Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry [2023]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 23. August 2023
Genre: DramaOriginaltitel: The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry
Laufzeit: 108 min.
Produktionsland: Großbritannien
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren
Regie: Hettie Macdonald
Musik: Ilan Eshkeri
Besetzung: Jim Broadbent, Penelope Wilton, Linda Bassett, Joseph Mydell, Monika Gossman, Earl Cave, Adam Jackson-Smith, Bethan Cullinane, Nina Singh, Daniel Frogson, Naomi Wirthner, Claire Rushbrook, Ian Porter, Joy Richardson, Maanuv Thiara, Sam Lee
Kurzinhalt:
Der Rentner Harold Fry (Jim Broadbent) lebt einen im Grunde überschaubaren Alltag mit seiner Frau Maureen (Penelope Wilton) im Süden Englands. Er ist nicht allzu gesellig und auch mit Maureen wechselt er nicht viele Worte. Umso mehr wühlt ihn ein Brief auf, den er von Queenie Hennessy (Linda Bassett) erhält, mit der er vor mehr als 25 Jahren zusammengearbeitet hat. Sie leidet an Krebs und möchte sich verabschieden. Harold verfasst eine Antwort, doch als er das Schreiben zum Briefkasten bringen will, scheint es ihm nicht mehr angemessen, Queenie nicht selbst aufzusuchen. So läuft er weiter zu dem Hospiz, in dem Queenie liegt, am anderen Ende des Landes, mehr als 700 Kilometer entfernt. Maureen hat kein Verständnis für diese unerwartete Pilgerreise, auf der Harold sich immer mehr seinen Erinnerungen stellt, die gleichermaßen dafür verantwortlich sind, weshalb er diesen Marsch gehen muss, wie weshalb er und Maureen sich so fremd geworden sind. Sie beide müssen sich in der Zeit fern voneinander einem Trauma stellen, das sie lange verdrängt und nie aufgearbeitet haben. Als Harolds ungewöhnliche Pilgerreise bekannt wird, inspiriert er damit Menschen im ganzen Land …
Kritik:
Ursprünglich als Radiohörspiel umgesetzt, adaptierte die britische Autorin Rachel Joyce ihr Werk Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry im Jahr 2012 zunächst als später preisgekrönten Bestsellerroman. Für das Drehbuch der gleichnamigen Verfilmung von Hettie Macdonald zeichnet sie ebenfalls verantwortlich. Diese lange Verbundenheit mit der Geschichte spiegelt sich in dem Facettenreichtum der Figuren durchaus wider, die durch Blicke, ein Zögern oder eine ausbleibende Berührung mehr aussagen, als unzählige Dialoge. Sie mag aber auch dafür verantwortlich sein, dass Passagen im Film enthalten oder länger als notwendig sind, die der Geschichte zumindest in der vorliegenden Form keine nennenswerten Aspekte hinzufügen. Doch das ändert nichts an den sehenswert inspirierenden Aussagen, oder der einfühlsamen Erzählung insgesamt.
In deren Zentrum steht der schweigsame, Titel gebende Rentner Harold Fry. Mit seiner Frau Maureen wohnt er im Süden Englands und beobachtet seine Nachbarn durch einen Spalt im Vorhang, um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eines Tages erhält Harold einen Brief von Queenie Hennessy, mit der er vor 25 Jahren in einer Brauerei zusammengearbeitet hat. Sie befindet sich in einem Hospiz und möchte sich verabschieden. Während Harold von der Mitteilung tiefbewegt ist, wirkt Maureen wenig empathisch. Überhaupt scheint die viele Jahrzehnte dauernde Ehe an keinem guten Punkt angekommen. Sie wechseln kaum ein Wort miteinander, sicherlich kein warmherziges. Das Verhältnis ist abgekühlt. Harold schreibt Queenie eine Antwort und will den Brief zum Briefkasten bringen, doch auf dem Weg dorthin erinnert er sich in der Zeit zurück und den Brief einzuwerfen, scheint ihm nicht angemessen. Inspiriert von der Aussage der Angestellten einer Tankstelle, die ihm sagt, dass man bei einer schweren Krankheit nicht aufgeben sollte, entscheidet sich Harold, Queenie direkt zu besuchen – wortwörtlich zu ihr zu gehen. Die gesamten 500 Meilen (mehr als 700 km) bis nach Berwick-upon-Tweed im Nordosten Englands.
