Val McDermid: "Nacht unter Tag" [2008]

Wertung: 4.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 01. Mai 2009
Autorin: Val McDermid

Genre: Krimi / Drama

Originaltitel: A Darker Domain
Originalsprache:
Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: Taschenbuch
Länge: 392 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Großbritannien
Erstveröffentlichungsjahr: 2008
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2009
ISBN-Nr. (gelesene Ausgabe): 978-0-00-724331-0


Kurzinhalt:
Auch wenn sie als Ermittlerin bei ungelösten, älteren Fällen immer wieder auf Ungewohntes stößt, dass die junge Frau Misha Gibson ihren seit 22 Jahren vermissten Vater erst jetzt meldet, scheint der Polizistin Karen Pirie doch sonderbar. Dabei hat Misha gute Gründe vorzuweisen. Nicht nur, dass ihr Vater während des Bergarbeiterstreiks 1984 verschwand und man davon ausgegangen war, er wäre als Streikbrecher woanders hin geflohen, Mishas kleiner Sohn benötigt dringend eine Knochenmarkspende und ihr Vater Mick Prentice scheint die letzte Hoffnung zu sein. Doch Mick ist nie dort angekommen, wo man ihn all die Jahre vermutet hat.
Während Karen Nachforschungen anstellt, landet ein weiterer alter Fall auf ihrem Schreibtisch. Die Journalistin Bel Richmond hat in der Toskana Hinweise auf ein Verbrechen gefunden, das ebenfalls vor über 20 Jahren in Schottland stattgefunden hat. Damals waren eine junge Mutter und ihr Baby entführt worden. Bei der Lösegeldübergabe war die Mutter ums Leben gekommen, während die Kidnapper samt dem Kind verschwunden waren. Der Großvater des Jungen, der reiche Sir Broderick Mclennan Grant, vertraut den Behörden aber nicht und weist Richmond an, selbst zu ermitteln.
Immer wenn ein Fall Karens ins Stocken zu geraten scheint, ergeben sich beim anderen neue Erkenntnisse. Und immer mehr verdichten sich die Anzeichen, dass Mick Prentice der Schlüssel zu beiden Fällen zu sein scheint. Dabei wühlt sie jedoch Erinnerungen auf, die manche Zeugen und Verdächtige lieber begraben wissen wollen ...


Kritik:
Der Streik der Bergbauarbeiter 1984/1985 in Großbritannien ist ein Kapitel europäischer Geschichte, das jenseits der Insel erstaunlich unbekannt ist. Und das, obwohl es genauso in das Repertoire der "eisernen Lady" Margaret Thatcher gehört, wie viele andere ihrer Reformen, die auf ein geteiltes Echo stießen. Was Val McDermid mit ihrem Krimiroman Nacht unter Tag erstaunlich gut gelingt, ist die Atmosphäre jener Ära auferstehen zu lassen und dem Leser ein Gefühl dessen zu vermitteln, wie es den Streikenden ergangen sein muss. Angesichts von nicht gezahlten Streikgeldern, der daraus resultierenden Armut und der sozialen Ausgrenzung der Streikbrecher ist das ein Mix, der einem gerade bei den detaillierten Szenenbeschreibungen die Luft abschnürt.
Dieser Umstand steht umso mehr hervor, da das zweite Storyelement um die Entführung und die missglückte Lösegeldübergabe vor über 20 Jahren nicht immer vollends überzeugen kann. Zugegeben, der Kontrast zwischen schottischem Hochland und der Toskana ist mitunter schon sehr anspruchsvoll für den Leser, doch es liegt an den wohlbetuchten Figuren und ihren selbst erschaffenen Problemen, die einen schlichtweg nicht in dem Maße berühren. Hinzu kommt der arg konstruierte Ansatz, dass ein mehr als 20 Jahre zurückliegendes Geheimnis von zwei Seiten aufgerollt wird – und beide Anstöße dazu zeitgleich kommen. An manche Zufälle glaubt man nicht einmal in Büchern.

