Blue Bayou [2021]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 28. Februar 2022
Genre: Drama

Originaltitel: Blue Bayou
Laufzeit: 117 min.
Produktionsland: USA / Kanada
Produktionsjahr: 2021
FSK-Freigabe: ab 12 Jahren

Regie: Justin Chon
Musik: Roger Suen
Besetzung: Justin Chon, Alicia Vikander, Sydney Kowalske, Linh Dan Pham, Vondie Curtis-Hall, Mark O'Brien, Emory Cohen


Kurzinhalt:

Als wären die finanziellen Sorgen von Antonio (Justin Chon) und Kathy LeBlanc (Alicia Vikander) nicht bedrückend genug, fordert Kathys Ex-Mann Ace (Mark O'Brien) mehr Zeit mit seiner Tochter Jessie (Sydney Kowalske), die jedoch in Antonio ihren Vater sieht und für die Ace ein Fremder ist. Dabei erwarten Antonio und Kathy Nachwuchs, was den Tätowierer veranlasst, nach zusätzlichen Jobs zu suchen. Doch bei einem Einkauf kommt es zum Streit, als Antonio, Kathy und Jessie dem Polizisten Ace und seinem Partner Denny (Emory Cohen) begegnen. Nach seiner Verhaftung wird Antonio der Einwanderungsbehörde übergeben, die feststellt, dass als der in Korea geborene Antonio vor 30 Jahren, als er selbst gerade einmal drei Jahre alt war und von amerikanischen Eheleuten adoptiert wurde, nicht die erforderlichen Formalitäten erfüllt wurden und Antonio somit illegal im Land ist. Laut Anwalt Boucher (Vondie Curtis-Hall) haben sie zwei Möglichkeiten, gegen die drohende Abschiebung vorzugehen: Entweder Antonio reist aus und beantragt anschließend ein Bleiberecht, oder er legt Widerspruch ein. Wird der abgelehnt, hat er jedoch keine Rückkehrmöglichkeit mehr …


Kritik:
Justin Chons sehr persönlich wirkendes Drama Blue Bayou erzählt von Menschen, die durch ein unmenschliches System entwurzelt werden. Berührend und authentisch gespielt, insbesondere in den letzten Momenten, ist das wichtig, selbst wenn das Thema hierzulande – glücklicherweise – so nicht existiert. Auf eine beinahe dokumentarisch ungeschminkte Art in Szene gesetzt, ist dies ein ebenso sehenswerter wie starker Beitrag, obwohl die Symbolik etwas zu viel Platz einnimmt und der Filmemacher sich in der zweiten Hälfte mehr Zeit nimmt, als er müsste.

Die Geschichte handelt von Antonio LeBlanc, Amerikaner mit asiatischen Wurzeln. In Korea geboren, wurde er im Alter von drei Jahren von einer amerikanischen Familie adoptiert und lebt seit über 30 Jahren in den Vereinigten Staaten. Verheiratet mit der Physiotherapeutin Kathy, ist er auch Vater von Jessie, die Kathy aus erster Ehe mit dem Polizisten Ace in die Ehe gebracht hat. Zusammen mit Kathy erwartet Antonio ein zweites Kind und ihre Sorgen sind groß, wie sie es sich überhaupt leisten sollen, kommen sie derzeit bereits kaum über die Runden. Antonio arbeitet in einem Tattoostudio und in den ersten Momenten des Films spricht er für einen weiteren Job als Verkäufer vor. Das Gespräch nimmt, wie er es offenbar nicht zum ersten Mal erlebt, einen typischen Verlauf und stellt darauf ab, wo er „wirklich“ herkommt und was seine Vorstrafen sind. Die gesteht Antonio auch ein, doch den Job erhält er nicht. In dem Tattoostudio sei er besser aufgehoben, wohl nicht nur, weil er selbst stark tätowiert ist. Auch nach drei Jahrzehnten in dieser, seiner Heimat, wird Antonio auf Grund seines Aussehens immer noch nicht akzeptiert.