Diese Pilgerreise beschreibt Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry, für die der Rentner, der bislang für sämtliche Strecken das Auto herangezogen hat, mehr als zwei Monate braucht. Zu Beginn lässt Harold die Schwestern im Hospiz Queenie ausrichten, dass er unterwegs ist, dass sie durchhalten soll. „Solange ich laufe, muss sie leben“, gibt er ihr auf und die Aufforderung zeigt Wirkung. Selbst unter Schmerzen geht Harold immer weiter. Nicht religiös, kann er seinen eigenen Ansporn damit nur daraus ziehen, dass er ein Versprechen gegeben hat. So fragt man sich berechtigterweise, was Queenie und Harold verbindet. Es ist eine Frage, die auch Maureen quält, die zurückgeblieben ist und kein Verständnis für die neu gefundene Überzeugung ihres Mannes hat. So wird sie zunehmend wütend, weil sie Harold nicht versteht und diejenige war, die früher schon weglaufen wollte. Vor ihrer Ehe, vor Harold, doch ihr fehlte der Mut dazu. Stück um Stück deckt die Erzählung nicht nur Harolds, sondern ihrer beide Vergangenheit auf, erläutert, was zum Bruch ihrer Beziehung führte. Es ist ein Ereignis, das sie gleichermaßen untrennbar miteinander verbindet und dem sich Harold während seines langen Marsches stellt, wenn er, je mehr Zeit er allein verbringt, umso mehr zu sich findet.
Ihn dabei zu begleiten, ist berührend und erhellend zugleich. Harold kommt mit Menschen ins Gespräch, erlebt einen Querschnitt der Gesellschaft. Es ist eine Reise voller Empathie und Emotion. Nachdem er sich entscheidet, nicht mehr in Pensionen, sondern draußen zu übernachten und sich von dem zu ernähren, was er findet, wird Harolds Geschichte bekannt. Menschen sehen ihn als Inspiration und scharen sich um ihn. Es ist eine Entwicklung der Story, die an Forrest Gump [1994] erinnert und hier länger dauert, als sie sein müsste. Denn nicht nur wird Harold in dem Moment aus dem Mittelpunkt der Erzählung genommen, die übrigen Figuren seines Trotts nehmen zwar Raum ein, werden aber nicht vertieft. Gleichwohl seine Erfahrung hier die eigentliche Ursache seiner Pilgerreise widerspiegelt, sie wäre im Grunde nicht notwendig. Zu greifbar ist die Reue und das Bedauern, das in Jim Broadbents Blick, seinem durch Sorgenfalten gezeichneten Gesicht, allzeit zu sehen ist. Es ist eine Darbietung, deren Traurigkeit gleichermaßen das Publikum erfasst, wie seine Entscheidung, den langen Weg auf sich zu nehmen, ermutigt. Es ist Harolds Art, mit einer Erfahrung umzugehen, die weder er, noch Maureen verarbeiten konnten. Sie entwickelte daraufhin eine Bitterkeit, die Penelope Wilton fantastisch zum Ausdruck bringt. Beide veredeln eine rundum tolle Besetzung und ein trotz aller Traurigkeit lebensbejahendes Drama, das sein Publikum nicht deprimiert zurücklässt.
So etwas ist, wie Harolds Pilgerreise, selten – aber schön und sehenswert.
Fazit:
Mantraartig wiederholt Harold auf seinem Weg anfangs den Satz „Du wirst nicht sterben“ in allen Kombinationsmöglichkeiten. Er beschwört sich damit selbst und bezieht sich nicht einzig auf das Ziel seiner Reise, die ihn zu der Erfahrung zurückführt, mit der alles überhaupt erst begann. Filmemacherin Hettie Macdonald erzählt eine Geschichte, die Harolds und Maureens Vergangenheit offenlegt und so einen Kreis schließt, den man anfangs gar nicht erahnt. Toll bebildert und geschnitten, ist es die zentrale Besetzung, aus der Jim Broadbent mit seiner in sich gekehrten Darbietung als Naturgewalt hervorsteht, die Abschnitte vergessen machen, in denen die Story auf der Stelle tritt oder Figuren vorgestellt werden, die letztlich nicht herausgearbeitet ist. Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry ist ein berührendes und inspirierendes Porträt, dass es nie zu spät (oder zu früh) ist, nicht aufzugeben. Ruhig erzählt, ist das nicht nur wichtig, sondern wertvoll.