Die Reifeprüfung [1967]

Wertung: 3 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 17. März 2003
Genre: Drama / Unterhaltung

Originaltitel: The Graduate
Laufzeit: 105 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 1967
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren (neu bewertet)

Regie: Mike Nichols
Musik: Paul Simon, Dave Grusin
Darsteller: Anne Bancroft, Dustin Hoffman, Katharine Ross, William Daniels, Murray Hamilton, Elizabeth Wilson


Kurzinhalt:
Nach seinem erfolgreichen College-Abschluss steht der junge Benjamin Braddock (Dustin Hoffman) vor einer großen Frage: Was nun? Ihm steht die ganze Welt offen, doch irgendwie kann er sich nicht entscheiden – und will es auch nicht.
Er verbringt den Sommer bei seinen Eltern und geht auf die Avancen von Mrs. Robinson (Anne Bancroft) ein. Doch die ältere Frau ist die Ehefrau eines Arbeitskollegen von Benjamins Vater. Sie beginnen eine Affäre, die sie erfolgreich verheimlichen.
Doch als Mrs. Robinsons Tochter, Elaine (Katharine Ross), zu Besuch kommt, verliebt sich Benjamin in sie. Mrs. Robinson verbietet ihm, sich mit ihr zu treffen, als er es dennoch tut, droht die Affäre aufzufliegen.


Kritik:
Der deutsche Duden definiert das Wort "Motivation" folgendermaßen: 'Die Beweggründe, die das Handeln eines Menschen bestimmen.'
Bei genauerer Betrachtung ist die Motivation ein ureigenes und wichtiges Element einer jeden Geschichte; wenn die Motivation der Charaktere nicht erklärt wird, oder nicht verständlich ist, findet das Publikum keine Möglichkeit, den Charakter zu verstehen, geschweige denn, eine Verbindung zu ihm aufzubauen. Unmotivierte Handlungsweisen erscheinen unlogisch, nicht nachvollziehbar, unverständlich.
Und genau daran scheitert das als Kultfilm maßlos überschätzte Kinodebüt von Darsteller Dustin Hoffman.

