Im Reich der Urmenschen [2003]

Wertung: 3.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 28. April 2003
Genre: Dokumentation

Originaltitel: Walking With Cavemen
Laufzeit: 92 min.
Produktionsland: Großbritannien / USA / Deutschland
Produktionsjahr: 2003
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Richard Dale
Musik: Alan Parker
Darsteller: Rachel Essex, Florence Sparham, Christian Bradley, David Rubin


Kurzinhalt:
Ein Zeitreisender geht dreieinhalb Millionen Jahre in der Zeit zurück, um die Vorfahren des Menschen bei ihrem Verlassen der Bäume zu beobachten.
Anschließend besucht er in Etappen die wichtigen Stationen der Entwicklung zum Menschen, wie wir ihn heute kennen.
Die Reise führt ihn bis zum Neandertaler, der vor 30.000 Jahren von uns, den Homo Sapiens, verdrängt wurde.


Kritik:
Mit Dinosaurier - Im Reich der Giganten [1999] schrieb die BBC, die den Halb-Dokumentarfilm produzierte, Fernsehgeschichte. Die Technik des Blockbusters Jurassic Park [1993] wurde dort erstmals "alltagstauglich" eingesetzt. Was sechs Jahre zuvor noch unglaublich viel Geld gekostet hatte, war zu einer nachwievor kostspieligen, aber durchaus erschwinglichen Technik des Abendprogramms geworden.
Die Technik von Gestern, die damals wie die von Morgen gewirkt hat, war für Heute Wirklichkeit geworden.

Millionen Menschen sahen dabei zu, wie die Regisseure Tim Haines und Jasper James die Dinosaurier (darunter nie zuvor gesehene Tierarten) auf dem Bildschirm zum Leben erweckt wurden. Als Zuschauer bekam man den Tagesablauf dieser Tiere zu sehen, ihre Gewohnheiten, ihr Jagdverhalten – und ihren Untergang. Zwar war vieles, was in dieser Dokumentation gezeigt wurde, reine Spekulation, immerhin konnte niemand wirklich zurückreisen und die Dinos beim Grasen beobachten, aber nie zuvor verschmolzen Fiktion und Wissenschaft so gekonnt und übergangslos miteinander.
Mit der Geschichte von Big Al [2000] wollte man diesen Erfolg wiederholen und widmete sich nur einem Dinosaurier und zeigte anhand seiner Knochenfunde, wie er lebte und vermutlich starb. Erneut wurde der mit Hilfe neuester Computertechnik animierte Film ein Erfolg, weswegen man sich bei der BBC nun vornahm, in kürzeren Abständen mehr Filme dieser Art zu veröffentlichen.
Nur ein Jahr später folgte Die Erben der Saurier - Im Reich der Urzeit [2001], wobei man bemerken muss, dass Big Al nur ein Bruchteil der Lauflänge der beiden großen Dokumentationen besaß. Die Erben der Saurier zeigte anschaulich, was nach den Dinosauriern für Tiere folgten, eine Ära, über die man selten liest. Doch anscheinend hatten bereits hier die Marketing-Strategen einen nicht unerheblichen Einfluss. Zwar führte in der britischen Fassung noch Kenneth Branagh durch das Geschehen (für die amerikanische Variante wurde ein amerikanischer Sprecher benutzt, über den die Zuschauer "leichter" Zugang finden sollten), allerdings wurden Zeitlupen und die bekannte Bullet-Time-Kamera aus Matrix [1999] nun in diese Dokumentation eingebaut, was für das Geschehen völlig unnötig und störend ist, aber immerhin hatten nun diejenigen, die mit dem wissenschaftlichen Aspekt nicht so viel anfangen konnten, einen Grund einzuschalten: CGI-Wesen in Slow-Motion zu sehen ist doch tolle Action, oder etwa nicht?!?

