James Clavell: "Noble House" [1981]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 08. August 2005
Autor: James Clavell

Genre: Unterhaltung / Thriller / Drama

Originaltitel: Noble House
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 1370 Seiten
Erstveröffentlichungsland: USA
Erstveröffentlichungsjahr: 1981
Erstveröffentlichung in Deutschland: 1982
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 0-440-16484-2


Kurzinhalt:
Vor drei Jahren übernahm Ian Dunross das Noble House Struan's von Hongkong in einer finanziell prekären Situation. Nur einem kühnen Schachzug war es zu verdanken, dass das Haus nicht dem Erzfeind Quillan Gornt in die Hände fiel. Doch nun, 1963, befindet sich Struan's erneut in finanziellen Schwierigkeiten, die jedoch alle gelöst werden könnten, wenn ein Vertrag mit der amerikanischen Firma Par-Con Industries zustande kommen würde.
Hierfür sind die beiden Besitzer der Firma, Lincoln Bartlett und Casey Tcholok, nach Hongkong gereist, um einen Deal abzuschließen; doch während sich Casey auf Dunross einlässt und alle notwendigen Vorbereitungen trifft, geht Bartlett einen Pakt mit Gornt ein. Dieser will die Situation nutzen, um mit Bartletts Hilfe das Noble House in den Ruin zu treiben. Um dies zu erreichen, bringt er auch , eine ansich felsenfeste und absolut sichere Bank über Nacht durch ein Gerücht in Geldnot. Kurz darauf hat ein Ansturm auf sämtliche Banken Hongkongs begonnen, und die gesamte Insel sieht sich einem finanziellen Kollaps gegenüber.
Doch abgesehen von den Machtspielen der beiden Handelshäuser hat die Polizei Honkongs, unter der Leitung von Roger Crosse, ganz andere Probleme: Ein Maulwurf, der angeblich für die Chinesen arbeitet, lässt streng vertrauliche Informationen nach außen dringen, und als ein Matrose des vor Anker liegenden russischen Uboots Ivanov ermordet wird, scheint auch hier ein politischer Eklat unvermeidlich – bis sich schließlich sogar herausstellt, dass auch der KGB Spitzel in die Polizeireihen eingeschleust hat.
So spitzt sich die Lage innerhalb einer Woche immer weiter zu. Während Struan's kurz vor dem Ruin steht, nimmt auch die Gewalt in der Kolonie mehr und mehr zu – dabei hat die Unterwelt Hongkongs in vielen Dingen das Sagen, und auch die Natur scheint mit einer langen Dürre und einem aufziehenden Wirbelsturm der Insel nicht wohlgesonnen ...


Kritik:
Noble House, auch bekannt als Noble House Hongkong, ist der vorletzte Band aus James Clavells Asia-Reihe, nur noch gefolgt von Wirbelsturm [1986], in dem zwar ebenfalls Figuren aus Noble House zum Vorschein kommen (darunter Robert Armstrong und erneut die Struan-Familie), das aber nicht wie Tai-Pan [1966] und Noble House auf Hongkong spielt. Ganze 15 Jahre ließ sich der Autor nach seinem Erfolgsroman Tai-Pan Zeit, um die Geschicke der Struan-Familie auf der Insel erneut aufzugreifen; von den Erlebnissen eines Struan-Abkömmlings in Gai-Jin [1973] einmal abgesehen. Wer allerdings alle Zusammenhänge aus Noble House verstehen möchte, sollte zweifelsohne die übrigen Bände der Asiensaga (im besten Fall auch in chronologisch richtiger Reihenfolge) gelesen haben. Denn nicht nur, dass Clavell allerlei Figuren aus den vorherigen Romanen rezitiert, es gibt auch zahlreiche Anspielungen auf die Geschehnisse in Shogun [1975], Gai-Jin und selbstverständlich Rattenkönig [1962], Clavells Erstlingswerk. Zwei der Hauptfiguren aus Rattenkönig sind zum großen Teil sogar hier vertreten und kommen auch beide zum Zug.
In der Tat wird in Noble House deutlich, welche Ausmaße die Chronik eigentlich annimmt, die James Clavell in seinen Epen anlegte. Dabei steht Shogun auf Grund des etwas anderen Settings sicherlich losgelöst, doch wenn auf den immerhin 1400 Seiten von Noble House die Entwicklung der in Tai-Pan vorgestellten Familien und Handelshäuser minutiös aufgelistet wird, in verschachtelten Gesprächen und Beschreibungen eine beinahe lückenlose (und oft doch nur angedeutete) Kette aus Ahnen, Kindern und deren Enkeln gestrickt wird, mit den verzweigten Eheschließungen, Auswanderungen und (oft nicht natürlichen) Todesfällen, dann steht einem als Leser schlicht der Mund offen. Jeder der immerhin ein Dutzend Hauptfiguren in Noble House bekommt einen richtigen Hintergrund zugeschrieben und über deren Erlebnisse wird auch erzählt. Dass die mehrere Dutzend (!) Personen umfassenden Nebencharaktere dabei nicht ganz so stark zum Zug kommen, versteht sich von selbst, und man muss als Leser aufmerksam bleiben, um sich nicht nach mehreren Hundert Seiten verwundert zu fragen, ob die Figur denn überhaupt schon einmal im Roman erwähnt wurde.
Wem aber diese unzähligen Handlungsstränge allein nicht ausreichen, der darf sich erneut auf eine lebendige, realistische und faszinierende Charakterisierung Hongkongs freuen – Kenner von Tai-Pan werden daran sicherlich feststellen, dass sich Vieles geändert hat und noch viel mehr gleich geblieben ist – trotz der 120 Jahre seitdem Dirk Struan sein Noble House auf der Insel errichtete. Doch jene Atmosphäre in Worte zu fassen, die Clavell in seinem Roman zum Leben erweckt, ist kaum möglich, es ist sprichwörtlich atemberaubend.

