Sergej Lukianenko: "Wächter der Nacht" [1998]

Wertung: 5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 25. September 2005
Autor: Sergej Lukianenko

Genre: Fantasy / Horror

Originaltitel: Nochnoi Dozor
Originalsprache: Russisch
Gelesen in: Deutsch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 525 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Russland
Erstveröffentlichungsjahr: 1998
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2005
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 3-453-53080-2


Kurzinhalt:
Seit Anbeginn der Zeit gibt es das Zwielicht, eine magische Zwischenwelt, in der die Gesetze der "normalen" Welt so nicht gelten; und seit es Menschen gibt, gibt es Andere unter ihnen, die das Zwielicht mit ihrer Willenskraft betreten können. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Anderen in zwei Lager, die Mächte des Lichts und die der Finsternis, gespalten, die einen ewig währenden Kampf miteinander austragen. Vor langer Zeit schlossen die Armeen des Lichts und der Finsternis einen Waffenstillstand, dessen Einhaltung die Lichten mit einer Nachtwache, und die Dunklen mit einer Tagwache überwachen.
Im Moskau von heute wird der Andere Anton Gorodetsky, Anhänger des Lichts und Angestellter der Nachtwache, losgeschickt, einen Übergriff durch einen Dunklen Anderen an einem Kind zu verhindern. Doch als Anton sich auf die Suche nach dem Jungen Jegor macht, begegnet ihm zufällig eine Frau, Swetlana, über der ein furchteinflößender Fluch liegt, der sich in einer nationalen oder gar globalen Katastrophe entladen könnte. Bei der Rettung Jegors verliert Anton Swetlana aus den Augen, doch ihre Schicksale sind nun unweigerlich miteinander verbunden.
Von seinem Vorgesetzten Boris Ignatjewitsch bekommt Anton die Partnerin Olga zugewiesen, um Swetlana wieder zu finden. Aber auch die Tagwache der Mächte der Finsternis verfolgt einen Plan, angefürt von Sebulon, einem der mächtigsten Magier der Welt.
Während sich Anton daran macht, den Ursprung des über Swetlana verhängten Fluches herauszufinden, zieht sich Finsternis über Jegor zusammen.
Und wie es scheint, verfolgt nicht nur die Tagwache unter Sebulon Pläne auf verschiedenen Ebenen – die Nachtwache unter Boris Ignatjewitsch scheint ebenfalls etwas vorzubereiten, über das Anton zwar nicht informiert wurde, bei dem er jedoch eine zentrale Rolle spielt ...


Kritik:
Der 1968 in Kasachstan geborene Autor Sergej Lukianenko gehört zu den erfolgreichsten und bekanntesten modernen Schriftstellern Russlands. Der inzwischen in Moskau lebende Lukianenko machte seinen Abschluss als Psychologe, ehe er sich dem Schreiben von Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten widmete. Seit 1993 wurde er mit Auszeichnungen für seine Werke regelrecht überschüttet – obgleich hierzulande leider nichts davon erhältlich ist. Von Kinder-Fantasy wie Rytsary Soroka Ostrovov [1988-1992] über post-atomare Fiktion in Atomnyi Son [1992] und richtigen Space-Operas (Genom [2000]) deckt Lukianenko ein breites Gebiet ab, in dem er mehrere Trilogien und Mehrteiler verfasste, sowie Kurzgeschichten und Novellen. Sein bislang bekanntestes Werk ist allerdings Wächter der Nacht, das vor sieben Jahren erschien und in Russland zu einem der meistverkauften Bücher avancierte. Das als Trilogie konzipierte Fantasy-Epos bestehend aus den Teilen Wächter der Nacht, Wächter des Tages [2000] und Wächter des Zwielicht [2003] inspirierte darüber hinaus andere russische Künstler und belebte durch die 2004 entstandene Verfilmung Nochnoi Dozor in der Folge den russischen Film neu. Wie die Buch-Vorlage, brach auch der Film in Russland sämtliche Rekorde und heizte zugleich die Verkäufe der Romane weiter an.
Inzwischen ist Wächter der Nacht in deutscher Erstauflage beim Heyne-Verlag erschienen; wann die kommenden beiden Teile erhältlich sein werden, ist noch nicht bekannt, eine Veröffentlichung indes immerhin geplant.
Von den epischen Ausmaßen her immer wieder mit J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe verglichen, besticht Wächter der Nacht in erster Linie durch ein sehr lebhaftes und einfallsreiches Universum, das nicht vor langer Zeit oder in ferner Zukunft angesiedelt ist, sondern in der heutigen Zeit in einer der größten Metropolen der Welt. Im Gegensatz zu anderen aktuellen Fantasy-Werken wie Harry Potter und der Halbblutprinz [2005] oder Tintenblut [2005] von Autorin Cornelia Funke richtet sich Nochnoi Dozor eindeutig an ein erwachsenes Publikum und überrascht mit einer moralischen Vielschichtigkeit, die man gerade bei anderen modernen Fantasy-Büchern häufig vermisst.

