Chernobyl [2019]
Wertung: |
Kritik von Jens Adrian |
Hinzugefügt am 26. Oktober 2020
Genre: Drama / ThrillerOriginaltitel: Craig Mazin
Laufzeit: 330 min.
Produktionsland: USA / Großbritannien
Produktionsjahr: 2019
FSK-Freigabe: ab 16 Jahren
Regie: Johan Renck
Musik: Hildur Guðnadóttir
Besetzung: Jared Harris, Stellan Skarsgård, Emily Watson, Jessie Buckley, Paul Ritter, Robert Emms, Sam Troughton, Adam Nagaitis, Barry Keoghan, Karl Davies, Michael Socha, Adrian Rawlins, Alan Williams, Con O’Neill, David Dencik, Gerard Kearns, Joshua Leese
Kurzinhalt:
Es ist nicht ganz halb zwei Uhr früh am 26. April 1986, als Lyudmilla Ignatenko (Jessie Buckley) im ukrainischen Prypjat eine Explosion im wenige Kilometer entfernten Kernkraftwerk Tschernobyl beobachtet. Ihr Mann Vasily (Adam Nagaitis) ist bei der Feuerwehr und einer der ersten, die an der Unglücksstelle eintreffen. Die jungen Männer ahnen nicht, mit welchem Material sie es zu tun haben. Im Kontrollraum selbst weigert sich Leiter Anatoly Dyatlov (Paul Ritter), die Tatsache anzuerkennen, dass der Kern im Reaktor-Block 4 selbst explodiert ist und jede Sekunde hochradioaktives Material freigesetzt wird. Nur Stunden später misst die Wissenschaftlerin Ulana Khomyuk (Emily Watson) im 400 Kilometer entfernten Minsk erhöhte Strahlenwerte und macht sich auf nach Tschernobyl. Dort ist bereits der Leiter des eingesetzten Untersuchungskomitees, Waleri Legassow (Jared Harris), zusammen mit Minister Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård) bemüht, nicht nur die Lage unter Kontrolle zu bringen, sondern zu verstehen, was geschehen ist. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, bei dem die Nuklearkatastrophe nicht nur eine Gefahr für die Sowjetunion darstellt. Er wird darüber hinaus viele Opfer erfordern …
Kritik:
Die nukleare Katastrophe, die sich in Reaktor-Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl am 26. April 1986 nahe der ukrainischen Stadt Prypjat ereignete, liegt beinahe 35 Jahre zurück und wird die Menschheit doch tausende Jahre noch beschäftigen. Serienerfinder Craig Mazin nutzt den wahren Hintergrund dieser von Menschen gemachten Tragödie, um in Chernobyl ein geradezu flammendes Plädoyer gegen Lügen und für Transparenz zu schaffen. Dabei mag er sich Freiheiten in der historischen Genauigkeit nehmen, doch er unterstreicht gleichzeitig, wie solche Ereignisse das Beste und das Schlimmste in Menschen hervorbringen.
Um 1:23 Uhr morgens an jenem schicksalshaften Samstag, erschütterte eine verheerende Explosion das Kernkraftwerk Tschernobyl im Rahmen eines Sicherheitstests. Es sollte Tage dauern, ehe die sowjetische Regierung den Zwischenfall eingestehen würde, über eine Woche, ehe die permanente Freisetzung von hochradioaktivem Material zum allergrößten Teil unterbunden wurde. Und Monate, ehe sich das ganze Ausmaß der Katastrophe abzeichnen würde. In einem Radius von 37 Kilometern um den Reaktor befindet sich inzwischen eine Sperrzone. Die fünfteilige Miniserie arbeitet das Geschehen aus Sicht des Naturwissenschaftlers Waleri Alexejewitsch Legassow auf, der als Leiter des Untersuchungskomitees unmittelbar nach den Ereignissen vor Ort eintraf und die folgenden Arbeiten mit dem Leiter der zuständigen Regierungskommission, Boris Schtscherbina, übersah. Legassow gebühren die ersten Minuten der Dramaserie und auch die letzten. Die Wandlung von der Person, die er vor der Katastrophe war, bis zu der, die er danach wurde, ist es jedoch, die das Publikum mitreißt.
Die älteren Zuschauerinnen und Zuschauer werden sich vermutlich selbst noch daran erinnern, wie es war in jenem Frühjahr 1986, als Kinder in Süddeutschland nicht im Freien spielen durften. Als Pilze und Wildfleisch auf Grund der hohen Strahlenbelastung aus der Sommer- und Herbstküche gestrichen wurden. Aus heutiger Sicht erscheinen diese Zeiten weit entfernt. Sieht man sie hier erneut zum Leben erweckt, den Werdegang der Katastrophe akribisch rekonstruiert, überkommt diesen Kritiker erneut ein Schauer. Unter der Leitung von Anatoly Dyatlov wird das Kraftwerk in einen Abgrund geführt, der ungezählte, weitere Schicksale verschlingt und noch viele mehr prägen wird. Dabei widmet sich Chernobyl im Grunde zwei Fragestellungen: Wie gehen die Verantwortlichen im Anschluss an die Katastrophe mit der Situation um und wie konnte es überhaupt zu der Explosion des Reaktor-Blocks kommen?