Die Ereignisse von Noble House spielen sich, vom Prolog abgesehen, in knapp einer Woche ab. Eine Woche, in der das Noble House Struan's feindliche Übernahmen abwehren sollte, sich viele Figuren ihren persönlichen Dämonen stellen müssen, der KGB und die CIA um die Herrschaft Hongkongs kämpfen und zwei Außenseiter in den Bann jener exotischen Kulisse gezogen werden.
Das bisweilen tödliche Spiel um Macht mittels Intrigen, Sex und Drohungen beginnt schon überaus interessant und vermittelt auf den ersten Hundert Seiten gekonnt die Weltanschauung der Reichen und Mächtigen. So überrascht man im ersten Moment auch über Quillan Gornts Entscheidung sein mag, um seiner persönlichen Rache Willen nicht nur eine Bank, sondern auch unzählige Arbeitsplätze und sogar Menschenleben zu opfern, man muss als ein Angehöriger der westlichen Hemisphäre deutlich öfter schlucken, wenn es darum geht, wie stark in Asien Respekt, Gesicht und Ehre geachtet werden und wie wenig im Vergleich dazu ein menschliches Leben wert ist. Doch diesen Drahtseilakt, die Stimmung auf Hongkong natürlich zu beschreiben, dabei aber die Menschen nicht zu verurteilen, da das Verständnis für das Leben und die Dinge selbst gänzlich anders angesiedelt ist, ist Clavell einmal mehr sehr gut gelungen. So wird gerade in den letzten Kapiteln deutlich, wie unterschiedlich die Menschen verschiedener Herkunft mit Schicksalsschlägen umgehen, und auch das Verständnis für Treue und Liebe wird hier anders definiert, als es sich viele Menschen vorstellen würden.
Den Leser zieht der Autor dadurch in seinen Bann, dass er ihm natürliche, verständliche und oft auch sympathische Figuren darbringt und deren Hintergrund ebenso auslotet, wie ihre ungewisse Zukunft, denn wenn eines bereits in Tai-Pan offensichtlich wurde, dann das, dass auf Hongkong alles innerhalb von wenigen Stunden geschehen kann. So werden in Noble House nicht nur die Ansichten der verschiedenen politischen Gruppen – Amerikaner, Briten, Russen und Chinesen – dargelegt sondern auch die Vor- und Nachteile ihrer jeweiligen politischen Systeme aufgezeigt. Dass ihre Mittel zur Erreichung der Weltmachtstellung mittels Folter, Spionage und Betrug falsch sind, verheimlicht Clavell nicht, und doch verurteilt er keinen der geschilderten Soldaten für seine Taten, sondern zeigt vielmehr ihre Motivation auf – einzig (und verständlicherweise) bei einigen gewissenlosen Doppelagenten, deren einzige Motivation sich auf das Finanzielle beschränkt, hält sich der Autor zurück.
Doch von dem nicht zu unterschätzenden Thrilleranteil abgesehen, dreht sich Noble House vor allem um den Handel, die mannigfaltigen Verstrickungen innerhalb der Handelshäuser, die unzähligen Gefallen, die eingefordert werden (dabei spielen auch die in Tai-Pan eingeführten, gebrochenen Münzen eine Rolle), und die Machtspielereien hinter den Kulissen. Die Welt der Reichen und Schönen wird dabei bisweilen geschickt demontiert, andererseits aber auch von einer Seite beleuchtet, die man bislang nicht kannte. Immer wieder gibt es dabei Szenen, die einem als Leser ebenso die Luft abschnüren wie den Beteiligten im Roman – so zum Beispiel, wenn sich Dunross und Gornt zum ersten Mal bei der Börse gegenüberstehen und viel später erneut bei einer Cocktail-Party. Das überraschende und dramatische Finale ist zudem bedeutend besser ausgearbeitet als bei Tai-Pan und auch der Epilog lässt wie gewohnt viele Fragen unbeantwortet, was verständlicherweise die Phantasie des Lesers mit anregt.