Die Story des Romans hört sich sogar bedeutend einfacher an, als sie eigentlich ist, immerhin ist auch Wächter der Nacht in drei Abschnitte unterteilt, die alle miteinander zusammenhängen, mit ein wenig zeitlichem Abstand stattfinden, und in denen sich die Stimmung der Hauptfigur Anton Gorodetsky grundlegend verlagert.
Was Lukianenko dabei besonders gut gelingt, ist eine Beschreibung des heutigen Moskaus, die nicht so düster geraten ist, wie man das womöglich erwarten würde, und die mit wenigen Andeutungen, vielen Beispielen und Vergleichen im Bewusstsein des Lesers schnell ein Bild der Umgebung entstehen lässt. Andererseits nutzt der Autor die drei einzelnen Geschichten, um jeweils von einem anderen Standpunkt heraus das Bestreben der Lichten, die Welt besser zu machen und das Dunkel zu vernichten, zu porträtieren. Hierfür bekommt der Leser nicht nur stetig mehr Informationen über den zwischen den Armeen des Lichts und der Finsternis ausgehandelten Vertrag zugespielt, sondern er taucht auch immer tiefer in die Welt der Anderen ein, insbesondere in das Zwielicht, das ebenso faszinierend wie gefährlich wirkt, und in dem sich neben den Figuren außerdem manch ein Kampf der Anderen entscheidet.
So weist Lukianenko mit seinen Erklärungen über die Handlungen der Anderen im Zwielicht scheinbar banalen Dingen, Begebenheiten und alltäglichen Situationen urplötzlich eine besondere Bedeutung, zu und verleiht der Fantasy gerade damit einen sehr realisitischen Touch. Je facettenreicher die Magie und die Wesen der Anderen werden, umso mehr beginnt man zu verstehen, dass trotz all des Kampfes zwischen Gut und Böse das Eine ohne das Andere nicht existieren könnte. Wenn im Verlauf der Handlung Stück für Stück Gemeinsamkeiten in der Vorgehensweise der beiden Lager aufgedeckt werden, und sich daraufhin Protagonist Anton entscheiden muss, wem er letztlich Glauben schenkt, gerät der Leser im Hinblick auf den Zwiespalt ebenfalls ins Straucheln. Beizuwohnen, wie die beiden wichtigsten Hauptfiguren im Lauf der drei Geschichten ihre moralische Unschuld verlieren, ist ebenso faszinierend wie überraschend, und hält besonders für das Finale einige Wendungen parat, die im Vergleich zum recht Action-reichen Schluss des ersten Abschnittes vielleicht etwas zahm erscheinen mögen, dafür aber den Kampf zwischen Licht und Dunkel gerade dorthin bringen, wo er im Endeffekt immer ausgetragen wird: in den Kopf, statt in die Hände.
Überaus gut gelungen ist Lukianenko die Verquickung der magischen Welt der Anderen mit dem gewöhnlichen Treiben in Moskau, das sich problemlos auf jede andere Stadt der Welt übertragen lässt. Die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Figuren sowohl bei den Wächtern der Nacht, als auch bei denen des Tages, ist erstaunlich und wird im Laufe des Buches ständig erweitert. Gerade der krasse Gegensatz zwischen dem Zauber-Universum und den modernen Hilfsmitteln wie Handys oder Laptops erzeugt ein ganz eigenes Flair, das man in solcher Form allenfalls in Comics zu sehen bekam, Lukianenko hier aber sehr gut einbringt, und zur lebensnahen Atmosphäre des Romans viel beiträgt.
Inhaltlich ist sicherlich nicht alles neu, die mystische Story und die angedeutete große Rahmenhandlung überzeugen jedoch mit frischen Ideen, die nicht zuletzt durch die zahlreichen farbenfrohen Figuren interessant umgesetzt werden.

