Gone Baby Gone - Kein Kinderspiel [2007]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 11. Mai 2009
Genre: Drama / Thriller

Originaltitel: Gone Baby Gone
Laufzeit: 114 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2007
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Ben Affleck
Musik: Harry Gregson-Williams
Darsteller: Casey Affleck, Michelle Monaghan, Morgan Freeman, Ed Harris, John Ashton, Amy Ryan, Amy Madigan, Titus Welliver, Michael K. Williams, Edi Gathegi, Mark Margolis, Madeline O'Brien, Slaine


Kurzinhalt:
Vor drei Tagen wurde die vierjährige Amanda McCready (Madeline O'Brien) entführt. Bislang liegt keine Lösegeldforderung vor. Während die Polizei unter Jack Doyle (Morgan Freeman) mit Hilfe der Medien eine Suche nach dem Mädchen startet, bittet Amandas Tante Bea McCready (Amy Madigan) gegen den Rat ihres Mannes Lionel (Titus Welliver) die Privatdetektive Patrick Kenzie (Casey Affleck) und Angie Gennaro (Michelle Monaghan) um Hilfe. Sie sind darauf spezialisiert, verschwundene Personen aufzufinden, auch wenn Entführungen bislang nicht dazu gehörten.
Als sie sich in der Nachbarschaft umhören, erfahren sie von den Kontakten von Amandas Mutter Helene (Amy Ryan) zu den örtlichen Drogenhändlern. Die Polizisten Bressant (Ed Harris) und Poole (John Ashton) bringen Helene schließlich dazu zuzugeben, dass sie einen Drogenhändler um 130.000 Dollar bestohlen hat.
Dann taucht plötzlich eine Lösegeldforderung auf. Aber auch wenn für Kenzie Vieles an dem Fall noch nicht zusammenpasst, was hinter der Entführung steckt, stellt ihn vor eine Entscheidung, die nicht nur sein Leben verändern wird ...


Kritik:
Schon bei der Eröffnungssequenz wird klar, dass sich Regisseur Ben Affleck auf ein anderes Terrain begibt, wie es viele seiner Kollegen tun. Nicht nur, dass der Inhalt für einen Regieerstling (seine bisher inszenierten Filme wurden nicht veröffentlicht) außergewöhnlich anspruchsvoll ist, er kleidet sein in Boston spielendes Drama um die Kindesentführung der kleinen Amanda in so authentische Bilder, dass man das Gefühl bekommt, er habe sich eine Kamera geschnappt und einfach auf der Straße gedreht. Die Nachbarschaft der McCreadys ist dabei ebenso aus dem Leben gegriffen wie die Wohnung von Patrick Kenzie und Angie Gennaro, die fernab von allem Glamour, den man bei erfolgreichen Privatdetektiven vermuten würde, in einem ganz normalen kleinen Haus in einer normalen Straße wohnen.
Vielleicht ist es gerade die Authentizität, die Gone Baby Gone zu so schwerer Kost macht, weswegen es einem als Zuschauer die Luft abschnürt, wenn man zu sehen bekommt, wie die drogenabhängige Mutter in ihrem verwahrlosten Haus fernsieht, während die Ermittler sich das spärlich eingerichtete und unterkühlte Kinderzimmer anschauen. Doch letztlich sind es die Entscheidungen der unterschiedlichen Figuren, die einen als Zuschauer immer wieder an die Grenzen dessen bringen, was man selbst in der Situation zu tun bereit wäre. So entpuppt sich die Geschichte, basierend auf einem Roman von Dennis Lehane, der auch bereits die Vorlage zu Mystic River [2003] lieferte, als Verkettung der schlimmsten Umstände bei den stellenweise nobelsten Absichten. Wohin das auch für Patrick Kenzie führt, bekommt man am Schluss zu sehen und jeder soll sich sein eigenes Bild davon machen.
Wer Gone Baby Gone vorwirft, die Story würde die moralischen Fragen in den Raum stellen, ohne sie zu beantworten, dem ist entgangen, dass diese jeder für sich selbst beantworten muss.