Dass man dabei in die Situation auf Hongkong mehr oder weniger unvorbereitet hineingeworfen und 1400 Seiten später wieder daraus herausgerissen wird, liegt in der Natur des Epos; allerdings vermittelt James Clavell in den Seiten dazwischen ein Bild sowohl von der Situation jener Zeit in Hongkong, als auch ein genaues Portrait der unzähligen Figuren, die allesamt so herausragend ausgearbeitet sind, dass man meinen könnte, der Autor wollte einen unterhaltsamen Familienstammbaum verfassen.
Die Charakterisierung von Ian Struan Dunross ist Clavell dabei glücklicherweise besonders gut gelungen. Nicht nur, dass er einen sehr detaillierten Hintergrund zugeschrieben bekommt, auch in seinen Handlungsweisen, seinen Verhandlungsgeschicken und in seiner Courage verkörpert er genau jenen charismatischen Tai-Pan, den man sich wünschen würde. Er trägt das Buch sichtlich und ihn zu beobachten, wie er die Geschicke Hongkongs für das Wohl des Noble House zu nutzen versucht, ist eine Freude – seine Organisationsfähigkeit bewundernswert (etwas, das er mit Dirk Struan zweifelsohne gemein hat).
Ebenso gut gelungen ist der aufrechte Polizist Robert Armstrong, der sich in dieser Woche nicht nur seinen horrenden Wettschulden, sondern auch einer Reihe von Spionage-Zwischenfällen stellen muss. Quillan Gornt ist sicherlich der farbigste Charakter von allen, immerhin wird er zu Beginn durch seine Vergangenheit und seine Entscheidungen sehr negativ geschildert, aber im Lauf des Romans immer sympathischer, wohingegen bei anderen Figuren dieselbe Verwandlung in umgekehrter Reihenfolge zu beobachten ist.
Zwei der interessantesten Figuren sind jedoch die Besucher Hongkongs, Casey Tcholok und Lincoln Bartlett, bei denen die Veränderungen durch Hongkong in den über 1000 Seiten minutiös und doch subtil aufgelistet werden. Egal welche Figuren man sich genauer ansieht, sie alle machen innerhalb dieser Woche eine Veränderung durch, gehen auf eine Reise ins Ungewisse und hoffen auf guten Joss, um gesund und am Leben zu bleiben.
Erneut mutet Noble House, wie auch sein Vorgänger-Roman Tai-Pan, wie ein detaillierter Abschnitt einer Chronik an, die aber in diesem Falle so faszinierend und mitreißend geraten ist, dass man sich der Sogwirkung des Romans kaum entziehen kann. Je stärker sich das Geschehen auf den zweiten Teil der Woche verlagert, je mehr wird deutlich, wie viel sich an einem bestimmten Tag entscheiden wird, um so spannender wird der Roman und in der Tat vergehen die letzten dreihundert Seiten wie im Flug. Dass dabei beinahe alle Figuren etwas zu tun bekommen, ist dem Talent des Autors zu verdanken, der die meisten Charaktere länger beleuchtet als es meistens der Fall ist, ohne sich aber in seinem Muster zu wiederholen.