Von denen steht Anton Gorodetsky zweifelsohne im Vordergrund, wird der Großteil des Romans doch aus seiner Perspektive erzählt. Antons Wandlung, an seinen Erkenntnissen im Laufe der 500 Seiten teilzuhaben, ist außerordentlich lesenswert und seine Schlüsse kommen weder überhastet, noch zu langsam, so dass man als Leser seinen Gedankensprüngen problemlos folgen kann. Er selbst wird sympathisch geschildert, und die Freundschaft zu Partnerin Olga in gleichem Maße spürbar, wie das Gefühl von Geborgenheit, das er in der Gruppe der Nachtwache vermittelt bekommt.
Von Swetlana ist hingegen nicht allzu viel zu lesen.
Einen sehr ausführlichen und mysteriös-faszinierenden Hintergrund bekommt indes der charismatische Boris Ignatjewitsch, Antons Chef, zugeschrieben. Von der Nachtwache selbst sticht außerdem Tigerjunges hervor, die Anton in ihrem Verhalten gar nicht so unähnlich ist.
Eine ansich tragische Figur ist Maxim, der erst in der zweiten Geschichte in Aktion tritt, und mit dem man sich als Leser schnell identifizieren kann, wie auch mit dem jungen Jegor.
Etwas schwieriger verhält es sich allerdings mit den vermeintlichen Bösewichten im Roman. Da das Buch überwiegend aus Antons Sicht erzählt wird, gibt es kaum Szenen, in denen ausschließlich die Tagwache in Aktion tritt. Dennoch gelingt Lukianenko mit Sebulon ein tiefgründiger Gegner, dessen Motive – wie diejenigen von Boris Ignatjewitsch – noch unklar bleiben.
Ein wenig kurz kommt lediglich Vampir Kostja, der im selben Haus wie Anton wohnt – angeblich soll diese Figur in den kommenden Büchern weiter ausgearbeitet werden.
In einer Zeit, in der viele Romane mit Action-betonter Handlung zu überzeugen versuchen, geht der Autor hier einen etwas anderen Weg und vermittelt in Wächter der Nacht ein einfallsreiches Universum, und zahlreiche Charaktere, die in Gesprächen und Erzählungen sehr viel an Hintergrund gewinnen, und schnell persönliche Tiefe entwickeln. Insbesondere die Wandlung von Anton Gorodetsky macht das Lesen zum richtigen Vergnügen für die interessierte Leserschaft.

Aufgrund der Struktur des Buches bieten insbesondere die ersten beiden Geschichten einen konstanten Spannungsaufbau und eine gelungene Dramaturgie. Wenn sich die Katastrophen abzeichnen, und man dem Schicksal der Figuren entgegenfiebert, steigt auch die Lese-Geschwindigkeit unweigerlich an – einzig bei der letzten Story nimmt das Tempo merklich ab, wird die epische Erzählung durch einen viel persönlicheren Einblick in die Figuren ersetzt, bis auf den letzten 80 Seiten erneut klar wird, dass selbst dieser Teil des Buches den großen Handlungsbogen der Fantasy-Saga vorantreibt, und Lukianenko seine Figuren mit komplizierten Situationen und schweren Entscheidungen konfrontiert.
Besagter Ansatz ist gerade nach den beiden sehr feurigen Abschnitten sicherlich überraschend, fügt sich infolge der weiterführenden Charakterzeichnungen und des erweiterten Universums sehr gut in den Roman ein. Die Konzeption, den Schwerpunkt des Buches innerhalb des Romans derart zu verlagern, ist insofern mutig und dem Autor auch gut gelungen.
Dementsprechend werden manche Leser trotzdem ihre Schwierigkeiten mit dem Ende des Romans haben, das aber im eigentlichen Sinne gar keines ist, sondern den Auftakt für den zweiten Teil der Trilogie bildet. Das Finale enttäuscht somit nur auf den ersten Blick, offenbart bei genauerem Hinsehen jedoch eben jenes Potential, das in einer Fortführung erst richtig ausgeschöpft werden kann.

Russische Autoren sind hierzulande meist nicht sonderlich bekannt; einer der prominentesten, Isaac Asimov, ist zwar in Russland geboren, emigrierte mit seiner Familie allerdings in die USA und schrieb im Ergebnis in englischer Sprache, weshalb sich sein Stil recht westlich liest – anders bei Lukianenko, dessen Wortwahl und Satzkonstruktion ohne Frage gewöhnungsbedürftig ist, und in den Gesprächen etwas verschachtelt anmutet.
Übersetzt von Christiane Pöhlmann liest sich die deutsche Ausgabe von Wächter der Nacht dennoch glücklicherweise nur selten holprig, meist sehr flüssig und auch das Sprachtempo wird vom Leser schnell angenommen. Einige Schreibfehler seien verziehen, und der ungewöhnliche Wechsel vom Präteritum ins Präsens bei manchen Sätzen ist von Lukianenko wohl so beabsichtigt, obwohl der Roman dadurch etwas an Fluss verliert. Insgesamt ist die deutsche Ausgabe deshalb sehr gut gelungen, überzeugt außerdem mit einem interessanten Cover und einem verstärkten Rücken, was angesichts von Größe und Umfang des Taschenbuchs sehr angenehm ist.

