Cold Case – Kein Opfer ist je vergessen: "Die verlorene Tochter" [2005]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 02. März 2006
Genre: Drama / Krimi

Originaltitel: Cold Case: "Family"
Laufzeit: 42 min.
Produktionsland: USA
Produktionsjahr: 2005
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Mark Pellington
Musik: Michael A. Levine, E.S. Posthumus (Titel-Thema)
Darsteller: Kathryn Morris, John Finn, Jeremy Ratchford, Thom Barry, Daniel Pino, Sarah Brown, Chuck Hittinger, Nathalie Paulding, Amy Van Horne, Robert Curtis-Brown, Brooke Anne Smith, Alana Austin, Kristin Richardson, Vincent Duvall, Cheryl White


Kurzinhalt:
1988 wurde Jimmy Tate (Chuck Hittinger) von einem Auto überfahren und getötet – nur wenige Minuten, nachdem seine Freundin Quinn (Nathalie Paulding / Amy Van Horne) sein Kind beim Abschlussball auf einer dunklen Toilette zur Welt brachte. Quinn, die der Meinung ist, Jimmy hätte sie und das Baby im Stich gelassen, legt das Baby in den Müll und flieht. Der flüchtige Fahrer des Wagens wird nie gefasst.
Siebzehn Jahre später wird die junge Claire (Brooke Anne Smith), Jimmy und Quinns Tochter, von einem unbekannten Mann angesprochen, der behauptet, er wäre ihr Vater. So rollt die Mordkommission unter der Führung von John Stillman (John Finn) mit Lilly Rush (Kathryn Morris), Scotty Valens (Daniel Pino), Will Jeffries (Thom Barry) und Nick Vera (Jeremy Ratchford) den alten, ungelösten Fall wieder auf.
Dabei scheinen sich zwar heute mehr Details einzufinden, als damals, doch je mehr Personen bei den Ermittlungen in den Mittelpunkt gerückt werden, umso mehr mögliche Motive finden sich ein. Unterdessen bekommt das Ermittlerteam einen Neuzugang – Josie Sutton (Sarah Brown) ist neu zur Mordkommission versetzt worden, obgleich gemunkelt wird, dass ihr Transfer mit einer Affäre ihres letzten Vorgesetzten zusammenhängt ...


Kritik:
Das Staffelfinale des zweiten Cold Case-Jahres, "Der Jäger kehrt zurück", als effektvoll zu bezeichnen, ist ansich eine Untertreibung. Mehr als zuvor haben die Autoren die Bedrohung für die Hauptperson gesteigert, gleichzeitig einen älteren Fall wieder aufgegriffen und zu einem packenden Abschluss gebracht.
Man durfte als Stammzuschauer darauf gespannt sein, wie nun der Auftakt der darauffolgenden Staffel ausfallen würde. Bereits im Vorfeld war dabei bekannt geworden, dass das Studio den Cast vergrößern wollte und von nun an Sarah Brown in der Rolle von Josie Sutton an Bord sein würde. Sie gibt dabei ansich nicht Anlass zur Kritik, es ist vielmehr die Tatsache, dass ihre Rolle auf unbeholfene Weise in die Geschichte integriert wird, als wäre das Drehbuch schon fertig gewesen, bevor entschieden wurde, dass eine neue Figur aufgenommen werden muss.