Trotz der Verhältnisse, in denen die Familie lebt, scheinbar von der Hand in den Mund, strahlen sie, wenn sie zusammen sind, eine Wärme und ein Gefühl des Glücklichseins aus, das sich auf das Publikum spürbar überträgt. Die Ängste, die Jessie heimsuchen, dass Antonio sie nicht mehr so lieben würde, wie jetzt, wenn sein eigenes Kind geboren wird, kann er ihr bei einem gemeinsamen Tag nehmen. So schildert Blue Bayou das, was man beim ersten Blick auf diese Figur am wenigsten erwarten würde, einfach, weil uns unsere Vorurteile in diesem Moment im Weg stehen: Einen fürsorglichen Ehemann und einen liebenden Vater. Doch dann wird Antonio bei einem harmlosen Einkauf von Aces Partner Denny provoziert, der glaubt, er müsse in Uniform sich für seinen Partner einsetzen, der seine Tochter öfter sehen will, als ihm Kathy derzeit erlaubt. Der Streit endet in Antonios Verhaftung und bei der Feststellung seiner Personalien fällt auf, dass seine Adoptiveltern damals die Formalitäten nicht erfüllt haben. Antonio gilt als illegal eingewandert und soll, nachdem er der Einwanderungsbehörde übergeben wird, ausgewiesen werden.

Dass die Adoptivkinder selbst hieran keine Schuld tragen, interessiert in diesem Zusammenhang nicht. Ein erlassenes Gesetz aus dem Jahr 2000 sichert Adoptivkindern zwar die Staatsbürgerschaft zu, jedoch nur denjenigen, die zum Erlasszeitpunkt noch nicht volljährig waren – und die Staatsbürgerschaft wurde für Antonio nie beantragt. Anstatt sich auf die legalen Mühlen zu konzentrieren, die Antonio nun bevorstehen, widmet sich Blue Bayou den menschlichen Schicksalen hinter diesen Rahmenbedingungen. Ihr Anwalt verlangt einen Vorschuss, der ein Vielfaches dessen darstellt, was der Familie im Monat zur Verfügung steht. Darum lässt sich Antonio auf etwas ein, das er längst hinter sich gelassen glaubte. Währenddessen trifft er auf eine todkranke Frau, deren Eltern einst mit der Familie aus Vietnam geflohen waren und die ihn an diejenige Person erinnert, die ihn als Kleinkind auf- und weggab.

Keine der Figuren in Justin Chons Erzählung hatte es je einfach gehabt. Er fängt sie in einem aus heutiger Sicht ungewohnten Bildverhältnis ein, wenigstens in vielen Momenten offenbar gebannt auf Film, was an der groben Körnung und den gelegentlichen Fehlern im Bild zu sehen ist. Das Aussehen verleiht Blue Bayou nicht nur ein beinahe dokumentarisches Flair, sondern rückt die Charaktere ungewohnt groß in Szene. Chon bleibt dicht an den Figuren, versetzt das Publikum unmittelbar an ihre Seite und beweist gleichzeitig eine Behutsamkeit beim Aufbau seiner Situationen, wenn die Anspannung in Anbetracht der Ungewissheit über Antonios Verbleib so groß wird, dass die Personen nacheinander zusammenbrechen, um neue Stärke zu finden. Dabei zeigt er in der Hauptrolle gleichzeitig eine bemerkenswerte Darbietung, insbesondere in Verbindung mit Sydney Kowalske in der Rolle der Tochter Jessie. Aber auch Alicia Vikander beweist einmal mehr, weshalb sie eines bedeutendsten Talente ihrer Generation ist. Ihnen allen scheint das Thema hier am Herzen zu liegen und spätestens am Ende wird es das dem Publikum ebenfalls.


Fazit:
Die Authentizität der Erzählung macht das aus hiesiger Sicht weit entfernt scheinende Thema greifbar und zeichnet damit ein umso erschreckenderes Bild. Auf eindringliche und letztendlich unnachgiebige Weise entblättert Regisseur Justin Chon ein kaputtes System und rückt, was noch viel wichtiger ist, die Schicksale der Menschen dahinter ins Zentrum. Ob dies in einer fiktiven Erzählung ebenso packt, wie es in einer ebenso aufdeckenden Dokumentation der Fall gewesen wäre, sei dahingestellt. Die Symbolik und Visionen, die hier eingestreut sind, wirken mitunter etwas aufgesetzt und insgesamt ist das auch ein wenig zu lang. Doch die raue Inszenierung, die im Kontrast zu den über weite Strecken so warmherzigen Figuren steht, zeichnet das ebenso ruhig erzählte, wie intensive Drama aus. Eindringlich gespielt und emotional mitreißend, ist Blue Bayou ein ebenso sehenswertes wie starkes Plädoyer. Wichtig.