Dramaturgisch erfüllt Clavell alle Erwartungen, spinnt bereits früh sein Netz aus Intrigen und zahlreichen Handlungssträngen, die sich bis zum Ende des Romans hinziehen, führt gekonnt viele neue Figuren ein und erweitert das Wissen des Lesers um bekannte Charaktere. Jeder beschriebene Tag hat dabei seinen eigenen Höhepunkt, ehe sich das Geschehen zum eigentlichen Finale hin zuspitzt; hier werden dann auch die Kapitel kürzer und schneller erzählt. Sprachlich legt der Autor nicht nur bestimmten Figuren eine ganz eigene Ausdrucksweise in den Mund, seine Beschreibungen der öffentlichen Plätze, der Menschenansammlungen und der Atmosphäre innerhalb der Stadt sind so detailliert gelungen, dass man sich als Leser die dazugehörenden Bilder plastisch vorstellen kann.
Dies ist auch bei den Figuren der Fall, die nur im groben geschildert werden und bei denen es der Phantasie des Lesers überlassen bleibt, sich ihr Gesicht auszumalen. Dass man sich jedoch als deutschsprachiger Leser beim Kauf der englischen Originalausgabe etwas umstellen muss, sei ebenfalls erwähnt. Nicht nur, dass Noble House mit seinen 1400 Seiten dem Wort Taschenbuch an sich nicht mehr gerecht wird, in den Ortsbeschreibungen und Erklärungen verschiedener Bräuche sind zahlreiche Fachbegriffe eingelassen, die nicht jedem Leser geläufig sein dürften. Am meisten überrascht jedoch die besonders bei den Einheimischen verwendete sehr "ausdrucksstarke" Sprache, die im Deutschen für gewöhnlich stark entschärft wird. Hier wird jedoch in beinahe jedem Dialog geflucht, dass sich die Balken biegen, und auch die sehr offene Umgehensweise mit Sex, körperlicher (meist tödlicher) Gewalt, sowie den Beschreibungen mancher Katastrophen, verlangt einem als Leser bisweilen etwas stärkere Nerven ab.
Sprachlich gibt es allerdings an James Clavells Epos nichts zu bemängeln. Er trifft gekonnt die richtigen Worte, um die Szenerie zum Leben zu erwecken. Die Figuren unterscheiden sich allesamt in ihrer Ausdrucksweise und auch ihre Gedankenwelt wird nachvollziehbar beschrieben. Mehr kann man sich als Leser nicht wünschen.

Dass trotz der akkuraten Beschreibungen, der lebensnahen Details und der vielen Verweise nicht alle Plätze tatsächlich existieren (obwohl die Geschehnisse grob auf zwei tatsächlich existierenden Handelshäusern basieren), merkt Autor Clavell bereits zu Beginn an, wo er das Buch auch den Menschen Hongkongs widmet.
Was den Leser in jener Woche erwartet, ist bisweilen ebenso überraschend wie atemberaubend: Abgesehen von unzähligen Handlungssträngen, die begonnen und beendet werden, bekommt man eines der interessantesten, aufregendsten und mitreißendsten Kapitel in der Geschichte des Noble House präsentiert.
Für Kenner von Tai-Pan ist dies eine Pflichtlektüre; mit diesem Roman jedoch in Clavells Asien-Saga einzusteigen ist nicht empfehlenswert, man wird vom schieren Ausmaß des Epos schlichtweg erschlagen.


Fazit:
Nach dem, gerade auf die Figuren bezogen, enttäuschenden Tai-Pan wusste ich nicht, was ich von Noble House erwarten sollte; womit ich mich jedoch konfrontiert sah, übertraf meine kühnsten Erwartungen. Nicht nur, dass der Schlagabtausch an der Börse Hongkongs einen als Leser elektrisiert, erneut wird man mit einer exotischen, fremden und doch interessanten und faszinierenden Kulisse präsentiert, von der sich eine hochexplosive Woche abspielt, die auf so vielen Ebenen unterhält und überrascht, dass es schwer in Worte zu fassen ist.
Den Figuren bei ihrer Reise in jener Woche zu folgen ist nicht nur interessant, sondern lässt in Bezug auf die beiden Außenseiter Tcholok und Bartlett auch Rückschlüsse zu, wie man selbst mit einer solchen Situation umgehen würde. Das wahre Genie des Autors versteckt sich dabei in den mannigfaltigen Intrigen und Handlungen, die sich überschneiden und bei denen den Überblick zu bewahren alles andere als leicht ist. Highlight des Romans sind allerdings die zahlreichen Verhandlungen, denen man als Leser beiwohnen darf, und in denen man mehr über das Geschäftsgeschick (nicht nur des asiatischen) lernt, als aus so manchem Ratgeber. James Clavell zeichnet ein detailliertes, facettenreiches und ebenso betörendes Bild Hongkongs samt seiner Bewohner, zeigt dabei diejenigen, die ganz oben in den Wolkenkratzern leben (und ihren Fall), sowie diejenigen, die bei den großen Rennveranstaltungen nur im nachhinein den Müll wegräumen dürfen (und ihren Aufstieg).

In Hongkong ist alles möglich, so die Aussage des Buches, und den Möglichkeiten beizuwohnen ist ein Privileg, das sich Kenner der Asienreihe Clavells nicht entgehen lassen sollten.
Dank sympathischer, nachvollziehbarer und plastischer Figuren, einer so verwobenen und verzweigten Handlung und einem stetig steigenden Spannungsgrad schlägt Noble House Tai-Pan für mich nicht nur um Längen, sondern besitzt mit Dunross' letzten Worten, gerade vor einer solchen Kulisse und in unserer unberechenbaren Welt, eine Aussage, die man sich zu Herzen nehmen sollte – solange einem guter Joss vergönnt ist.