Irgendwann werden wir uns alles erzählen [2023]

Wertung: 4 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 23. Februar 2023
Genre: Drama / Liebesfilm

Laufzeit: 132 min.
Produktionsland: Deutschland / Frankreich
Produktionsjahr: 2023
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Emily Atef
Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas
Besetzung: Marlene Burow, Felix Kramer, Cedric Eich, Silke Bodenbender, Jördis Triebel, Florian Panzner, Christian Erdmann, Christine Schorn, Axel Werner


Kurzinhalt:

Im heißen Sommer des Jahres 1990 steht die junge Maria (Marlene Burow) in einem abgelegenen, thüringischen Dorf an einem Scheideweg. Die letzten Jahre aufgewachsen auf dem Hof der Familie Brendel, ist sie mit dem gleichaltrigen Sohn Johannes (Cedric Eich) zusammen, der gerade sein Abitur macht. Maria selbst bleibt lieber zuhause und vergräbt sich in Büchern. Auch die Arbeit auf dem Hof ist nichts für sie. Während Johannes Kunst studieren will und sein Vater Siegfried (Florian Panzner), angespornt durch seinen vor langer Zeit in den Westen geflohenen Bruder Hartmut (Christian Erdmann), der die Familie erstmals seit dem Mauerfall besucht hat, den Hof umbauen möchte, hat Maria kein wirkliches Ziel. Dafür verfällt sie dem wie sie schweigsamen, introvertierten Henner (Felix Kramer), der einen Pferdehof unweit der Brendels besitzt. Es ist eine leidenschaftliche Affäre, über die sie Stillschweigen bewahren, die geheim zu halten ihnen aber immer schwerer fällt. Aber nicht nur auf Grund Henners dunkler Seite tritt ihre Beziehung auf der Stelle. Denn während Maria sie als Möglichkeit sieht, dass sich in ihrem Leben nichts ändern muss, führt die bloße Vorstellung einer Veränderung in seinem Leben Henner immer mehr an einen emotionalen Abgrund …


Kritik:
Emily Atefs Adaption des gleichnamigen Romans Irgendwann werden wir uns alles erzählen von Daniela Krien ist wie dessen Hauptfigur auf der Suche nach sich selbst. Weniger daran interessiert, am Ende an einer Wegstation anzukommen, sondern die Reise dorthin zu begleiten, überzeugen allem voran zwei starke Darbietungen und ein atmosphärischer Bilderreigen, der die knisternde Stimmung gekonnt einfängt. Doch dies wiegt nicht vollends die inhaltlichen wie kreativen Entscheidungen auf, die das Werk nur schwerer zugänglich machen – und länger.

Es ist der Sommer des Jahres 1990 in einem ländlichen Gebiet im Osten Deutschlands. Die 19jährige Maria lebt seit einiger Zeit auf dem Hof der Familie Brendel, mit dessen gleichaltrigem Sohn Johannes sie inzwischen liiert ist. Aber während Johannes auf das Abitur zusteuert, schwänzt sie lieber die Schule und vergräbt sich in Büchern. Obwohl sie in Johannes’ Gegenwart nicht unglücklich erscheint, ist so doch nie ganz bei ihm, stets in Gedanken woanders mit Interessen, die kaum unterschiedlicher zu denen ihrer Ziehfamilie sein könnten. Irgendwann werden wir uns alles erzählen stellt ein Land vor, das wie seine Menschen im Umbruch ist. Nach dem Wegfall der Mauer erscheinen die Möglichkeiten schier grenzenlos. Johannes entdeckt die Fotografie für sich und will Kunst studieren. Sein Vater Siegfried wird nach langer Zeit mit seinem Bruder Hartmut wiedervereint, der nach Westdeutschland geflohen war und nun mit seiner eigenen Familie erstmals das alte Elternhaus besucht. Er zeigt Siegfried auf, wie er den Hof umbauen, was er damit anstellen könnte, um ihn wirtschaftlich konkurrenzfähig zu halten zu denjenigen des Westens. Sie alle entwickeln Pläne, haben Ziele vor Augen. Mit Ausnahme von Maria.

Es ist ein Umstand, der weder sie, noch die Menschen um sie herum, die Familie, die sie wie ihre eigene Tochter aufgenommen hat, zu stören scheint. In diesem heißen Sommer lässt sich Maria auf den mehr als doppelt so alten, einsiedlerisch lebenden Henner ein, der einen Pferdehof unweit der Brendels besitzt. Henner hat kein augenscheinliches Ziel, keinen Plan – er ist einfach. Sie beginnen eine Affäre, wortkarg und leidenschaftlich, wie diejenigen, von denen Maria sonst nur liest. Henner selbst ist ein so verschlossener wie schwieriger Charakter. Im Auftreten rau und schroff, wenn auch nie gewalttätig gegenüber Maria, nimmt er sich, was er will, und ist dem Alkohol zugetan. Was ihn umtreibt, arbeitet Irgendwann werden wir uns alles erzählen nie vollends heraus, gleichwohl Marias Faszination an ihm greifbar ist.