Dass man sich darauf konzentrieren kann liegt an den durchweg erstklassig besetzten Darstellern, die ihren Figuren auch mitunter in wenigen Momenten eine Glaubwürdigkeit verleihen, die man manchen gar nicht zugetraut hätte. Wenn Morgan Freeman oder Ed Harris mit einem Charisma die Szenen zum vibrieren bringen, ist das nicht weiter verwunderlich. Doch wenn man Michelle Monaghan oder Amy Ryan in derselben Art und Weise agieren sieht, verblüfft das durchaus. Zumal beide Darstellerinnen unterschiedlicher kaum sein könnten. Während Monaghan als toughe aber nicht unnahbare Ermittlerin in manchen Momenten mit der Fassung ringt und damit dem Zuseher lediglich einen Spiegel vorhält, entpuppt sich Ryan als ideale Wahl für eine Figur, die unbegreiflicher kaum sein kann.
John Ashton hat dahingegen kaum etwas zu tun, während Casey Affleck von seinem Bruder Ben gekonnt in Szene gesetzt wird. Nicht nur, dass man ihm ansieht, wie er über die losen Enden der Entführung nachgrübelt, ehe er das Puzzlestück zusammensetzt, er wirkt in seinem Auftreten wie jemand, der tatsächlich vor jenem Hintergrund aufgewachsen ist und haucht seiner Figur damit gekonnt Leben ein.

Zu einem gewissen Grad gehört Boston selbst ebenfalls zur Besetzung dazu, immerhin zeigt Regisseur Affleck hier Ecken und Stadtteile, die man so noch nicht zu sehen bekommen hat. Wie Michael Mann in Collateral [2004] dies mit Los Angeles tat, zeigt Ben Affleck in Gone Baby Gone ein Stadtportrait, bei dem man nicht richtig einordnen kann, ob es nun anerkennend eine Hymne auf die Stadt und ihre meist unbeachteten Bewohner darstellen soll, oder aber eine traurige Ballade angesichts des Elends und der Verzweiflung der Beteiligten. Wie dem auch sei ist es eindrucksvoll und erschütternd und prägt sich mit Perspektiven und Einstellungen im Kopf der Zuseher ein, die in ihrer Komposition deutlich reifer wirken, als man das dem Filmemacher zugetraut hätte.
Affleck fängt die verschiedenen Momente mit einer beinahe dokumentarischen Zielsicherheit ein, bei der das Publikum wie eine weitere Person im Raum fühlt. Gerade deshalb wirken viele Momente urplötzlich so bedrückend, wenn die Figuren zwischen die Stühle geraten. Sei dies bei der Konfrontation in der Bar, der Lösegeldübergabe oder beiden Besuchen bei der degenerierten Crack-Familie, die einem als Zuseher merklich an die Substanz gehen.
Gelungener hätte man Gone Baby Gone nicht inszenieren können und auch die musikalische Untermalung durch Harry Gregson-Williams mit ihren ruhigen, atmosphärischen und traurigen Themen, die aber nie rührselig klingen, trägt ihren Teil dazu bei. Angesichts dieses Kraftaktes kann man nur hoffen, dass Ben Affleck den Regieposten auch in kommenden Filmen übernehmen wird. Vielleicht widmet er sich ja weiteren Geschichten um Patrick Kenzie und Angie Gennaro, derer gibt es nämlich noch vier weitere, auch wenn eine Entwicklung der Figuren von diesem Punkt an kaum vorherzusagen wäre. Und vielleicht es dies auch eine Erfahrung, die man aus dem ungewöhnlich realistischen Thrillerdrama mitnehmen sollte: Es sind sowohl die Dinge, die wir nicht beeinflussen können, wie auch unsere Entscheidungen, die uns zu dem machen, was wir sind.


Fazit:
Wer sich auf eine solche Geschichte einlässt muss damit rechnen, dass einem die Thematik auch zu schaffen macht. Gone Baby Gone ist diesbezüglich keine Ausnahme. Das aber letztlich weniger auf Grund der Kindesentführung. Die zahlreichen Storywendungen und Hintergründe, die aufgedeckt werden, rücken die Ereignisse in ein ganz anderes Licht. Vielmehr sieht man sich durch die erstklassigen Darsteller und der authentischen Dialoge an der Seite der Figuren und muss sich die Frage stellen, wie man selbst reagiert hätte.
Dabei wirft Ben Affleck in seiner Regiearbeit viele unbequeme Fragen und moralische Dilemmas auf, ohne den Zuseher aber ohne eine Meinungsbildung vom Haken zu lassen. Eine Entscheidung wird verlangt, auch wenn sie in allen Fällen mehr Schwierigkeiten mit sich bringt, als einen ruhig schlafen lässt. Dank der realistischen Atmosphäre, der erstklassig agierenden Darsteller und der ruhigen Erzählweise entfaltet das anspruchsvolle Drama eine Wucht, die nachhaltig wirkt.
Was am Ende sicher bleibt, ist die Erkenntnis, dass man vor solche Entscheidungen nicht gestellt werden möchte. Doch das kann man sich in den seltensten Fällen aussuchen.