Das Skript verfasste dabei die Ausführende Produzentin Meredith Stiehm, die auch bei anderen, renommierten Drama-Serien als Autorin tätig war, und bereits einige Drehbücher für Cold Case verfasste. Allerdings konzentriert sie sich erstaunlicherweise weniger darauf, die Hauptfiguren nach den traumatischen Geschehnissen der letzten Episode weiterzuführen, sondern konzentriert sich auf einen sehr bewegenden Fall mit einer strittigen Thematik. Sie knüpft einerseits an der Streitfrage der Abtreibung ansich an, als auch daran, was Menschen dazu bringen kann, ein Baby auszusetzen. Das heikle Thema meistert die Autorin allerdings gekonnt, zeigt zwar Gründe und Umstände der jungen Mutter auf, die ihr Kind im Stich ließ, ohne sie aber zu entschuldigen oder an ihrer Schuld zu zweifeln. Sie wird auch nicht zwangsläufig sympathisch geschildert, sondern darum bemüht, ihren Fehler wieder gut zu machen.
Je mehr Ebenen des Falles die Polizisten aufdecken, umso vielschichtiger werden auch die eigentlich nur kurz vorgestellten Figuren. Es gelingt dem Drehbuch auf beeindruckende Weise, selbst Nebendarstellern Tiefe und Persönlichkeit zu verleihen, wobei das Hauptaugenmerk verständlicherweise auf dem Opfer und der jungen Mutter liegt.
Die Einbeziehung von Josie Sutton erscheint auf den ersten Blick zwar recht gelungen, überlegt man sich allerdings die Möglichkeiten, die sich aus einer solch neuen Figur ergeben würden, wird schnell deutlich, dass es sich bei der Implementierung des Charakters um eine gehetzt Entscheidung handeln musste. So hätte das Drehbuch die einmalige Gelegenheit besessen, das Team von einer Außenseiterperspektive zu beobachten, die Bearbeitung des Falles aus der Sicht eines Gastes zu schildern und die neue Figur langsam Zugang zu den anderen Ermittlern finden zu lassen. Stattdessen wird Sutton kurz vorgestellt und ist gelegentlich im Hintergrund zu sehen. Bei einem Verhör kommt sie immerhin zum Zug, das aber auch von der Vorgehensweise her auf Protagonistin Lilly Rush zugeschnitten scheint – deren Emotionsausbruch beim Finale ließe sich auch besser erklären, hätte man als Zuschauer mehr über ihre Verbindung zur jungen Claire erfahren.
Insgesamt hinterlässt das Drehbuch also einen zweigeteilten Eindruck, denn während dem Fall außergewöhnlich viel Zeit eingeräumt und eine glaubhafte Geschichte ergreifend erzählt wird, bleiben die Hauptfiguren sehr passiv und auch der Neuzugang zum Team – die Rolle wurde nach wenigen Episoden wieder herausgeschrieben – wird nur halbherzig eingeführt. Angesichts des überzeugenden Dramaelements verzeiht man das aber gern.

Da das Ermittlerteam weniger stark gefordert ist, als beispielsweise beim Staffelfinale der letzten Season, sind zwar durchweg routinierte, aber kaum außergewöhnliche Darstellerleistungen zu finden. Kathryn Morris mimt die nach wie vor zerbrechlich anmutende Lilly Rush überzeugend, scheint aber in ihrer Darstellung im letzten Drittel aufgesetzt emotional.
John Finn leistet wie gewohnt gute Arbeit, hat aber bis auf einige wenige Szenen, in denen er das bekannte Charisma verströmt, kaum etwas zu tun. Ebensowenig Thom Barry, der kaum zu sehen ist, dafür aber in der letzten Staffel einige ausgezeichnete Episoden bekam. Auch Jeremy Ratchford wirkt unterfordert, macht seine Sache aber gewohnt gut.
Einzig Daniel Pino, der allerdings auch in der letzten Staffel merklich mehr zu tun hatte, darf etwas mehr Einsatz bei der Ermittlung zeigen und bleibt mit einer wirklich guten Darbietung in Erinnerung.
Ebenso wie die eingeladenen Gastdarsteller, von denen lediglich die Aktrice der jungen Mutter Quinn, Nathalie Paulding, nicht so recht zu überzeugen vermag. Ihre Alter Ego, verkörpert von Amy Van Horne, macht ihre Sache aber sehr gut, ebenso wie Chuck Hittinger, der als Jimmy Tate eine tragische Rolle bekleidet.
Sehr gut mimt auch Cheryl White, die allerdings von Vincent Duvall und vor allem Robert Curtis Brown in den Schatten gestellt wird; insbesondere Brown leistet hervorragende Arbeit. Brooke Anne Smith kann problemlos überzeugen, und auch Kristin Richardson verkörpert ihre Rolle tadellos.
Selbiges gilt so weit man das nach dem kurzen Auftritt zu sagen vermag auch für Sarah Brown, die jedoch unterbeschäftigt als schmuckes Beiwerk die Szenen bekleidet, ohne dass sie wirklich gefordert würde.
Nach wie vor ist es erstaunlich, dass es den Produzenten gelingt, trotz der Vielzahl an zu besetzenden Rollen durchweg gute bis erstklassige Darsteller zu verpflichten. Sie alle tragen zur gelungenen, überzeugenden Atmosphäre der Episode bei und ergänzen sich sowohl untereinander, wie auch zusammen mit den Hauptdarstellern der Krimiserie.