Doch ihn selbst trifft keine Schuld, selbige ist beim Drehbuch zu suchen, das es nicht schafft, Charaktere aufzubauen, mit denen sich der Zuschauer identifizieren kann.
Bestes Beispiel hierfür ist, wieso Mrs. Robinson Benjamin verbietet, ihre Tochter zu sehen; so viel sei verraten: Es wird nie geklärt. Selbst zu Shakespeares Zeiten hätte es einen tieferen Sinn gehabt, womöglich, da Elaine in Wahrheit Bens Halbschwester ist – es hätte sich dann also um eine "Verbotene Liebe" gehandelt. Doch von solcher Komplexität ist weder im Drehbuch, noch bei den Charakteren selbst etwas zu spüren.
Man weiß schlicht nie, wieso sie das machen, was sie machen, und genau das kostet die Hauptcharaktere viel vom potentiellen Interesse der Zuschauer.
Eine Beziehung zwischen zwei Menschen, insbesondere eine Affäre, sollte zumindest die Leidenschaft und das Begehren für einander als Grundlage haben. Im Falle von Ben und Mrs. Robinson ist dies jedoch nicht der Fall. Beide scheinen sich nur treffen zu wollen, weil sie sonst nichts besseres zu tun haben.
Es gibt keinen einzigen Kuss zwischen den beiden, keine zärtliche Berührung – nichts. Genau aus diesem Grund ist es nicht verständlich, wieso später im Film ihre Beziehung angeblich so kompliziert gerät. Von einem Moment auf den anderen ist ihr Interesse aneinander verflogen, nicht einmal Wut können sie für einander empfinden. Um es kurz zu sagen, jegliche Motivation der Beteiligten fehlt. Es gibt schlicht keinen Grund, wieso sie all das überhaupt tun sollten.
Wenn es die Kernaussage des Drehbuchs hätte sein sollen, zu zeigen, dass es Benjamin mehr Freude bereitet, für etwas zu kämpfen, und seine Ziele zu erreichen, als das Gewonnene letztendlich zu "besitzen" oder zu genießen, dann ist genau diese Aussage sehr, sehr stiefmütterlich behandelt worden. Selbiges fällt nur extrem aufmerksamen Zuschauern auf und spielt im gesamten Film ansich keine große Rolle, sondern verwundert allenfalls anhand des Verhaltens der Charaktere. Doch der Vermutung, dass diese Aussage beabsichtigt war, widerspricht Regisseur Mike Nichols, der in einem Interview verriet, dass die Schlussszene des Films so gar nicht nicht geplant war. Da die beiden Darsteller aber zu lachen begannen, hatte er sie angeschrien, wodurch die beiden so erschraken, dass letztendlich die verwendete Aufnahme zustande kam – Nichols gefiel sie so gut, dass er sie im Film ließ.
Als wären das nicht schon genug Negativpunkte für ein Drehbuch, ist das zu Die Reifeprüfung auch noch immens langatmig geraten. Über die großen Phasen, in denen nichts Relevantes geschieht,  zwischen einigen ganz witzigen Szenen kann auch die zugegebenermaßen eingängige Musik nicht hinwegtäuschen. Vor allem wirken die lustigeren Szenen teils völlig fehlplatziert, abgesehen davon verteilen sie sich auf die 105 Minuten viel zu spärlich. Beim Autorenstab, so scheint es, war Calder Willingham für das Drama zuständig (er schrieb nur vier weitere Skripte nach diesem Film), wohingegen Buck Henry offensichtlich für den Komödienaspekt verantwortlich zeichnete. Dass er darin wirklich Talent hat, beweisen spätere Werke wie die Klassiker-Komödie Is' was, Doc? [1972], sowie die Satire To Die for [1995] von ihm.
Beiden Autoren ist mit der Reifeprüfung allerdings kein Glanzstück gelungen.

Leider gibt es auch bei den Darstellern kollektive Lustlosigkeit zu verzeichnen; Dustin Hoffman benimmt sich schon 20 Jahre vor der Zeit stellenweise wie ein Rain Man [1988], apathisch, gelangweilt, ohne inneren Antrieb, wohingegen Anne Bancroft, die in Wirklichkeit übrigens nicht 20, sondern nur 6 Jahre älter als Hoffman ist, ebenfalls durch ein lust-, fast schon mimikloses Spiel enttäuscht. Die wenigen Szenen, in denen sie dann tatsächlich Wut oder Bestürzung zeigt, wirken dadurch beinahe wie eine Karrikatur.
Beide verstehen, wie sie später auch oft bewiesen, grundsätzlich ihr Handwerk, Bancroft glänzte nicht nur in Die Hindenburg [1975] und Große Erwartungen [1998]; Dustin Hoffman überzeugte dagegen sowohl in Dramen wie Kramer gegen Kramer [1979] oder dem bereits genannten Rain Man, für den er zu Recht einen Oscar erhielt, als auch in Unterhaltungsfilmen wie Outbreak - Lautlose Killer [1995].
Katharine Ross gibt sich sichtlich Mühe und bekommt als Lohn dafür auch die größten Zuschauersympathien. William Daniels hat als enttäuschter Vater von Benjamin so gut wie nichts zu tun, darstellerisch ist er als Originalstimme von K.I.T.T. in Knight Rider [1982-1986] wohl sogar mehr gefordert gewesen.
Ähnlich ergeht es Murray Hamilton, der durch seine Rolle als Bürgermeister in Der Weiße Hai [1975] in bleibender Erinnerung geblieben ist und hier zwar ein paar witzige Sprüche abliefern darf, ansonsten aber ebenso farblos bleibt.
Dass die drei Hauptdarsteller Ross, Hoffman und Bancroft gar alle für den Oscar nominiert waren (Regisseur Mike Nichols hat ihn sogar bekommen) macht das Spiel der Beteiligten auch nicht besser, lässt einen aber an der Kompetenz der Academy zweifeln.