Wie Val McDermid dabei ihre Geschichte erzählt, die sie dank ihres familiären Hintergrundes mit zahlreichen lebensnahen Details füllen konnte, erinnert frappierend an die erfolgreiche Krimiserie Cold Case - Kein Opfer ist je vergessen [seit 2003]. Ein Dialog oder ein Ereignis weckt eine Erinnerung bei einer Person, so dass fortan eine Episode aus der Vergangenheit aus dem Blickwinkel jener Figur erzählt wird. Der Stil mag entlehnt sein, doch zu beobachten, wie er sogar im geschriebenen Wort funktioniert, ist nicht nur beeindruckend, sondern dank der Umsetzung durch die Autorin geradezu fesselnd. Sie nutzt die Möglichkeit, eine Situation so aus verschiedenen Perspektiven zu schildern, unterschiedliche Eindrücke und Empfindungen in die Erzählung einfließen zu lassen und das aktuelle Verhalten der Figuren durch ihre Erinnerungen begreiflicher zu machen.
Getragen wird der Krimi dabei von einer grundsympathischen Ermittlerin, die interessanterweise nicht dem Schönheitsideal entspricht, das man sich bei einer filmischen Umsetzung vorstellen würde. Doch die Intelligenz und die Willensstärke von Karen Pirie machen das nicht nur schnell wieder wett, sondern etablieren sie auch als Anker für die Leser, die wenigstens ihre Entscheidungen stets nachvollziehen können. Interessanterweise erfährt man über ihre Persönlichkeit und ihren Hintergrund nicht allzu viel, als wolle sich McDermid die Option offen halten, daraus eine Krimireihe zu entwickeln. Man könnte es nur begrüßen. Die übrigen Figuren sind geradlinig erzählt und ihre Charakteristika ebenso konsequent umgesetzt. Tragisch ist diesbezüglich allenfalls, dass sich kaum eine Figur im Laufe des Buches wirklich entwickelt. Die einzige Entwicklung, die die Autorin einer Person zuschreibt ist eine, die man als Leser nicht wirklich nachvollziehen kann. Vielmehr wirkt sie erzwungen, als dass man zum Ende hin noch einen Antagonisten präsentieren kann.

Es heißt nicht ohne Grund, dass es der letzte Eindruck ist, der bleibt und gerade deshalb enttäuscht das letzte Drittel von Nacht unter Tag. Hat man vorweg mitgefiebert, sich die verschiedenen Puzzleteile angesehen und die Lücken dazwischen selbst gefüllt, wartet der Roman mit einem 14 Seiten umspannenden Brief auf, der die eigentliche Hintergrundgeschichte auflöst. Darin verstrickt sich die Autorin nicht nur in Klischees, sie erklärt alles lange und ausführlich, obwohl man sich Vieles davon selbst bereits erschlossen hat. Und wie so oft muss man als Leser feststellen, dass die eigenen Ideen wenn nicht logischer, dann zumindest packender waren, als das, was Val McDermid ihrer zweigleisigen Geschichte zugrunde legt.
Als wäre das nicht genug, folgt ein ebenso wenig inspirierter Epilog, dem aber eine richtige Auflösung fehlt. Nachdem man sich als Leser mit den Figuren beschäftigt hat, wäre ein richtiger Abschluss, bei dem Nichts im Unklaren geblieben wäre, auf jeden Fall wünschenswerter gewesen.
Das trübt leider dann auch den Lesespaß, der die ersten 300 Seiten wie im Flug vergehen lässt, ehe das Erzähltempo zu hinken beginnt. Der vielversprechende Auftakt, der um einen ebenso atmosphärischen und spannenden Mittelteil erweitert wird, darf im letzten Drittel leider nicht durchstarten. Man mag nun sagen, zwei Drittel eines guten Buches sind besser als gar keines. Dem ist ohne Zweifel so, doch hätte McDermid mit einem packenderen Ausgang ein kleines Krimimeisterwerk gelingen können. Auf diese Weise ist der Roman auf Grund der durchweg gut eingefangenen Stimmung lesenswert und auch die Figuren überzeugen. Es bleibt am Schluss nur der Eindruck, als hätte man mehr daraus machen können.


Fazit:
Würde die Autorin ihr Handwerk nicht beherrschen, könnte sie sich nicht seit über 20 Jahren in ihrem Beruf behaupten. Wie gut sie mit den verschiedenen Erzähltechniken umzugehen weiß, bemerkt man schon nach wenigen Seiten, wenn die Figuren in Nebensätzen und ihren Handlungen um Details und Facetten bereichert werden, die helfen ein stimmiges Bild der Person zu erzeugen. Auch die einzelnen Szenen sind wohl durchdacht aufgebaut und spannend umgesetzt. Wie ein Regisseur die Kamera nutzt sie die Worte, um den Leser genau das 'sehen' zu lassen, was er sehen soll. Und dank der gelungenen Figuren und der atmosphärisch sehr glaubhaft dargebrachten Hintergrundgeschichte um den Streik der Bergbauer Mitte der 80er Jahre, verliert man sich sehr schnell in ihren Schilderungen.
Dieser Zustand hält bei Nacht unter Tag auch erstaunlich lange an und findet schließlich zum Ausgang der Geschichte zurück. Doch nach all dem Vorlauf, der konstruierten Situation zum Finale hin, enttäuscht das letzte Drittel des Romans mit unglaubwürdigen Wendungen und einer Auflösung, die allein durch die Andeutungen, die nicht ausgeführt werden, nicht zufrieden stellt. Um die Ermittlerin Pirie wünscht man sich ohne weiteres mehr Abenteuer. Doch dann bitte auch mit einem Abschluss, der dem was vorher war würdig ist. Insofern hinterlässt der interessante und gut erzählte Krimi schließlich nicht einen so guten Eindruck, wie ihn die ersten 300 Seiten erwecken.