Der Schritt von der populärwissenschaftlichen Doku hin zur ebenso billigen wie überflüssigen Effekthascherei war getan. Doch wie man bei Im Reich der Urmenschen (und dem kurz davor veröffentlichten Im Reich der Giganten – Das Rätsel der Riesenklaue [2002]) leider feststellen muss, war mit den Zeitlupenorgien noch lange nicht der Höhepunkt der Weichspülung der ehemals interessanten Wissenschaftssendungen erreicht. Diesmal gibt es einen Zeitreisenden, dafür aber keinen Kenneth Branagh mehr, videoclipartige Übergänge zwischen den Szenen und mehr Blut als noch zuvor. Letzteres wurde übrigens für die amerikanische Ausstrahlung schon in den vorhergehenden Filmen herausgeschnitten – zu brutal für die US-Bürger.
Im Deutschen kann man sich wenigstens noch an dem gewohnten Sprecher Otto Clemens erfreuen, der einmal mehr die Dokumentation moderiert. Ihm ist es zu verdanken, dass man als Zuschauer nicht schon nach wenigen Minuten genervt den Kanal wechselt; im Original hingegen muss man mit Lord Winston, dem Zeitreisenden, Vorlieb nehmen.

Wie sinnvoll es ist, nun eine Quasi-"Rahmenhandlung" für die Dokumentation zu wählen, muss man ansich nicht weiter beantworten. Bislang hatte es hervorragend ohne funktioniert; und auch wenn man bei der BBC standhaft behauptet, man wolle den Inhalt verbessern, anstatt nun eine Pseudo-Seifenoper zu erzählen, kann man als Zuschauer nicht anders, als doch an vermarktungstechnische Gründe, damit ein noch breiteres Publikum angesprochen wird, für den völlig überflüssigen Beobachter zu denken, der mit den Urzeit-Menschen dort sogar interagiert. Mal in einem Jeep, dann wieder auf einem Schneemobil unterwegs, geht Lord Winston so weit, einen toten Vorfahren zu nehmen und ihn an einen anderen Ort abzulegen, oder die Urmenschen vergreifen sich an seiner Ausrüstung. Auf der anderen Seite der Mattscheibe kann man da nur verstört den Kopf schütteln. Durch solche Szenen wollten die Macher wohl einen Bezug zur Gegenwart herstellen. Stattdessen geht eben so viel von dem Realismus verloren, den sie vermitteln möchten.

Inhaltlich gibt es – davon abgesehen – an Im Reich der Urmenschen nicht viel auszusetzen, außer dass viele Szenen wie ein müdes Recycling der bisherigen BBC-Walking With-Dokumentarfilme wirken. Einige Einstellungen wurden beinahe 1:1 kopiert.
Trotzdem lernt man in den 90 Minuten man Einiges über unsere Vorfahren, so zum Beispiel, dass Australopithecus Afarensis vor 3,5 Millionen Jahren in Ostafrika gelebt hat und der erste war, der auf zwei Beinen stand und lief (wenn auch nicht viel). Paranthropus Boisei bevölkerte vor zwei Millionen Jahren Afrika und hatte viermal so große Zähne wie heutige Menschen – die benötigte er unter anderem, um Pflanzen und Wurzeln zu kauen; demgegenüber war Homo Habilis ein Aasfresser, dafür aber geschickt, was das Fertigen von Werkzeugen angeht. Homo Ergaster lebte 500.000 Jahre später in Afrika und hatte auf Grund seiner Nahrung (Fleisch und Knochenmark) ein bedeutend größeres Gehirn als seine Ahnen. Sie breiteten sich sogar nach Asien aus, wo sie als Homo Erectus bekannt wurden. In Europa lebte eine halbe Million Jahre vor unserer Zeit der Homo Heidelbergensis, der sich als Jäger und Werzeugmacher verewigte, allerdings vermutlich nicht direkt mit dem modernen Menschen verwandt ist. Von 200.000 bis 30.000 vor Christus lebte dann der Homo Neanderthalis, der vom Homo Sapiens verdrängt wurde.
Die Macher verstehen es dabei durchaus, mit modernster Computer- und Maskentechnik die Welt von damals auferstehen zu lassen, doch wirken manche Perioden viel zu schnell abgehandelt, das Geschehen alles in allem zu gehetzt; hätte man sich mehr Zeit gelassen und erneut eine Miniserie produziert, wäre für die Zuschauer letztendlich mehr dabei herausgesprungen.