Die Musik von Die Reifeprüfung ist dank der gesungenen Lieder von Simon & Garfunkel legendär, böse Zungen behaupten sogar, der Film wurde nur wegen ihr ein Erfolg. Die "Mrs. Robinson"-Hymne ist ein Ohrwurm und Klassiker zugleich, im Film allerdings treffen die Stücke nicht immer den richtigen Ton.
Dies liegt vielleicht daran, dass beinahe jedes Lied zwei, drei Mal wiederholt wird, bevor ein anderes kommt. Die Songs mögen einem dann zwar nicht mehr aus dem Kopf gehen, dadurch wirkt der Film allerdings wie Beatles Yellow Submarine [1968] – ein überlanges Musikvideo ohne wirklichen Inhalt. Ob die Musik zum Film gemacht wurde, oder der Film zur Musik, wird einfach nicht klar.
Auf CD (oder besser: LP) ist die Musik allerdings ein Genuss und verkörpert den Sixties-Charme in Perfektion.

Auch in Bezug auf die Inszenierung ist nicht alles Gold, was glänzt. Neben einer mehr oder weniger routinierten Kamera- und Schnittarbeit gibt es zu Beginn ein paar schnelle eingeschnittene Bilder, wenig später sogar lange Aufnahmen aus der Ego-Perspektive, die von ihrer Trägheit beinahe an 2001 – Odyssee im Weltraum [1968] heranreichen, nur längst nicht dessen Bildgewaltigkeit besitzen.
Die gesamte Liebesgeschichte indes ist sauber nach US-Standards inszeniert, entsprechend der damaligen Zeit auch fast gänzlich ohne nackte Haut. Dass die Darsteller direkt nach dem Sex unter der Bettdecke die Unterwäsche anziehen, bevor sie aufstehen, hat sich bei US-konformen Inszenierungen in den letzten 30 Jahren ohnehin nicht geändert.
Die Handkamera zu Beginn scheint den Machern später zu schwer geworden zu sein, dann gibt es zeitgemäße (aus heutiger Sicht allerdings nicht sehr angenehme) Zooms und Schwenks; wirkliche Innovation sucht man allerdings trotzdem nicht vergebens:
Als Hoffman in einer Szene auf die Kamera zurennt, erzielten die Macher durch einen Kameratrick, dass es im ersten Moment so aussieht, als ob er auf der Stelle tritt und nicht voran kommt. In einer anderen Szene geht Hoffman von der rechten Seite eines Raumes auf die linke, während alle anderen Personen im Raum von links nach rechts gehen – da gerade in den USA und Europa das Lesen von links nach rechts einfacher fällt, soll diese Technik einen besonderen Effekt auf den Zuschauer haben; man bekommt so angeblich das Gefühl, dass Benjamin gegen den Strom schwimmt (im übertragenen Sinne). Ob es den Machern dadurch tatsächlich gelungen ist, die Situation des Charakters in den Szenen zum Ausdruck zu bringen, muss jeder für sich entscheiden.