Eine nicht zu unterschätzende Stütze bei der Überzeugungsfähigkeit der Darsteller sind zweifelsohne die Masken, denn es galt, einige Figuren um 17 Jahre altern zu lassen. Dass dies mitunter ein sehr schwieriges Unterfangen ist, haben unzählige Film- und Fernsehproduktionen bereits bewiesen, und wie eine wirklich gute Maske aussehen kann, ist hier bei Cheryl White zu sehen. Eine ausgezeichnete Arbeit lieferten die Maskenbildner bei Robert Curtis-Brown ab, dessen Alterung so realistisch wie subtil, so eindrucksvoll wie unscheinbar geraten ist. Es gilt hier ebenfalls, dass das größte Kompliment an den Maskenbildner jenes sein kann, dass man sie nicht erkannt hat.
Der Produktionsstab ist bei Cold Case bereits zuvor und nach wie vor erstklassig ausgewählt und wird hier vom beratenden Produzenten Mark Pellington zu Höchstleistungen angespornt. Pellington, der abgesehen von anderen Episoden Kinoproduktionen wie The Mothman Prophecies - Tödliche Visionen [2002] und den kongenial-erschütternden Arlington Road [1999] umsetzte, kleidet die heutige Erzählung von "Die verlorene Tochter" ungewöhnlicherweise nicht in die klassisch unterkühlenden Blaufilter, für die die Serie bekannt ist, sondern zeigt die Aufnahmen im Tageslicht wie auch auf dem Polizeirevier mit erhöhtem Kontrast. Die Rückblenden in das Geschehen von 1988 warten hingegen mit Split-Screen-Einstellungen auf, die sehr gut ausgewählt sind und auch gekonnt harmonieren. Kamera und Schnitt warten grundsätzlich mit interessanten, einfallsreichen Perspektiven auf, die beim Finale mit erstklassig ausgewählten Zeitlupen versehen sind, ohne dabei effekthascherisch zu wirken.
Es gelingt Pellington in den knapp 45 Minuten gekonnt, einen guten Erzählrhythmus zu finden und gleichzeitig trotz des bekannten Ausgangs des Falles eine Dramaturgie zu entwickeln, die von der emotionalen Wucht des Falles noch übertroffen wird.

Hierzu trägt auch die Musik der Episode bei, die Fall-bedingt mit Stücken der Pet Shop Boys, Peter Gabriel, Depeche Mode und anderen aufwartet – aber auch der instrumentale Score von Michael A. Levine lässt keine Wünsche offen, unterstützt die gefühlsbetonten Momente ebenso, wie die Dialoge, wobei Levine das bekannte Cold Case-Thema ebenso einfließen lässt, wie neue Motive. Gerade beim Finale gelingt ihm eine herausragende Mischung aus rhythmisch-spannender Musik und getragener, trauriger Melodie.
Während sich unzählige Fans der Serie einen Soundtrack wünschen – wobei man für eine handvoll Episoden ein neues Album herausbringen könnte – wäre für Interessierte und Sammler auch ein Score von Michael A. Levine interessant, der es geschafft hat, der Serie mit seinen Kompositionen einen ganz eigenen Stil zu verpassen, der sowohl dem Dramaelement, als auch dem Krimi Rechnung trägt.

Es ist mehr als nur bedauerlich, dass das ansich sehr gute Drehbuch unter der Einbeziehung einer neuen Serienfigur leidet; dies kostet die Geschichte Zeit, die bereits etablierten Charaktere weiterzuführen, denn gerade als Gegenpol zur aufwühlenden Geschichte um das ausgesetzte Baby hätte man sich eine Weiterentwicklung der Protagonisten gewünscht.
Nichtsdestotrotz gelingt es den Beteiligten, eine wirklich sehr gute Episode zu produzieren, die merklich von der Erzählung des ungeklärten Mordfalles lebt. Handwerklich exzellent umgesetzt entpuppt sich "Die verlorene Tochter" als gelungener Staffelauftakt, der eindrucksvoll verdeutlicht, dass Cold Case mehr noch als ähnlich gelagerte Serien das Hauptaugenmerk auf den Dramaaspekt und nicht auf den Thriller legt.


Fazit:
Regisseur Mark Pellington und Autorin Meredith Stiehm legen viel Wert darauf, das Gefühlsleben der jungen Eltern vor dem tragischen Schicksalsschlag zu verdeutlichen – dass dabei aber die Mutter, die ihr Kind verlässt nicht entschuldigt oder gar als Opfer dargestellt wird, ist dem Skript hoch anzurechnen, bewahrt es die Vorlage doch davor, ein solches Verhalten zu bagatellisieren.
Sowohl von den bekannten Darstellern, als auch von den Gastakteuren erstklassig zum Leben erweckt, überzeugt "Die verlorene Tochter" durch eine gelungene Dramaturgie, die auf Grund der inhaltlichen Gewichtung auf das Drama auch emotional zu berühren weiß. Musikalisch tadellos startet Cold Case mit der sehr aufwühlenden Thematik in ein neues Jahr; dabei ist dieser Staffelpilot zwar für die Dramaserie eher konventionell geraten, aber nichtsdestoweniger packend.