Gunda [2020]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 15. April 2022
Genre: DokumentationOriginaltitel: Gunda
Laufzeit: 93 min.
Produktionsland: Norwegen / USA / Großbritannien
Produktionsjahr: 2020
FSK-Freigabe: ohne Altersbeschränkung
Regie: Viktor Kosakovskiy
Kritik:
Viktor Kosakovskiys Gunda ist kein Film für ein großes Publikum. Dabei ist sein experimenteller Dokumentarfilm ein Porträt, das von ein größtmöglichen Zahl an Menschen gesehen werden sollte, um ein Verständnis für Geschöpfe zu schaffen, mit denen viele meist nur in verarbeitetem Zustand in Kontakt kommen. Ruhig, meditativ und mit ebenso schönen wie tragischen Einstellungen versehen, gelingt ihm dabei ein Blick nicht auf diese Tiere herab, sondern aus ihrer Perspektive heraus. Das besitzt durchaus etwas Verzauberndes.
Im Zentrum der Eindrücke steht das Titel gebende Hausschwein Gunda, eine Muttersau, die gerade circa ein Dutzend Ferkel geboren hat. Gunda begleitet dieses Schwein auf dem Bauernhof, auf dem es sich in dem hölzernen, mit Stroh ausgekleideten Stallhaus und draußen frei bewegen kann. Ohne Kommentar und in schwarzweiß gehalten, nimmt das Publikum so den Alltag dieses Tieres wahr, der zwar nicht allzu spektakulär anmuten mag, aber von etwas geprägt ist, was man den Geschöpfen, die meist auf einen Status als Nutztier reduziert werden, im ersten Moment nicht zugestehen mag. Von ihren Jungen als wichtigster Bezugspunkt wahrgenommen, erschließt sich so durch die Beobachtung allein, dass die Sau und ihre Ferkel nicht nur ein eigenes Empfinden besitzen, sondern neben sozialen Strukturen auch einen gewissen Alltag, dem sie folgen.
Filmemacher Kosakovskiy vermenschlicht diese Wesen dabei nicht, er begleitet sie lediglich, aus ihrem Blickwinkel heraus und in der Umgebung, in der sie sich wiederfinden. Das mag im ersten Moment so profan wie uninteressant klingen, doch das Gegenteil ist der Fall. Erscheint es in den ersten Minuten noch geradezu herausfordernd, sich auf diesen Erzählstil einzulassen, vergehen die eineinhalb Stunden letztlich wie im Flug. Dabei entwickeln die ausgewählt zusammengestellten Bilder eine derart entschleunigende Wirkung, dass man im Gegensatz zu vielen anderen Dokumentarfilmen weniger auf die Präsentation von Inhalten fixiert wird, als darauf, was diese Bilder bei einem selbst auslösen und welche Verbindungen man durch sie herstellt. So offenbaren sich einzelne Persönlichkeiten bei diesen Tieren, individuelle Verhaltensmuster und Unterschiede. Etwas ähnliches gelingt dem Dokumentarfilm auch bei den anderen Tieren, die er besucht, selbst wenn diese Eindrücke deutlich kürzer ausfallen: Ein paar Kühe und eine kleine Schar an Hühnern, bei denen man nur vermuten kann, dass letztere zum ersten Mal in der Natur freigelassen werden. Sieht man die Kühe immer paarweise zusammenstehen, sich gegen die unendlich scheinenden Fliegenschwärme wehren, oder das einbeinige Huhn seine neue Umgebung erkunden, werden diese Tiere zu mehr als nur Objekten.
Das führt neben vielen Einstellungen, in denen man die Eindrücke fasziniert auf sich wirken lässt, zu einer, die einem ein Lächeln ins Gesicht zaubert, wenn die jungen Schweine aus der schützenden Trockenheit des Stalls heraus den Regen „trinken“. Aber auch zu den letzten Momenten, in denen sich Gunda in Anbetracht des Unverständnisses der Situation und der plötzlichen Einsamkeit, die sie umgibt, sich unmittelbar mit einem von Traurigkeit erfüllten Blick an die Kamera zu wenden scheint. Wer ernsthaft bezweifelt, dass diese Geschöpfe unfähig wären, zu empfinden, wer ihnen Wesensmerkmale des Lebens inklusive sozialer Bindungen abspricht, leugnet nicht nur das Offensichtliche, sondern tut dies vermutlich zum großen Teil, um das eigene Verhalten nicht hinterfragen zu müssen. Dabei ist Gunda nicht darauf aus, zu missionieren. Es geht dem Filmemacher nicht darum, die Grausamkeiten einer gesichtslosen Industrie vor Augen zu führen, sondern die Individualität der Tiere.
Das gelingt auch dank der natürlichen Klangkulisse und der herausstechenden Bilder, denen die Farbgebung nicht von ungefähr die Anmut eines Porträts verleiht. Zahlreiche Perspektiven könnte man in einem Bildband wiederfinden, die Tiere ins Zentrum gerückt, beinahe lebensgroß. Die geduldige Beobachtung, mit der Viktor Kosakovskiy den Geschöpfen folgt, lässt das Publikum ihre Eigenheiten umso besser entdecken. Vor allem entwickeln die Einblicke so eine Intensität, die man nicht erwarten würde. Das ist faszinierend, aber nicht belehrend. Es soll vielmehr die Augen öffnen und das gelingt Gunda auf eine eindrucksvolle Art und Weise.
Fazit:
Hat Filmemacher Viktor Kosakovskiy sein Publikum dafür sensibilisiert, worauf es beim Titel gebenden Hausschwein und seinen Ferkeln achten sollte, erweitert er den Blick auf Kühe und Hühner, bei denen sich ebenfalls aufschlussreiche Beobachtungen ergeben. Während viele Dokumentationen die Tiere im Zentrum mit menschlichen Attributen versehen, oftmals durch die eingesprochenen, begleitenden Texte, erschließen sich die Erkenntnisse hier einzig aus dem gezeigten Verhalten dieser Geschöpfe, die Gewohnheiten offenbaren, eine ganz eigene Wahrnehmung ihrer Umgebung und ein eigenes Gefühl für ihre Welt und die Zeit. Das ist nicht nur aufschlussreich, sondern in geradezu poetisch schönen Bildern auf eine behutsam meditative Art und Weise eingefangen. Für ein breites Publikum eignet sich Gunda dabei zwar bereits auf Grund der Präsentation nicht, aber die intensive Auseinandersetzung mit den Tieren ist ein filmisches Erlebnis, das vielleicht nicht nur ein Verständnis für die soziale Komplexität dieser Wesen, sondern auch für die bislang enge eigene Sichtweise auf sie schafft. Wertvoll und wichtig.