Die letztere Frage ist diejenige, die das Publikum zweifellos eingangs am meisten beschäftigt, wie auch die zentrale Figur, Legassow. Doch er muss feststellen, dass eine Antwort hierauf zu finden der viel drängenderen Problematik untergeordnet werden muss, den die Umgebung vergiftenden Reaktor zu sichern. Zeichnen die ersten Episoden ein genaues Bild der unmittelbar auf die Explosion folgenden Stunden, springt die Erzählung anschließend Wochen bzw. Monate nach vorn. Das gibt den Machern die Gelegenheit, nicht nur aufzuzeigen, wie langwierig und vielfältig die Probleme beim Finden von dauerhaften Lösungen des Katastrophenstandorts waren, sondern auch zu zeigen, was die reine Anwesenheit der zentralen Figuren in dem strahlenverseuchten Gebiet mit ihnen anrichtet. Dabei ist Chernobyl keine Dokumentation der gesamten Anstrengungen seit jener Explosion. Über den bis November 1986 errichteten Schutzmantel aus Stahlbeton erfährt man hier nichts und über den 30 Jahre später neu installierten „Sarkophag“ nur nebenbei. Vielmehr zeichnet Serienerfinder Craig Mazin die unmittelbaren Ereignisse aus Sicht von drei Figuren nach: Legassow Schtscherbina und der Wissenschaftlerin Ulana Khomyuk, die es tatsächlich so nicht gab. Die Figur stellt eine Zusammenfassung aus vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dar, die Waleri Legassow und das Untersuchungskomitee unterstützten.
Damit gehen die Macher sehr transparent um, liefern am Ende Informationen zu den Figuren und gestehen auch künstlerische Freiheiten ein. An diesen gibt es Kritik in unterschiedlichen Ausprägungen, auch wenn unbestritten scheint, dass die Miniserie die authentische Atmosphäre der 1980er-Jahre hervorragend einfängt. Mit einem ungeheuren Produktions- und Rechercheaufwand gelingt dem produzierenden Studio HBO ein ebenso ergreifender wie packender Blick auf diesen Abschnitt der jüngeren Geschichte. In Anbetracht der gezeigten Schicksale macht das betroffen, angesichts der teils skrupellosen Art und Weise, wie die Gesichtswahrung eines nach außen hin unfehlbaren politischen Systems unzählige Opfer gefordert hat, regelrecht fassungslos. Aber auch wenn die zumindest mittelbar für die Durchführung des verheerenden Sicherheitstests unter diesen zur Katastrophe führenden Bedingungen verantwortlichen Männer hier teils überspitzt bösartig und berechnend dargestellt werden, sie allein definieren Chernobyl nicht. Das tun gleichermaßen diejenigen Menschen, die wohl wissend um die verheerenden Auswirkungen der Strahlung sich dennoch ins Zentrum begeben, einen riesigen Schacht unter dem Reaktor ausheben oder in Anzügen mitten in die Anlage marschieren, um zu tun, was getan werden muss, damit noch Schlimmeres verhindert wird. Insofern vereint die Darstellung beide Extreme.
Ungeachtet der Ausblicke ganz am Ende, die die getragene Präsentation gekonnt abrunden und den weiteren Werdegang mancher Figuren aufzeigen, erzählt Craig Mazin mit Regisseur Johan Renck keine Dokumentation. Unstrittig akribisch recherchiert, nehmen sich die Macher künstlerische Freiheiten, dramatisieren bestimmte Ereignisse und platzieren so gekonnt Kritik an einem politischen System, das die Sicherung der Illusion der eigenen Überlegenheit über die moralische Größe stellt, Fehler eingestehen zu können und um Hilfe zu bitten. Gerade im Herbst des Jahres 2020, inmitten einer Pandemie, spiegeln die Macher damit Wesenszüge zahlreicher Weltmächte auf erschreckende Weise wider.
Wie viel von der Katastrophe in Tschernobyl hätte verhindert werden können, wäre man von Anfang an offen und transparent mit den Geschehnisse umgegangen, wie viele Leben hätten gerettet werden können, wird man wohl nie erfahren. Hinsichtlich der genommenen Freiheiten sind die Macher am Ende zumindest in manchen Belangen ebenso transparent. Aber selbst, wenn hier manche Beteiligte als selbstgerechte Schurken dargestellt werden, während andere als stille Helden anmuten, es ändert an der Präsentation selbst wenig: In der Rekonstruktion der Katastrophe aufwühlend, ist Chernobyl auf einem handwerklich derart brillanten Niveau dargebracht, dass es einem vom ersten Moment an die Sprache verschlägt.
Fazit:
Fantastisch eindringlich von der gesamten Besetzung gespielt, allen voran Jared Harris, Stellan Skarsgård und Emily Watson, ist dies eine der handwerklich bestgemachten Nacherzählungen der Nuklearkatastrophe, die es bislang zu sehen gab. Authentisch, detailreich und mit einer gelungenen Balance aus verständlichen Erklärungen, was zu dem Zwischenfall geführt hat sowie welche Probleme dies unmittelbar und auf lange Sicht mit sich brachte, packt Chernobyl vom ersten Moment. Sieht man die Opfer der Strahlenkrankheit, ist das ergreifend und schockierend. Kann man beobachten, was die Ereignisse an seelischen Narben hinterlassen, macht dies fassungslos. Die Macher errichten denjenigen, die sich aufgeopfert haben, hier ein sehenswertes Denkmal und der gesamten Menschheit eine Mahnung, persönliche Interessen nie wieder höher zu stellen, als den Schutz der Gemeinschaft.
Es ist eine Lektion, die wir gerade heute dringender verinnerlichen sollten, als je zuvor.