Everything Everywhere All at Once [2022]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 2. Juli 2023
Genre: Action / Fantasy

Originaltitel: Everything Everywhere All at Once
Laufzeit: 139 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren

Regie: Daniel Kwan, Daniel Scheinert
Musik: Son Lux
Besetzung: Michelle Yeoh, Stephanie Hsu, Ke Huy Quan, Jamie Lee Curtis, Tallie Medel, James Hong, Jenny Slate, Harry Shum Jr., Biff Wiff, Sunita Mani, Aaron Lazar


Kurzinhalt:

Evelyn Quan Wang (Michelle Yeoh) leitet zusammen mit ihrem Mann Waymond (Ke Huy Quan) einen Waschsalon, der den Großteil ihrer Zeit in Anspruch nimmt. Das Paar hat sich auseinander gelebt, Evelyn ist so distanziert von ihrem Mann wie von ihrer Tochter Joy (Stephanie Hsu), deren Liebe zu Becky (Tallie Medel) sie kaum akzeptieren kann. Doch gesteht sich Evelyn dies nicht ein und führt als Begründung, dass dies nicht ausgesprochen werden soll, Großvater Gong Gong (James Hong) an, für den es ein Schock sein würde. Als die Finanzbeamtin Deirdre Beaubeirdre (Jamie Lee Curtis) eine Prüfung der Steuerunterlagen durchführt, alles zusammenkommt und droht, über Evelyn hereinzubrechen, erfährt sie, dass sie Kontakt mit sich selbst in anderen Universen aufnehmen und deren Erfahrungen in sich aufnehmen kann. Das ist auch notwendig, wie ein Waymond aus einem anderen Universum ihr verrät, da eine finstere Macht aus ist, das Multiversum zu zerstören und nur Evelyn all dies aufhalten kann …


Kritik:
So ehrgeizig wie inhaltlich tiefgründig, erscheint der vielfach preisgekrönte Everything Everywhere All at Once auf den ersten Blick wie ein überbordender Film, der alle Genres sprengt. Teils Drama, teils Actionabenteuer und Fantasy, ebenso wie Komödie, packen die Filmemacher Daniel Kwan und Daniel Scheinert alle großen existenziellen Fragen in eine Geschichte über Familie, Lebensträume und -wirklichkeiten. Eindrucksvoll umgesetzt und bemerkenswert gespielt, ist das aber auch eines: Herausfordernd anstrengend.

Im Zentrum steht die chinesische Einwandererfamilie Wang, die sich in den USA ein Leben, wenn auch kein merkliches Zuhause aufgebaut hat. Zusammen mit ihrem Ehemann Waymond betreibt die von Michelle Yeoh erstklassig verkörperte Evelyn einen Waschsalon, der vom Finanzamt überprüft wird. Zum chinesischen Neujahrsfest ist ihr Vater Gong Gong bei ihnen, zu dem Evelyn ein ebenso distanziertes Verhältnis hat, wie zu ihrer Tochter Joy. Während die Vorbereitungen zum Fest immer mehr Zeit in Anspruch nehmen, erfährt Evelyn, dass sie mit anderen Existenzen ihrer Selbst in Paralleluniversen Kontakt aufnehmen kann und muss, um ein mächtiges Wesen aufzuhalten, das droht, das Multiversum zu zerstören. Wer den Sprung vom Familiendrama zur Science Fiction-Story abrupt findet, darf sich dessen sicher sein, dass er im Film selbst ebenso abrupt erscheint. Beginnt Everything Everywhere All at Once als Porträt einer Einwandererfamilie, die nicht nur mit Diskriminierung, sondern auch mit den geplatzten Versprechungen des amerikanischen Traums hadert, was dazu führt, dass sich Waymond von Evelyn scheiden lassen will, und zeigt das Drehbuch gleichzeitig, wie sehr Evelyn unter all dem Druck leidet, der auf ihr lastet, so dass sie nie ihr Potential entfalten konnte, wandelt sich das alsbald in eine teilweise arg überdrehte Martial Arts-Komödie, die Einblicke in zahlreiche alternative Universen bietet.

Das klingt, als wären die unterschiedlichen Elemente nur schwer vereinbar und tatsächlich hängt die Akzeptanz des Publikums maßgeblich davon ab, ob dieses bereit ist, den geradezu fahrigen Sprüngen der inhaltlichen Ausrichtung der Filmemacher Daniel Kwan und Daniel Scheinert zu folgen. Man kann es sich insofern einfacher machen, als man nicht darüber nachdenkt und sich von der handwerklich tadellosen und einfallsreichen Präsentation schlichtweg mitnehmen lässt. Schwerer wird es jedoch dadurch, dass die Verantwortlichen das Konzept nicht nur annehmen, sondern stärker auf die Spitze treiben, als dies bei vielen anderen Geschichten der Fall ist. Das führt zu Universen, in denen die Menschen Hotdogs statt Finger haben, in denen es gar kein Leben gibt, oder dass in Zeitlupe Figuren mit verpixelten Genitalien bei Kämpfen durch die Luft fliegen. Vom alles verkörpernden Bagel ganz abgesehen. Das ist viel und selbst, wenn man sich darauf einlässt, auf Grund der schieren Masse an Ideen und Aussagen, die Everything Everywhere All at Once zusammenträgt, auch zu viel, aber das heißt nicht, dass man den Film für das, was er ist, nicht bewundern kann.