Beide Hauptrollen wurden zunächst mehreren Darstellern angeboten, Robert Redford hatte Screentests für Benjamin gemacht, stimmte aber mit Regisseur Nichols überein, dass die Rolle nicht richtig für ihn sei. Charles Grodin hatte die Rolle beinahe, verlangte allerdings eine zu hohe Gage. Burt Ward nahm gar nicht erst an.
Doris Day und Patricia Neal wollten die Rolle der Mrs. Robinson ebenso wenig, wie Jeanne Moreau, die ansich Nichols erste Wahl gewesen war. Die gebürtige Französin fand die Idee, eine Amerikanerin zu spielen, absurd.
Für Fans des Films dürfte es allerdings keine Überraschung sein, dass nicht einmal die Beine auf dem berühmten Kinoplakat, denen sich Dustin Hoffman gegenüber sieht, Anne Bancroft gehören. Das damals unbekannte Model Linda Gray (Dallas [1978-1991]) posierte für die Aufnahme – und spielte 30 Jahre später die Titelrolle in der Musicalversion von Die Reifeprüfung in London.
Wer allerdings den Kurzauftritt von Richard Dreyfuss erkennt, muss ein wahres Adlerauge haben.

Wissenswert ist außerdem, dass die erste "private" Begegnung zwischen Hoffman und Bancroft, als er ihr an die Brust fasst, so nicht im Drehbuch stand. Nur Hoffman wusste davon und hatte es vor dem Dreh geplant. Die Überraschung ließ sich Anne Bancroft zwar nicht anmerken, Regisseur Mike Nichols lachte allerdings laut los. Das wiederum veranlasste Hoffman, zu lachen und er wandte sich schnell ab, lief ruhig zur nächsten Wand und schlug dann den Kopf mehrmals dagegen. Es gefiel Nichols so sehr, dass er auch diese Szene im Film ließ.

Vielleicht beschreibt diese Anekdote den Charakter des Films sogar sehr gut: Vieles von dem, was heute als Kult-Provokation angesehen wird, entstand damals eher zufällig, wurde improvisiert oder ergab sich auf ganz ungewolltem Weg. Sicher schmälert das nicht den Einfluss, den der Film auf seine Generation gehabt haben mag, es verdeutlicht allerdings, dass einige der Grundaussagen so überhaupt nicht beabsichtigt waren und dem Film erst später angedichtet wurden.
Nichols
spätere Regiearbeiten, darunter The Birdcage - Ein Paradies für schrille Vögel [1996] und Wolf - Das Tier im Manne [1994], konnten ebenfalls nicht vollends überzeugen; sein bester Film bislang war wohl Die Waffen der Frauen [1988], und der liegt schon einige Zeit zurück.
Es ist möglich, dass man all das wieder anders sieht, wenn man in der Zeit aufgewachsen ist, aus heutiger Zeit wirkt das ehemalige Tabu-Thema nur halbherzig umgesetzt, ohne inhaltliche oder charakterliche Tiefe. Zu Beginn sind alle Charaktere irgendwo im Nirgendwo und am Schluss ist das nicht anders.
Die Grundstory, ältere Frau verführt jungen unerfahrenen Mann, wird heute sogar in jeder Soap-Opera-Serie besser und vielschichtiger erzählt. Zumindest weiß man da, wieso die Charaktere tun, was sie tun.


Fazit:
Ein Merkmal, das beinahe alle wirklichen Klassiker, wie zum Beispiel Die Zeitmaschine [1960], verbindet, ist ihre Zeitlosigkeit. Sowohl die Inszenierung, als auch die Ausstattung und die Charaktere sind dort zeitlos. Genau deshalb gibt es auch nur wenige Klassiker aus den 1970er und 1980er Jahren. Vielen Filmen aus dieser "Epoche" sieht man aufgrund der Ausstattung, der Mode oder der Musik die Zeit, in der sie entstanden, allzu deutlich an.
Ebenso verhält es sich mit der Reifeprüfung. Inszenierung, Musik, Ausstattung und der Filminhalt stammen unverwechselbar aus dem Ende der 1960er Jahre.
Für ein Drama nicht dramatisch genug, für eine Komödie zu ernst – für einen skandalösen Klassiker zu zugeknöpft harmlos.
Für Nostalgiker vielleicht ein Fest, alle anderen werden vor der schleppend erzählten Story und den unausgegorenen Charakteren kapitulieren und den Stecker ziehen. Man kann es ihnen nicht verübeln.