Die Dynamik, die sich zwischen diesen Figuren entwickelt, funktioniert ohne viele Worte. Anfangs sucht Maria seine Nähe, bietet sich ihm an. Doch je länger der Sommer dauert und umso selbstbewusster sie wird, desto selbstbestimmter tritt sie auf, so dass es schließlich Henner ist, der sie aufsucht. Von seinem Haus aus kann sie den Brendel-Hof sehen, das Leben, das sie nicht führen will, selbst wenn sie nicht weiß, was sie eigentlich möchte. Es ist eines der größten Mysterien dieser Geschichte, denn bis kurz vor Schluss ist sich Maria weder dessen bewusst, was sie für sich will, noch der Tatsache, dass sie gar nicht weiß, was sie will. Hieraus könnte sich für sie ein Lernprozess ergeben, doch niemand in Irgendwann werden wir uns alles erzählen weist sie überhaupt darauf hin. Stattdessen betrügt und belügt sie Johannes, wobei sie mit dem Betrügen keine großen Schwierigkeiten hat, mit dem Belügen aber sehr wohl. Doch sie bei ihrer Selbstfindung zu begleiten, wenn sie gar nicht bemerkt, dass sie bislang keinen Weg gesucht hat, gestaltet sich unerwartet zäh.

Mit beinahe zweieinviertel Stunden nimmt sich Filmemacherin Emily Atef viel Zeit, ihre Hauptfigur vorzustellen und auch die besonderen Umstände, in denen sich die Aufbruchstimmung widerspiegelt. Anstatt durch Dialoge, wird Marias Charakterisierung durch die Mimik und Gestik von Marlene Burow zum Leben erweckt, der es eindrucksvoll gelingt, mit wenigen Worten, einem leichten, erwartungsvollen Zögern oder einem betretenen Blick ein umfassendes Bild dieser unentschlossenen jungen Frau zu zeichnen. In der Rolle des ebenfalls schweigsamen Henner überzeugt Felix Kramer gleichermaßen, selbst wenn er bis zum Ende unzugänglicher bleibt. Irgendwann werden wir uns alles erzählen lebt vom Porträt dieser beider Figuren, die in malerischen Bildern in Szene gesetzt werden. Doch das ändert nichts daran, dass ihre Entwicklung wie auch ihre Charakterisierung im Mittelteil kaum vorankommt und der Ost-West-Konflikt der zerrissenen und wiedervereinten Familie Brendel kaum verfolgt wird. Eine wirkliche Spannung zieht das Liebesdrama im letzten Drittel vielmehr daraus, dass Henner und Maria nicht zueinander passen wollen. Aber dass sie sich wirklich suchen, arbeitet der Film kaum heraus.


Fazit:
Bereits in den ersten Minuten erzeugt Filmemacherin Emily Atef durch ihre bestechende Optik mit einer warmen Farbpalette und Perspektiven, die Details zum Scheinen bringen, eine schwüle Sinnlichkeit, die sich in der sommerlichen Hitze wie zwischen den sich sehnsüchtig begehrenden Figuren wiederfindet. Die Landschaftsbilder allein besitzen eine schwelgerische, natürliche Schönheit, in der man sich verlieren kann. Aber so toll die Stimmung gesetzt ist, man könnte mindestens 25 Minuten des Films entfernen, ohne die Charakterzeichnung oder -findung zu verkürzen. Während Henner in Maria Eigenschaften anderer Frauen seines Lebens erkennt, wird nie klar, wonach er sich wirklich sehnt – oder bei Maria, die zwar an Stärke und Selbstbestimmtheit spürbar gewinnt, aber auch am Ende kaum weiß, was sie sucht. Henner jedenfalls ist es nicht, zumindest nicht ganz. So berührt auch nicht, was sie zu verlieren drohen. Insbesondere von der zentralen Besetzung spürbar fordernd und gut gespielt, entwickelt das zurückhaltende Liebesdrama eine mit Händen zu greifende Stimmung. Nichtsdestotrotz braucht Irgendwann werden wir uns alles erzählen merklich lange, um sich zu finden und wirkt darum wie Maria im Zentrum letztlich zu unentschlossen. Wer sich darauf einlässt, findet Vieles, das es mehr als wert ist, entdeckt zu werden. Aber gleichermaßen viel, das nicht zur Geltung kommt.