Die Geschichte ist wie die Produktion ambitioniert, präsentiert aktuelle wie zeitlose Themen und findet einen Weg, beides auf eine Art und Weise zu verbinden, dass man den Verlauf des Ergebnisses nicht vorhersehen kann. Angefangen von einem Auftritt von Jamie Lee Curtis als Finanzbeamtin, der untrennbar mit der Darstellerin verbunden bleibt, wie auch die Rückkehr von Ke Huy Quan vor die Leinwand, in der er eine eindrucksvolle Darbietung präsentiert. Michelle Yeoh verkörpert die in sich gezogene Matriarchin, die versucht, den Alltag zu bewältigen, ebenso beeindruckend, wie die charakterlichen Aspekte dieser Figur, die sich fragt, ob dies alles ist, was in ihrem Leben auf sie wartet. Erblickt sie die unterschiedlichen Ausprägungen, die ihr Lebensweg hätte nehmen können, sieht man ihre Leidenschaft und wie sie aufgeht in einem Leben, in dem sie und ihre Erfolge im Mittelpunkt stehen, ist das so entblätternd, wie das letzte Drittel, das die Kraft der Familie, der menschlichen Bindungen unter uns allen ins Zentrum rückt. Everything Everywhere All at Once offenbart eine inhaltliche Tiefe, die über die teils herrlich überzogene Komik hinausgehen und blickt man hinter das nerdige Fachjargon des Multiversums und der Erklärungen, die hier gegeben werden, dann erkennt man, wie stark unser Leben nicht nur von unseren Entscheidungen geprägt ist. Ebenso prägend ist, wie die Menschen, die uns wichtig sind, auf unser Leben einwirken.

Handwerklich ist das, nicht für eine Independent-Produktion, sondern insgesamt, geradezu überwältigend inszeniert. Der Bilderreigen ist beinahe überfordernd, die Action packend umgesetzt und die unterschiedlichsten Stilrichtungen der ausgeprägt verschiedenen, alternativen Universen ist ein Fest für die Sinne. Doch eben diese Vielseitigkeit und die Geschwindigkeit, mit der diese präsentiert wird, machen Everything Everywhere All at Once nicht leicht zugänglich. Wem es generell schwerfällt, mit abstrakten Erzählkonzepten warmzuwerden, wird es hier besonders schwer haben. Mit merklich über zwei Stunden ist der Film darüber hinaus lang und erscheint inhaltlich nicht immer so zielgerichtet, wie die Umsetzung in der Kreativität sicher. Lässt man sich darauf ein, ist es jedoch ein filmisches Erlebnis, wie es sie nur selten gibt und eines, das einen auch beschäftigt, nachdem der Abspann vorüber ist.


Fazit:
Was wäre, hätte man sich vor Jahrzehnten anders entschieden, wäre diese eine Lebensentscheidung anders ausgefallen? Wäre man heute glücklicher, erfolgreicher? Und was wäre das Opfer, das man dafür erbringen müsste? Die Filmemacher Daniel Kwan und Daniel Scheinert schicken ihre Hauptfigur Evelyn auf eine Reise, auf der sie dies entdeckt und gleichermaßen Licht wie Schatten bemerkt. Gleichzeitig muss sie erkennen, wie sehr ihre eigene Unfähigkeit, zu akzeptieren, dass ihre Tochter eine andere Frau liebt, diese in ein schwarzes Loch stößt und sie damit doch nur widerspiegelt, wie ihr Vater einst mit Evelyn umgegangen ist. Everything Everywhere All at Once verwebt vor dem Hintergrund einer teils überzogen präsentierten und mitunter geradezu comichaften Story eine greifbare Familiengeschichte, wie es sie unzählige Male gibt. Erstklassig gespielt und fantastisch inszeniert, ist das mutig wie beeindruckend dargebracht, aber sich darauf einzulassen, erfordert nicht nur eine Bereitschaft hierzu, sondern auch, sich einer auf Grund ihrer gegenpoligen Aspekte teils anstrengenden Erzählung zu stellen. Gelingt das, kann der Film sein volles Potential auch beim Publikum entfalten. Das ist aber vermutlich nicht so groß, wie die zahlreichen und verdienten Preise, die er verliehen bekam, es suggerieren.