Anthony Horowitz: "Das Geheimnis des weißen Bandes" [2011]

Wertung: 5.5 von 6 Punkten  |   Kritik von Jens Adrian  |   Hinzugefügt am 6. Mai 2017
DasGeheimnisdesweißenBandes-Cover
Urheberrecht des Covers liegt bei Suhrkamp / Insel,
Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG
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Verwendet mit freundlicher Genehmigung.
Autor: Anthony Horowitz

Genre: Krimi / Thriller

Originaltitel: The House of Silk
Originalsprache: Englisch
Gelesen in: Englisch
Ausgabe: E-Book
Länge: 305 Seiten
Erstveröffentlichungsland: Großbritannien
Erstveröffentlichungsjahr: 2011
Erstveröffentlichung in Deutschland: 2011
ISBN (gelesene Ausgaben): 978-1-4091-3384-1


Kurzinhalt:

Als sich Dr. John Watson aufmacht, einen Fall aus seiner Zeit mit dem berühmten Detektiv Sherlock Holmes zu erzählen, liegt dieser bereits mehr als 15 Jahre zurück. Dass er so lange wartete, liegt an einem Versprechen und der Tatsache, dass die Auswirkungen der Enthüllungen weitreichender sind, als bei den übrigen Berichten. Es ist ein kalter Winter im Jahr 1890, als der Kunsthändler Edmund Carstairs Sherlock Holmes aufsucht und ihm berichtet, er werde bedroht. Verantwortlich hierfür sei ein irischer Verbrecher, Keelan O'Donaghue, der Carstairs aus Boston gefolgt sei, da er Carstairs für den Tod des Zwillingsbruders O'Donaghues mit verantwortlich glaubt. Carstairs' Ehefrau Catherine bestätigt die Vorfälle ihres Mannes und so machen sich Holmes und Watson auf, ehe sie in eine Verschwörung gezogen werden, die weitreichendere Kreise annimmt als alle Fälle, die sie zuvor bearbeitet haben. Schließlich gerät der Detektiv selbst ins Visier von mächtigen Hintermännern, so dass nicht einmal Inspector Lestrade in der Lage scheint, den Meisterdetektiv zu beschützen ...


Kritik:
Seit seinem ersten Auftreten im 1887 erschienenen Roman von Sir Arthur Conan Doyle genießt der britische Detektiv Sherlock Holmes ein beinahe mystisches Ansehen. Obwohl die tatsächlich von dem Autor verfassten Werke gerade einmal vier Romane und eine Handvoll Kurzgeschichtensammlungen umfassen, ist der aufmerksame Ermittler mit der markanten Deerstalker-Mütze zumindest vom Namen und seinem Hang zum Lösen kniffliger Kriminalfälle her, wohl mehr Menschen bekannt als mancher Staatsmann von heute. Zahllose Interpretationen in allen möglichen Medien folgten. Mit Das Geheimnis des weißen Bandes präsentiert Anthony Horowitz eines der wenigen Bücher, die mit dem Segen des Nachlasses von Conan Doyle erschienen sind. Es ist ein Werk, das an den richtigen Stellen moderner geworden ist, als die ursprünglichen Romane, und dennoch an den Tugenden derselben festhält.

Erzählt als persönliche Erinnerung von Dr. Watson, der sich um das Jahr 1916 herum daranmacht, einen bislang unveröffentlichten Fall seines langjährigen Freundes zu Papier zu bringen, schwingt bereits den ersten Seiten eine schimmernde Melancholie in den Ausführungen des Erzählers mit. Ein Jahr zuvor ist Holmes' Stimme für immer verstummt, sein Chronist zurückgeblieben in einer Welt, die von Tag zu Tag verrückter zu werden scheint. Der Fall selbst ereignete sich demnach in den Monaten November und Dezember des Jahres 1890, als ein angesehener Kunsthändler an den Detektiv in der 221B Baker Street herantritt und ihn um Hilfe bittet. Die Geschichte, die Edmund Carstairs den beiden Herren erzählt, handelt von zerstörten Gemälden, einer Jagd auf irische Schurken in Boston, bei der einer der Zwillinge O'Donaghue getötet wird und der überlebende Carstairs nun bedroht.