Klappt man nach den etwas mehr als 500 Seiten Wächter der Nacht wieder zu, macht man sich als interessierter Leser zunächst auf die Suche nach der bereits angekündigten Fortsetzung, Wächter des Tages, die aber in der Übersetzung bislang noch nicht angekündigt ist.
Es ist Autor Sergej Lukianenko zu verdanken, dass einem die Figuren sehr schnell nahe gebracht werden, und dass man zumindest während der Lektüre die persönliche Umwelt mit anderen Augen sieht. Seine Verwebung der Welt der Anderen mit der "normalen" ist so geschickt gelungen, dass man – zusammen mit den vorweg untergebrachten (fiktiven) Zustimmungen sowohl der Nacht-, wie auch der Tagwache – beinahe das Gefühl bekommt, es handle sich um eine akkurate Schilderung, statt um ein Fantasy-Werk. Wirklich episch ist dieses Buch nur in einigen Ansätzen, wartet indes mit interessanten Geschichten auf, die zusehends ihren Schwerpunkt verlagern und dabei Figuren und Story gleichermaßen vertiefen. Dass die Beschreibung der Umgebung und der Dialoge einen natürlichen Eindruck macht, wie selten in einer aktuellen Übersetzung, ist zudem der Übersetzerin zu verdanken, die eine souveräne Arbeit leistet und das Flair des Buches passend zu vermitteln weiß.
Wie die große Hintergrundgeschichte im Kampf der Lichten gegen die Dunklen weitergehen wird, kann man nur erahnen. Autor Lukianenko versteht sein Handwerk jedenfalls; er legt falsche Fährten, und hält mit überraschenden Wendungen die Spannung aufrecht. Es bleibt zu wünschen, dass er in den Fortsetzungen das Niveau halten wird.


Fazit:
Russische Bücher bekommt man in der deutschsprachigen Region nicht allzu häufig zu lesen. Das mag daran liegen, dass nur wenige russische Autoren über ihre Staatsgrenzen hinaus bekannt sind und die meisten – wie zum Beispiel Stanislaw Lem – erst nach ihrem Tod mit ihren bahnbrechenden Werken internationale Anerkennung erfahren. Der sprachliche Stil, der für westliche Leser schlichtweg gewöhnungsbedürftig ist, könnte ein weiterer Grund sein. Zum großen Teil liegt es jedoch auch daran, dass das russische Urheberrechtsgesetz etwas problematischer zu handhaben ist, als beispielsweise bei amerikanischen Autoren – aus eben diesem Grund ist keines der Bücher aus Sergej Lukianenkos Fantasy-Reihe Wächter der Nacht bislang in den USA erhältlich.
Das ist schon deshalb ein Jammer, weil Wächter der Nacht seinem Ruf als erstklassige Fantasy-Unterhaltung ansich vollauf gerecht wird. Ich wusste zwar nicht, was mich erwarten würde, und ich wurde zugegebenermaßen etwas unvorbereitet in das phantastische Universum inmitten Moskaus hineingeworfen – aber Anton Gorodetsky zu folgen, mit ihm mehr über den Vertrag oder das geheime Handeln der Nacht- und Tagwache zu erfahren, und ständig neue Informationen zum sagenumwobenen Zwielicht zu erlangen, machten für mich den Reiz des Romans aus. Wenn man mit der Hauptfigur dem großen Plan hinter den einzelnen Begebenheiten auf die Schliche kommt, miterleben muss, wie zahlreiche Figuren nur benutzt werden, um ein hehres Ziel zu erreichen, erlangt man letztlich die Erkenntnis, die Anton im letzten Drittel des Buches beschreibt, und nach der er schließlich handelt. Statt mit dröger Schwarz-Weiß-Malerei beschäftigt sich Autor Lukianenko mit differenzierten moralischen Werten und der Verantwortung, ihnen zu folgen.
Das Ganze in einer Metropole der heutigen Zeit anzusiedeln, ist ein ebenso mutiger, wie außerordentlich effektiver Coup, der Wächter der Nacht einen Grad an Realismus verleiht, der dem Roman merklich zugute kommt. Mit sympathischen und vielschichtigen Figuren, interessanten Geschichten, die den Kreis immer enger um Antons vorbestimmtes Schicksal ziehen, einer spannenden und schnellen Erzählung, sowie der ungewöhnlichen und überraschungsreichen Ausgangslage, gelingt dem Autor der Aufbau einer faszinierenden Fantasy-Welt, in der man sich gern verliert. Auf die Fortsetzung bin ich sehr gespannt und kann nur hoffen, dass ich den weiteren Verlauf der Fantasy-Trilogie nicht erst in sieben Jahren erfahren werde.