Die goldenen Jahre [2022]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 13. Oktober 2022
Genre: Komödie

Laufzeit: 92 min.
Produktionsland: Schweiz
Produktionsjahr: 2022
FSK-Freigabe: noch nicht bekannt

Regie: Barbara Kulcsar
Musik: Carsten Meyer
Besetzung: Esther Gemsch, Stefan Kurt, Ueli Jäggi, Gundi Ellert, Elvira Plüss, Isabelle Barth, André Jung, Martin Vischer, Davide Gagliardi


Kurzinhalt:

Beinahe 38 Jahre war Peter Waldvogel (Stefan Kurt) bei ein und derselben Firma beschäftigt. Nun wird er mit 65 pensioniert. Ein Ereignis, auf das sich seine Frau Alice (Esther Gemsch) freut, denn nun haben sie endlich die Möglichkeit, einander wieder näher zu kommen. Sei es, indem Peter ihr beim Haushalt hilft, oder durch eine gemeinsame Kreuzfahrt, die sie von ihren Kindern Susanne (Isabelle Barth) und Julian (Martin Vischer) geschenkt bekommen haben. Doch dann stirbt überraschend Alices Freundin Magalie (Elvira Plüss) und während Alice selbst das Leben noch mehr genießen will, stürzt sich Peter in Aktivitäten, die der Gesundheit dienen, von Sport bis hin zu veganer, alkoholfreier Ernährung. Als er Magalies Witwer Heinz (Ueli Jäggi) einlädt, sie auf der Kreuzfahrt zu begleiten, ist für Alice der Punkt erreicht, an dem sie nach mehr als vier Jahrzehnten Ehe eine Auszeit benötigt. Aber kann man eine so lange Beziehung überhaupt noch einmal neu beleben? Und überwiegen die Unsicherheiten einer Trennung in ihrem Alter nicht jede Aussicht auf goldene Jahre, die vor ihnen liegen könnten?


Kritik:
Barbara Kulcsars Die goldenen Jahre besitzt eine Stimmung, die sich am besten mit „herbstlich“ beschreiben lässt. Damit passt die Atmosphäre einerseits gelungen zum Inhalt der leisen Komödie, spiegelt aber auch gleichzeitig das Alter der zentralen Figuren wider. Die erblühen hier, jede für sich, erneut und strahlen mehr Lebendigkeit aus, als man es auf den ersten Blick sehen mag. Gerade durch die vielen einfühlsamen Beobachtungen ist das für das richtige Publikum mehr als sehenswert.

Die Geschichte handelt von Alice und Peter Waldvogel, die seit mehr als 40 Jahren verheiratet sind. Nun, nach beinahe ebenso langer Zeit bei derselben Firma, tritt Peter in den Ruhestand ein. Auf das Mehr an gemeinsamer Zeit freut sich Alice und sieht die von ihren Kindern geschenkte Kreuzfahrt als Möglichkeit, dass sie und Peter sich wieder nahekommen können, denn die Ehe ist so routiniert wie distanziert geworden. Als Alices Freundin unerwartet stirbt, ist dies für sie noch mehr ein Weckruf, die Zeit zu genießen und zu nutzen. Für Peter ist es Anlass, sich dem Sport und gesunder Ernährung zu verschreiben. Bei der Kreuzfahrt werden die Spannungen zwischen ihnen nur größer, auch, weil Peter den gerade verwitweten Heinz eingeladen hat, sie zu begleiten. So kommen die beiden Eheleute an den Punkt, sich zu fragen, ob es so wirklich weitergehen kann. Oder soll.

Heißt es oft, dass sich zwei Menschen streiten „wie ein altes Ehepaar“, ist die Situation bei den Hauptfiguren hier – wie oft im wahren Leben – eine andere. „Wir streiten kaum und lassen uns in Ruhe“, sagt Peter in einem Moment. Ihm ist plötzlicher als erwartet bewusst geworden, dass nun sein Lebensabend begonnen hat, den er nicht nur mit allen Mitteln verlängern will, sondern von dem er gar nicht weiß, was er eigentlich erwartet. Alice will die Welt sehen und Menschen kennenlernen. In vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von den Plänen ihres Mannes. Nur was tun, wenn man als Paar feststellt, dass man einander unglücklich macht? Die Figuren von Die goldenen Jahre gelangen in etwa in der Mitte zur Erkenntnis, was das Problem ist, doch eine Lösung zu finden, ist noch bedeutend schwieriger. Alice dabei zuzusehen, wie sie bei einem campenden Pärchen oder in einer Frauenkommune aufblüht, ist so inspirierend wie gelungen. Peter auf der anderen Seite kapselt sich noch mehr ab und muss erkennen, dass seine Tochter in ihrer Ehe offenbar dieselben Schwierigkeiten hat, jedoch anders damit umgeht.

