicht mehr auf, doch auch sie alle leisten eine sehr gute Arbeit, wie Loretta Devine, mit der der Autor seine "Neuausrichtung" aller Charaktere am Ende abschließt. Es ist ein großartiger Cast, der durchweg gefordert ist, und mit dem sehr guten Drehbuch auch umzugehen weiß.

Die sehr atmosphärische Musik von Mark Isham, die sich meist sehr minimalistisch gibt und überaus elektronisch anmutet, erinnert bisweilen ein wenig an ältere Stücke von Hans Zimmer, hält sich in Crash stets im Hintergrund, ohne aufdringlich zu erscheinen, zieht jedoch in den notwendigen Situationen das Tempo merklich an und offenbart durch die ungewöhnlich eingesetzten Gesänge eine ebensolche Vielfältigkeit, wie der Cast und das Portfolio an Figuren, das behandelt wird.
Fast schon transzendent klingend empfiehlt sich der Score sicherlich für Liebhaber sphärischer Soundtracks und ist gerade in den einsetzenden Herbstabenden sehr effektiv, wenngleich auf eine unterstützend kühl-deprimierende Weise.
Ein Highlight des Scores ist jedoch der von Bird York aufgenommene Song "In the Deep", der auch im Film voll zur Geltung kommt. Ishams Musik ist bisweilen ein wenig eigenwillig, liefert mitunter auch eine Gänsehaut für die Zuhörer, passt jedoch hervorragend, zu den Bildern und zur Stimmung von L.A. Crash.

Mit einem Budget von unter 10 Millionen Dollar beweist Crash eindrucksvoll, dass auch namhafte Hollywood-Stars keine hohen Gagen benötigen, um mit Leib und Seele bei einem Projekt mitzuwirken. Vielleicht schließt sich bisweilen ja auch der künstlerische und der finanzielle Anreiz gegenseitig aus. Anders ist es kaum zu erklären, wie sich ein derart großes Ensemble ausgezeichneter Akteure für wenig Geld vor der Kamera einfinden kann.
Regisseur und Autor Paul Haggis gelingt ein ausgezeichneter Film über eines der wichtigsten, unliebsamsten und schwierigsten Themen der heutigen Zeit, das nach wie vor tragischer Weise aktuell ist und nicht verschwiegen werden darf. Lohn der Mühe war neben viel Lob von Kritikern und Zuschauern ein Einspielergebnis von 70 Millionen Dollar weltweit – das ist beachtlich und ermutigt hoffentlich Filmemacher wie Studios, solchen Projekten in Zukunft wieder mehr Frei- und Spielraum einzugestehen.
Was den Zuschauer in L.A. Crash erwartet ist erdrückend und ermutigend zugleich, der Film stellt heraus, wie man die Menschen um sich herum wahrnimmt, und was sie tatsächlich zu den Menschen macht, die sie sind. Und das ist ein Thema, das über alle Barrieren, Herkunft wie Religion, Einkommen wie Beruf und Träume wie Rückschläge hinaus geht.


Fazit:
Dem kanadischen Autorenregisseur Paul Haggis gelingt mit seinem zweiten Kinofilm ein außergewöhnlich intimes Portrait einer Stadt bevölkert mit Menschen verschiedenster Herkunft – und meist mit ein und demselben Problem. Täglich konfrontiert mit offenem oder verstecktem Rassismus entpuppen sich die Figuren im Skript im Verlauf der knapp zwei Stunden nicht nur als vielschichtig und facettenreich, sondern im Endeffekt zumeist als gänzlich andere Personen, als man es im ersten Moment denken würde. Dies bei einer solch zahlreichen Besetzung umzusetzen, und das Kernthema immer wieder aufzugreifen, ohne sich zu wiederholen, die Vorurteile von und über verschiedenste Gruppen zu thematisieren, ohne dabei aber mit dem moralischen Zeigefinger auf jemanden zu zeigen, das definiert das Drehbuch wie kaum eines in den letzten Jahren und zeichnet Haggis als unglaublich talentierten Autoren und Regisseur aus.
Der Ensemble-Cast dankt dies mit oscarreifen Leistungen bis in die kleinsten Nebenrollen und die immer wie punktuell immens spannende, durchweg dichte und bedrückende Atmosphäre wird durch eine melancholische wie unterkühlte und doch persönliche Inszenierung eingefangen, der das Kunststück gelingt, den Zuschauer immer wieder in Situationen zu bringen, bei denen man nicht weiß, wie sie ausgehen.
All das macht L.A. Crash zu einem der bewegendsten, wichtigsten und aktuellsten Dramen der letzten Jahre, mit einem ehrlichen und gerade deshalb so deprimierenden Fundament, das nicht unterdrückt werden darf, sondern wie hier diskutiert werden muss, soll es denn irgendwann überwunden werden.