Die eigentlichen Darsteller hatten es bei den Dreharbeiten alles andere als einfach, von Minusgraden, bis hin zu 40 Grad Celsius Hitze mussten sie alles mitmachen – und das unter aufwändigstem Make-Up. Fünf Stunden dauerte das Auftragen, ein Mammuthakt für die 14 menschlichen Darsteller, die während der Dreharbeiten verständlicherweise nackt sein mussten, was ihnen in Afrika angenehmer war, als Kleidung zu tragen.
Über 1500 Prothesen, 56 Quadratmeter künstlichs Haar und 21 erwachsene, sowie 4 Kinderanzüge mussten gefertigt werden, um an den 41 Drehtagen die Urmenschen zum Leben zu erwecken. Gedreht wurde in Südafrika, Island und Großbritannien.

Doch während die Masken durchweg hervorragend modelliert sind, verliert sich dieser Eindruck bei den zahlreichen Computereffekten, die zwar meist überzeugen können, von denen ein paar aber nicht mit den bisherigen Standards mithalten können.

Die Musik ist überwiegend unscheinbar, aber passend und nicht aufdringlich, lediglich in einigen Szenen wünscht man sie sich etwas leiser, doch gegenüber der eigentlichen Inszenierung ist sie eine Wohltat.
Kamera und Schnitt sind gerade in den Actionsequenzen zu unübersichtlich und verwackelt geraten. Die völlig überflüssigen Szenen, in denen Blut buchstäblich auf die Kamera spritzt, oder man mitansehen muss, wie Tiere ausgeweidet werden, machen das alles nicht besser. Eine solche Brutalität war bislang nicht notwendig (und ist es heute eigentlich auch nicht), Fans des sogenannten "Gore" kommen allerdings auf ihre Kosten.
Ein Ärgernis sind die Videoclip-Übergänge, bei denen mit Falschfarben und in Zeitraffer alle möglichen Szenen aneinandergereiht werden, wenn ein Zeitsprung vorgenommen wird. Man fühlt sich verteufelt an MTV erinnert und fragt sich, wieso die Macher das bisherige Konzept der sauberen, ruhigen Inszenierung für Erwachsene nicht beibehalten haben, das sich ja bewährt hat, sondern bei Im Reich der Urmenschen nun alles plötzlich auf Jugendliche zuschneiden müssen. Den wissenschaftlichen Aspekt verliert man dabei leider schnell aus den Augen.

4 Millionen britische Pfund kostete es, unsere Vorfahren wieder auferstehen zu lassen, 111 Wissenschaftlern unterstützten und berieten die Macher – vielleicht hätte es einfach einen guten Regisseur gebraucht, um das Ganze vernünftig zu verpacken.


Fazit:
Wenn sich beim Anblick des Zeitreisenden jedes Mal unwillkürlich die Fäuste des Zuschauers ballen, dann läuft etwas falsch. Der Charakter ist überflüssig, störend und kostet diese Dokumentation unnötig Glaubwürdigkeit. Statt weiterhin auf den wissenschaftlichen Inhalt zu setzen, versucht die BBC nun ihr ursprüngliches Konzept zu amerikanisieren, dem Massengeschmack anzupassen; auf Kosten der Seriösität.
Inhaltlich in Bezug auf die Fakten gibt es nur wenig auszusetzen (und das rettet den Film letztendlich vor dem Absturz), außer dass viele der Szenen und Ereignisse aus den bisherigen Dokumentationen schon bekannt sind.
Die reißerische und unausgegorene Inszenierung allerdings kostet Im Reich der Urmenschen viele Punkte und Sympathien. Nach den noch verhältnismäßig wenigen Mängeln von Im Reich der Urzeit häufen sich diese nun in fast schon erschreckendem Maße und lassen für die schon angekündigten noch kommenden weiteren Dokumentarfilme nichts Gutes erahnen.