Filmemacherin Barbara Kulcsar gestaltet die Reise ihrer Figuren nicht schwermütig, sondern oftmals amüsant (beispielsweise, wenn ihr Sohn Alice auf das Prinzip „Tinder“ aufmerksam macht), dabei aber nicht überzogen zotig. Vielmehr findet sie den Humor in glaubwürdigen, alltäglichen Momenten. Gleichzeitig ist sie mutig genug, die Charaktere bildlich wie tatsächlich zu entblättern und sie Fragen stellen zu lassen, die so prägnant keine einfache Antwort zulassen. Alices Erwartungen sind von Beginn an verständlich, Peters tieferliegende Unsicherheit wird dagegen erst langsam herausgearbeitet. Nach Jahrzehnten im Beruf weiß er, dass er nicht einmal ersetzt werden wird, die Arbeit wird von einem Algorithmus übernommen werden. Das Haus, in dem er und Alice seit langem leben, sollen sie verlassen und in eine Wohnung ziehen, so dass ihre Tochter mit Mann und Kindern sich dort niederlassen kann. Die hat bereits mit der Umgestaltung begonnen. So wenig sichtbar Peters Zukunft, so spürbar verliert er alles, was er über viele Jahre aufgebaut hat. Diese ernsten Momente, die nicht schwer, sondern respektvoll umgesetzt sind, wirken nach und lassen einen selbst grübeln, wie es einem irgendwann einmal ergehen wird (sofern der Wechsel der Lebensabschnitte nicht bereits stattgefunden hat).

Hinzu kommt die ganz persönliche Sinnkrise in einer Beziehung, die lange nur ein Aspekt des eigenen Lebens war, nun aber ins Zentrum rücken sollte. Was, wenn man nach Jahrzehnten einer Ehe feststellt, dass man von der Zukunft Unterschiedliches erwartet? Ist die Unsicherheit der Einsamkeit schwerer zu ertragen, als auf das persönliche Glück zu verzichten? Die goldenen Jahre zeigt greifbar auf, wie Alice und Peter mit dieser Situation umzugehen versuchen. Dabei gibt es keine einfache Lösung dafür, dass Peter seine Frau nicht mehr in der Art und Weise anziehend findet, wie diese es sich wünscht. Auch wird die Krise in der Ehe der Tochter nicht einfach aufgelöst. Diese Entscheidungen machen die Erzählung greifbarer, als thematisch ähnliche Filme, die das Gezeigte inhaltlich auf die komödiantische Spitze treiben, oder aber das Drama in den Mittelpunkt rücken. Stattdessen kann man sich in die Situation der Figuren hineinversetzen und am Ende nur hoffen, dass man ähnlich wie sie den Mut und einen Weg finden wird, mit dieser Situation umzugehen.


Fazit:
Alt werden ist nichts für Feiglinge, bekommt Alice einmal gesagt. Es erklärt, weshalb die Figuren trotz ihrer Erfahrungen und ihres Alters solche Angst haben. Angst vor einem neuen Lebensabschnitt ohne die beruflichen Grundlagen der letzten. Angst auch davor, alleine in die Zukunft zu gehen, oder davor, dass der Weg viel kürzer ist, als erwartet. Filmemacherin Barbara Kulcsar begleitet ihre Figuren durch Höhen und Tiefen dieses Prozesses, ohne diesen wirklich abzuschließen. So überrascht es durchaus, dass Die goldenen Jahre nicht davon handelt, wie Alice und Peter einen gemeinsamen Weg finden, sondern einen Weg, auf dem sie einander begleiten können. Der ist gespickt mit vielen feinen Beobachtungen, die sicher das ein oder andere Klischee bedienen, aber insgesamt einfühlsamer umgesetzt als viele andere Genrefilme und von allen Beteiligten, insbesondere Esther Gemsch und Stefan Kurt, so treffend wie leichtfüßig zum Leben erweckt sind. Dies sind keine lauten Charaktere und es ist ein entsprechend leiser, zurückhaltender Film. Doch gerade deshalb kann man sich mit überraschend vielen Situationen identifizieren. Klasse!