Wäre es nicht um die grandiose Sprachfertigkeit, die der Autor bereits auf den ersten Seiten beweist, wäre Das Geheimnis des weißen Bandes bei weitem kein so fesselnder Roman. Mit einer Seitenzahl, die diejenige der üblichen Holmes-Romane beinahe verdoppelt, scheint es eine Mammutaufgabe, einen so komplexen Fall zu konstruieren, ohne entweder unnötige Nebenhandlungen einzubauen, oder der gewohnten Art der Beschreibung von Conan Doyle entgegenzulaufen. Auch wenn Horowitz die Situation im London am Ende des 19. Jahrhunderts treffend in Worte fasst, mit einer akribisch recherchiert erscheinenden Stadtkenntnis, und immer wieder dezent Hinweise fallen lässt, wie das Leben der Menschen dort, geprägt durch einen harten Winter, gewesen ist, er hält sich mit Schilderungen zurück, ähnlich wie es in den ursprünglichen Romanen der Fall gewesen ist. An erstem Punkt scheint er eingangs in gewisser Hinsicht zu scheitern, denn augenscheinlich knickt die Krimistory nach dem ersten Drittel in eine andere Richtung ab.

Dann wird ein Informant von Holmes tot aufgefunden und die Suche nach dem der den Verantwortlichen wird für den Detektiv zu einer persönlichen Angelegenheit. Erst ab diesem Moment erhält der Titel des Romans, Das Geheimnis des weißen Bandes, auch einen Kontext. Der Fall führt den Helden nicht nur in einige der finstersten Ecken des viktorianischen London, sondern auch zu seiner eigenen dunklen Seite, seiner Sucht, die rückblickend gern übersehen wird.
Was Watson und Holmes dabei erwartet, sei an dieser Stelle nicht verraten, abgesehen davon, dass es ein kurzes Wiedersehen mit Holmes' Bruder Mycroft gibt und eine Verschwörung entdeckt wird, die sich bis in Regierungskreise hinein zu erstrecken scheint. Thematisch wirkt das im ersten Moment auf eine tragische Art und Weise moderner als die Kriminalgeschichten, von denen Sir Arthur Conan Doyle berichtete, doch es ist nichtsdestoweniger passend.

Wie Anthony Horowitz den beiden Geschichten einen Zusammenhalt verleiht, ist überaus gelungen, selbst wenn nicht vollends überraschend. Bei einer Hauptfigur, die mittels Deduktion sämtliche Zusammenhänge zu erkennen scheint, ist man auch als Leser geneigt, Verbindungen früh herzustellen, selbst wenn diese Watson und Inspektor Lestrade noch nicht offensichtlich erscheinen. Interessanterweise bedient sich der Autor wie Conan Doyle einem bestimmten Stilmittel, um die Überraschung in manchen Momenten zu erhalten. Während man als Leser immer genügend Informationen erhält, um Miträtseln zu können und die Verknüpfungen selbst herzustellen, offenbart Sherlock Holmes bei seiner Analyse des Falles am Ende zwei Details, die zuvor nicht erwähnt wurden, jedoch essentiell sind, um das Puzzle vollständig zusammensetzen zu können. Das erscheint den Lesern gegenüber zwar "unfair", ist jedoch beinahe allen Holmes-Geschichten immanent.

Mit einer sprachlichen Finesse, die auf eine tolle Art und Weise die Brücke zwischen den inzwischen beinahe 130 Jahre alten, ursprünglichen Werken um Sherlock Holmes schlägt, sich aber dennoch flüssiger liest, wird Das Geheimnis des weißen Bandes zum Leben erweckt. Das Wiedersehen mit den Figuren ist toll gelungen, der Abschied dafür umso trauriger. So empfiehlt sich der Roman nicht nur für Fans, sondern auch für solche, die es werden wollen.


Fazit:
Autor Anthony Horowitz findet zahlreiche Formulierungen und Vergleiche, deren sprachliche Gewandtheit schlicht beeindrucken und zum Zitieren einladen. Seine Ausdrucksweise bewahrt sich den Charme einer Sprache, die musischer klingt, als sie es heute tut, aber gleichzeitig nicht angestaubt wirkt. Dazu entwickelt er zwei scheinbar unabhängige Fälle, die von denen der zweite eine derart traurige Aktualität besitzt, dass er den zeitlichen Rahmen der Ereignisse treffend sprengt. Dass Watson hier – entgegen der übrigen Schilderungen und wie der Erzähler selbst bemerkt, zum ersten Mal – die Entwicklung der Schicksale der Schurken im Nachgang erläutert, ist das Tüpfelchen auf dem i für die aufmerksamen Leser. Das Geheimnis des weißen Bandes ist ein tolles Lesevergnügen, das viele bekannte Figuren der ursprünglichen Romane zurückbringt, ohne ihnen zwar wirklich Neues hinzuzufügen, sie aber damit auch nicht verändert. Dabei gelingt es dem Autor, eine packende Geschichte zu erzählen und einen Abschluss zu finden, als wenn man sich an einem kalten Wintertag von guten Freunden verabschiedet. Ein erneuter Besuch ist nicht ausgeschlossen und dennoch ist man traurig, jetzt schon gehen zu müssen. Mit einer solch gelungenen Atmosphäre hatte ich gar nicht gerechnet und mehr kann man nicht erhoffen.